Agus, Milena – Flügel meines Vaters, Die

_Inhalt_

Auf Sardinien gibt es ein paar traumhaft hübsche nebeneinander gelegene Grundstücke, von denen eines ans Meer grenzt. Die Bauherren der Gegend träumen von diesen Grundstücken und täten vieles, um sie in die Hände zu bekommen und ein paar praktische Bungalows darauf zu stellen, aber da macht ihnen Madame einen Strich durch die Rechnung. Madame ist keineswegs Französin, wie ihr Spitzname vermuten lässt, aber sie schwärmt für Frankreich und würde schrecklich gern einmal nach Paris reisen. Einstweilen aber begnügt sie sich damit, auf ihrem unendlich wertvollen Grundstück ein bescheidenes Hotel zu führen und Obst und Gemüse anzubauen, das tatsächlich nach etwas anderem als Wasser schmeckt.

Neben Madame lebt die Familie der Erzählerin – sie ist vierzehn und denkt sich gern Geschichten aus, die schöner sind als die Wahrheit. Sie kommt mit Madame gut zurecht, denn auch Madame versucht die Wahrheit zu beeinflussen, und zwar durch weiße Magie. Zur Familie gehören der Großvater, der einen besonderen Blick auf die Welt hat und meist das Gute sieht, und die Mutter, die nach dem Verschwinden des Vaters, der vor seinen Spielschulden geflohen ist, bettlägerig ist.

Der Mikrokosmos wird ergänzt durch eine weitere Familie mit nicht unproblematischen Mitgliedern und diverse Gäste bzw. Menschen, von denen Madame denkt, dass sie sie liebt. Sie hat ein großes Herz und jede Menge Liebe zu verschenken, aber es gibt so gut wie niemanden, der damit umgehen kann. Das übliche Auf und Ab im Leben, herzergreifend in all seiner Banalität und Wehmut, wird für die halbwüchsige Erzählerin überwacht von den Flügeln ihres Vaters – er ist tot, hat sie gehört, und seitdem kommt er manchmal spätabends ins Zimmer geflogen und bauscht die Vorhänge, bis sie die Decke berühren und wie seine Flügel wirken. Kleine Wunder geschehen in ihrer Nähe, und Beruhigung geht von ihnen aus. Ob sie auch helfen können, wenn ein Unglück geschieht und die kleine Oase in der unberührten Natur in Gefahr gerät?

_Meinung_

„Die Flügel meines Vaters“ kombiniert mit einem guten Schuss Zärtlichkeit Charaktere, die nicht besonders gut zusammenpassen. Manch einer leidet stumm unter seinem Nächsten, aber die räumliche Nähe lässt ein Ende dieses Leidens nicht zu. Träume und Ansichten reiben sich aneinander auf, und wäre da nicht die stille Toleranz im großen Herzen jener, die alles überblicken, wäre der kleine Ort am Meer ein viel hässlicherer Ort. Es ist anrührend, wie die Erzählerin sich ihre eigene kleine Welt zurechtsinnt und darin unauffällig vom Großvater unterstützt wird, der hinter die Fassaden zu schauen im Stande ist.

Die kurzen Kapitel des schmalen Bandes schildern unaufgeregt alles, von Alltäglichkeiten bis zum Abstoßenden, Absurdes mischt sich mit totaler Normalität, Leidenschaft mit Kälte, Zartheit mit Härte. Und über allem schwebt die Sehnsucht nach Liebe; sie durchsetzt die Atmosphäre des Buchs wie der Geruch von Lavendel die Luft über diesem Teil Sardiniens.
Trotz aller Schlichtheit und obwohl es so sachte formuliert, ist „Die Flügel meines Vaters“ ein Buch von Wucht; es bezirzt und umstrickt und weckt Fernweh. Die Kürze des Bändchens, der kleine Ausschnitt aus diesen verschiedenen Leben, der einige Erzählstränge zu Ende führt, viel mehr aber noch nur anreißt, andeutet und schließlich offen lässt, verführt den Leser dazu, nach dem Ende selbsttätig weiterzuträumen. Es ist ein spannendes kleines Werk voller lebensnaher Beschreibungen, ein Werk über Hoffnungen, Träume und menschliche Größe, über Ausbrechen, Fortgehen, Grollen, Heimkehren, übers Nachdenken und übers Verzeihen, über Prinzipien und über das, was das Herz bewegt.

_Fazit_

Milena Agus hat ein wunderschönes Buch geschrieben, das mit sanften Farbtönen ein realistisches und doch versöhnliches Bild von den Menschen malt. Da das kleine Werk nur hundertsechzig Seiten umfasst, kann man es jederzeit benutzen, um einen miserablen Tag zu retten oder sich kurz gedanklich an die Sonne und an den Strand Sardiniens zu versetzen, den Duft italienischer Kräuter einzuatmen und sich durch Madames Magie das Leben etwas schöner zaubern zu lassen. „Die Flügel meines Vaters“ ist hinreißend und rundherum empfehlenswert.

|Taschenbuch: 160 Seiten
Originaltitel: Ali di Babbo
Aaus dem Italienischen von Monika Köpfer
ISBN-13: 9783423139120|
[www.dtv.de]http://www.dtv.de
[Wikipedia – Milena Agus]http://de.wikipedia.org/wiki/Milena__Agus

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