Adair, Gilbert – Blindband

Der einstmals gefeierte Schriftsteller Sir Paul verlor vor vier Jahren bei einem schweren Unfall seine Augen. Zusätzlich trug er am ganzen Körper Verbrennungen davon. Seitdem lebt der entstellte Mann zurückgezogen in der tiefsten Provinz Englands. Nach dem Tod seines treuen Freundes Charles bildet seine Haushälterin Mrs. Kilbride den nahezu einzigen Kontakt zur Außenwelt.

Sein finales Werk sollen seine Memoiren werden, philosophische Betrachtungen seiner eigenen Lage. Dafür braucht er einen Gehilfen. Er setzt eine Anzeige in die Zeitung und findet in dem jungen John Ryder einen geeigneten Kandidaten. Gegen eine großzügige Bezahlung soll John für ein Jahr – die Wochenenden ausgenommen – bei Paul einziehen, ihm optische Beschreibungen liefern und die diktierten Worte auf dem Computer tippen. Darüberhinaus ersetzt er Paul seinen verstorbenen Freund, macht Bersorgungen und begleitet ihn bei Spaziergängen.

Die Zusammenarbeit der beiden grundverschiedenen Männer gestaltet sich nicht einfach. Paul ist ein gnadenloser Zyniker, der einen verbalen Hieb nach dem anderen austeilt. John erscheint dafür umso unsicherer im Umgang mit einem Blinden und tappt von einem Fettnäpfchen ins nächste. Erst allmählich gewöhnen sich beide aneinander.

Doch je weiter sie mit dem Buch vorankommen, desto misstrauischer wird Paul. Die Indizien, dass etwas nicht stimmt, häufen sich. Treibt jemand ein böses Spiel mit ihm? Oder ist er nur bereits so sehr an Einsamkeit gewöhnt, dass er in Paranoia verfällt?

Bereits ein flüchtiger Blick in den Roman zeigt, was ihn von anderen unterscheidet: Das Buch besteht komplett aus Dialogen, hauptsächlich zwischen John und Paul. Es existiert kein Erzähler, der dem Leser Hintergrundinformationen liefert. Stattdessen entsteht durch diese komprimierte Erzähltechnik eine starke Identifizierung mit den Personen, noch unterstützt durch eine aufgrund der spärlichen Ortswechsel kammerspielartige Armosphäre. Der Großteil der Handlung spielt sich in Pauls Haus ab. Wie ein heimlicher Mithörer belauscht der Leser die Gespräche zweier grundverschiedener Männer, deren Verhältnis wechselhafter und uneindeutiger nicht sein könnte. Was als Arbeitsverhältnis eines Schriftstellers und seines Gehilfen begann, wächst sich zu einem perfiden Spiel um Machtverhältnisse und Abhängigkeiten aus. Der ahnungslose Leser wird mitgerissen in diesen Strudel aus Ränkeschmieden, Doppelbödigkeit und Verfolgungswahn …

|Bildhafte Charaktere und Verwirrspiel|

Trotz des auf die wörtliche Rede beschränkten Textes nehmen beide Hauptfiguren im Geist des Lesers rasch konkrete Gestalt an. Jeder der beiden besitzt einen ihm eigenen, unverwechselbaren Tonfall, der es einem selbst bei einer willkürlich ausgesuchten Textstelle möglich macht, den Sprecher jeweils sofort zuzuordnen. Paul ist dabei der Exzentriker mit der spitzen Zunge. Trotz oder gerade wegen seiner grausamen Entstellung und Erblindung präsentiert er sich als aggressive Persönlichkeit, die zielsicher in jede sich bietenden Wunde sticht, schonungslos offen mit seinem Gegenüber redet und keine Gelegenheit zur Beleidigung auslässt. John Ryder dagegen entschuldigt sich fast unentwegt, betont seine Unsicherheit und fällt immer wieder auf Pauls Frotzeleien herein. Wie in einem Theaterstück sieht man sie vor sich sitzen: Den alternden Schriftsteller mit seinen unwirschen Bewegungen und den knapp gebellten Befehlen und den ratlos dreinblickenden Gehilfen, der mit seinem neuen Partner überfordert ist.

