Andrews, Russel – Anonymus

Carl Granville, von seinen Freunden „Granny“ genannt, ist ein junger, ambitionierter, aber erfolgloser Schriftsteller. Überraschenderweise lädt ihn ausgerechnet Maggie Peterson, die bekannteste Verlegerin New Yorks, zu einer Besprechung ein. Dabei macht sie ihm ein unglaubliches Angebot: Statt seines verfassten Romans über einen Basketball-Trainer soll Carl für Maggie einen komplett neuen Roman nach ihren Anweisungen schreiben. Bei „Gideon“, so der Titel des geplanten Werkes, handelt es sich um ein hochbrisantes Projekt. Basierend auf Tagebuchaufzeichnungen und Briefen, hat Carl die Aufgabe, als Ghostwriter binnen drei Wochen einen Enthüllungsroman zu schreiben, der kurz darauf erscheinen soll. Die Geschichte handelt von einem damals elfjährigen Jungen, der unter schwierigen Bedingungen in den Fünfzigerjahren aufwuchs und eines Tages seinen zweijährigen, behinderten Bruder mit einem Kissen erstickte. Offenbar ist dieser Junge heute eine wichtige Persönlichkeit, die zu Fall gebracht werden soll. Maggie Peterson verspricht, dass der Roman die Bestsellerlisten stürmen und Carl für seine Aufgabe fürstlich entlohnt wird.

Carl willigt ein, ohne die Brisanz der Geschichte zunächst zu erahnen. Doch schon bald zeigt sich, dass hinter der Sache ein großes Geheimnis steckt – spätestens, als er sein Vorlagen-Material persönlich überreicht bekommt, von einem bewaffneten Mann, der nach Belieben in seine Wohnung eindringt und sein tägliches Schreibpensum akribisch überwacht. Harry, so sein Name, begegnet Carl friedlich, weigert sich jedoch, ihm weitere Informationen zu geben. Carl vertieft sich in die Geschichte und erhält den versprochenen Vorschuss von 50.000 Dollar. Kurz darauf wird Maggie Peterson ermordet. Carl wendet sich an ihren Verlag, doch dort muss er entsetzt feststellen, dass niemand von seinem Projekt weiß. Je mehr er seinen Geheimauftrag beteuert, desto mehr Misstrauen schlägt ihm entgegen, bis er plötzlich als Hauptverdächtiger für Maggies Mörder gilt.

Carl flieht zu der einzigen Person, der er noch vertraut: Seine Ex-Freundin Amanda, Journalistin in Washington. Gemeinsam versuchen sie, Licht in die Angelegenheit zu bringen. Wer ist die offenbar hochprominente Persönlichkeit aus dem Buch, die einst ihren Bruder ermordete? Wer steckt hinter den Enthüllungen und wer hat Maggie Peterson getötet? Schon bald geschehen weitere Morde. Carl und Amanda werden von allen Seiten gejagt – für das FBI sind sie Mörder, für die unbekannten Drahtzieher gefährliche Mitwisser, die ausgeschaltet werden müssen. Die Suche nach der Wahrheit führt die beiden quer durch die USA …

Wer temporeiche Hollywoodthriller mit politischen Verschwörungen mag, der wird an diesem Roman seine helle Freude haben. Das ist das Kurzfazit, das sich dem Leser nach Beendigung des Romans stellt. Damit reiht sich das Werk ein in die Riege jener unterhaltsamen Bücher, die allerdings bei näherer Betrachtung nicht ohne den einen oder anderen Makel daherkommen.

|Sympathie mit Hauptcharakter|

Einer der wichtigsten Punkte für einen guten Roman sind zweifelsfrei die Charaktere. Dem Autor gelingt es gleich zu Beginn, den Leser für seine Hauptfigur Carl Granville einzunehmen, was sich als großes Plus für das Werk erweist. Carl ist eine Sympathiefigur; kein strahlender Held, sondern ein sensibler Mann mit einem Hang zum Chaos, ein jungendlich gebliebener Dreißiger mit dem Charme eines Teenagers. „Granny“, wie sein humorvoller Spitzname schon beweist, erinnert Mitmenschen und Leser in seiner Harmlosigkeit an einen tapsigen Welpen, gepaart mit Intelligenz und Schlitzohrigkeit. Er ist der nette Junge von nebenan, dem man nicht lange böse sein kann und auf dessen Seite man sich fast automatisch stellt. Insofern eignet sich Carl erst recht perfekt für eine Verschwörungsgeschichte, in der man atemlos das Schicksal des Protagonisten verfolgt und eine Identifizierung mit ihm notwendig ist.

Obwohl sie charakterlich fast das Gegenteil von Carl zu sein scheint, schließt man auch seine Ex-Freundin Amanda recht bald ins Herz. Die toughe Reporterin mit dem weichen Kern, der schnellen Auffassungsgabe und dem forschen Auftreten mag sich oft wie eine Kratzbürste verhalten, zögert aber nicht, sich für ihren ehemaligen Lebensgefährten in Gefahr zu begeben. Spätestesn auf der gemeinsamen Flucht der beiden ahnt der Leser natürlich, dass es nicht beim Zweckbündnis der Verfolgten bleibt, sondern dass alte Gefühle wieder auflodern. Dieser Handlungsverlauf ist mehr als offensichtlich, bleibt aber angenehmerweise im Hintergrund. Gerade in Verfolgungsromanen ist es oft ärgerlich zu beobachten, wie das Heldenpaar trotz aller Widrigkeiten noch Zeit für prickelnde Erotik findet. Hier dagegen ist das Szenario in dieser Hinsicht realistisch gestaltet. Es braucht fast zwei Drittel des Buches, bis sich Carl und Amanda romantische Anwandlungen erlauben und auch dann arrangiert sie der Autor in sorgfältiger Zurückhaltung, die ihrer Umgebung angemessen ist.

|Action ohne Längen|

Die Handlung verläuft in einem rasanten Tempo, das den Leser förmlich mitreißt und ihn dazu bringt, das Buch trotz seines nicht geringen Umfangs in kurzer Zeit durchzulesen. Dazu trägt auch der flüssige Stil bei, der keine weiteren Anforderungen an den Leser stellt. Die Wortwahl ist unkompliziert, die Sätze sind übersichtlich und eher kurz gehalten, so dass man keine nennenswerte Konzentration benötigt, um dem Geschriebenen zu folgen.