Eine große Stärke des Buches liegt in den wechselnden Sympathien zu den beiden Figuren. Mal bemitleidet man Paul aufgrund seines schweren Schicksals, doch sein Zynismus stößt wiederum ab. John erscheint anfangs als zurückhaltender und hilfsbereiter Mann, aber gemeinsam mit Pauls Unsicherheit wächst auch das eigene Misstrauen. Immer wieder verschieben sich die Zu- und Abneigungen hinsichtlich der Charaktere, immer wieder muss der Leser aufs Neue seine Stellung zu ihnen überprüfen. Was ist Schein und was ist Sein? Verfolgt einer der beiden einen eigenen Plan?

Der Titel „Blindband“ ist hier Programm: Ist es vordergründig betrachtet eine Geschichte über einen Blinden, dreht es sich gleichzeitig um ein doppelbödiges Spiel, sowohl zwischen den Figuren als auch zwischen Autor und Leser. Blind ist nicht nur Sir Paul, blind ist auch der Leser, der erst nach und nach erfährt, was sich unter den Oberflächen verbirgt und welche Ereignisse aus der Vergangenheit plötzlich wieder hervorbrechen.

|Galgemhumor|

Auch wenn man es zunächst nicht vermutet, besticht der Roman darüberhinaus durch eine ordentliche Portion Galgenhumor. Vor allem Pauls sarkastische Äußerungen, mit denen er sich über sich selber ebenso wie über andere lustig macht, sorgen für amüsante Momente. Seine trockenen Bemerkungen sitzen so zielsicher, dass man hier wirklich keine zusätzlichen Erzählinformationen braucht, sondern sich Tonfall und Gesichtsausdruck beider Beteiligter perfekt vorstellen kann. Nur zu gut kann man sich mit John identifizieren, der ein ums andere Mal konsterniert mit Pauls Bissigkeit konfrontiert wird. So erwähnt Paul beispielsweise, dass er nicht gerade höflich zu John war. Dieser beeilt sich zu versichern, dass Paul sich nicht entschuldigen müsse, woraufhin der nur erwidert, dass das auch gar nicht seine Absicht war.

|Kleine Kritikpunkte|

Zu kritisieren gibt es in diesem außergewöhnlichen Roman wenig. Dennoch: Der in zweifacher Hinsicht überraschende Schluss sollte wohl die Krönung dieses spannungsgeladenen Psychodramas darstellen. Es wirkt, als habe der Autor eine möglichst wirkungsvolle und beeindruckende Pointe gesucht – dabei fällt das Ende leider einen Hauch zu unglaubwürdig aus. Insgesamt verhalten sich die Charaktere auf beiden Seiten zu unvorsichtig und zu wenig vorausschauend.

Die Dialoge lesen sich leicht und locker, da weder ellenlange Sätze noch komplizierte Formulierungen verwendet werden. Etwas langatmig sind jedoch die Passagen, die Paul seinem Adlatus in den Computer diktiert. Paul greift dabei vorwiegend auf metaphorisch-poetische Beschreibungen zurück, die auf Dauer ermüden, zum Glück aber nur einen kleinen Teil des Romans einnehmen. Etwas nervig ist zudem der Dialekt der Haushälterin Mrs. Kilbride, der in der deutschen Übersetzung bayrisch anmutet und lautmalerisch geschrieben ist.

_Insgesamt_ ist „Blindband“ ein spannendes und flott geschriebenes Psychodrama über Abhängigkeit und Paranoia. Bis zur letzten Seite bieten sich dem gefesselten Leser überraschende Wendungen. Nach kurzer Eingewöhnung liest sich die Dialogform flüssig herunter und man verfolgt gebannt das Wechselspiel zwischen den Protagonisten. „Blindband“ ist ein böser Roman in außergewöhnlicher Form, der den Leser auf eine emotionale Achterbahn führt. Eine unsichtbare Schlinge zieht sich um den Hals der Protagonisten immer enger, bis zum unerwarteten Schluss, der für alle Beteiligten anders ausfällt als erwartet …
Nur der allzu dramatische Schluss wirkt ein wenig aufgesetzt und schmälert den Gesamteindruck ein wenig.

_Gilbert Adair_, Jahrgang 1944, lebt in London. Neben seinen Romanen schreibt er als Kolumnist für die „Independent on Sunday“. Weitere Werke von ihm sind u. a.: „Der Schlüssel zum Turm“, „Träumer“, „Liebestod auf Long Island“ und „Wenn die Postmoderne zweimal klingelt“.

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