Spätestens wenn sich herausstellt, dass niemand außer der ermordeten Maggie Peterson von Carls Roman gewusst zu haben schien, niemand im Verlag seine Version glaubt und sogar die Polizei auf ihn als Tatverdächtigen aufmerksam wird, findet man sich in einer hitchcockesken Situation wieder, der man sich nicht entziehen kann. Für viele Menschen ist Carls Lage ein Horror-Szenario – allein auf sich gestellt mitten in einer Verschwörung, von der man weder Hintergründe noch Sinn oder Drahtzieher kennt, ohne einen Menschen, dem man vertrauen kann. Dieser Plot ist alles andere als neu, doch er hat nichts von seiner Wirksamkeit verloren. Der Protagonist steht vor dem Nichts und allein die Vorstellung, es könne einem ebenso ergehen, weckt Gänsehaut und unwohle Gefühle. Es ist ein dankbarer Ausgangspunkt, für den man nicht einmal eine besonders ausgefeilte Handlung braucht, damit der Leser gefesselt ist. Dieser will einfach wissen, wie es weitergeht und wie sich letztlich alles klärt. Genau nach diesem kathartischen Effekt, nach der erlösenden Klärung aller Ereignisse, sehnt sich der Leser, so dass es keiner großer schriftstellerischer Kunst bedarf, um ihn bei der Stange zu halten.

|Humor ist, wenn man trotzdem lacht|

Kleine Abzüge gibt es dagegen für den hin und wieder aufgesetzten Humor, der zwar den Unterhaltungseffekt verstärkt, aber in seiner Dosierung sparsamer und gezielter hätte verwendet werden sollen. So strotzen die Dialoge, vor allem zwischen Carl und Amanda, nur so vor Schlagfertigkeit und Esprit, was dem Ernst der Lage nicht immer angemessen ist. Als sich Carl beispielsweise in höchster Not in Amandas Wohnung vor einem FBI-Beamten verstecken muss, hat er unmittelbar darauf nichts Besseres zu tun, als Amanda bissig darauf hinzuweisen, dass sie „gottverdammte Mäuse“ in ihrer Wohnung hat, die ihm über die Beine gekrabbelt sind. Gleiches gilt für Amanda, die einen Vorwurf Carls sarkastisch kommentiert, dass es ihr an Übung fehle, Leute zu verstecken und sie „Bonnie und Clyde“ schon zu lange nicht mehr gesehen habe. Beinah nervig wird es beim virtuellen Austausch zwischen Amanda und einer befreundeten Kollegin, die den beiden als Hackerin wichtige Informationen verschafft. Zum einen erscheint es konstruiert, dass Amanda ausgerechnet ein journaliastisches Ziehkind kennt, dem sie hundertprozentig vertrauen kann und das in Minutenschnelle alle angeforderten Daten per Computerhack besorgt, so dass Amanda und Carl stets eine gute Chance haben, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Zum anderen sprühen auch die Computer-Dialoge zwischen Amanda und ihrer Freundin Shaneesa nur so vor Flapsigkeit und pseudo-witzigen Sprüchen, für die realistisch betrachtet definitiv kein Spielraum sein dürfte. Diese Dialoge im Stil einer Screwball-Komödie ziehen sich durch die gesamte Handlung und erinnern fatal an diverse Hollywood-Reißer, in denen der Held in jeder noch so brandgefährlichen Lage einen flotten Spruch auf den Lippen trägt.

Dadurch verliert der Roman allerdings zwangsläufig auch ein wenig von seiner Brisanz, denn ebensowenig, wie der coole, sprücheklopfende Held eines Hollywood-Reißers am Ende mit seiner Mission scheitert, fürchtet man ernsthaft um das Leben von Carl und Amanda. Dazu ist das Pärchen einfach zu sehr auf Sympathie ausgelegt, dazu verläuft die Geschichte nach zu konventionellem Muster. Der Leser soll sich mit den Protagonisten identifizieren, ihnen ihr Glück gönnen und sich auf das Happy-End freuen, ohne daran zu zweifeln, dass die Gerechtigkeit siegen wird. Dadurch erhält der Roman ein gewisses Fastfood-Flair. Man konsumiert ihn und fühlt sich dabei für den Moment befriedigt, ohne dass er eine nachhaltige Wirkung hinterließe.

_Als Fazit_ bleibt ein unterhaltsamer Thriller über Verschwörungen, Geheimnisse, Verfolgungsjagden und den Kampf gegen einen gesichtslosen Gegner, kombiniert mit einer zarten Liebesgeschichte. Mit viel Tempo und Humor jagen die sympathischen Protagonisten quer durch Amerika, wobei es die Autoren (s. u.) hin und wieder mit den witzig gemeinten Dialogen übertreiben. Die Handlung ist zwar nicht originell, aber solide inszeniert und bietet ein kurzweiliges Lesevergnügen ohne Längen.

_Russell Andrews_ ist das Pseudonym zweier US-Autoren, Peter Gethers und David Handler. Beide arbeiten auch als Drehbuchschreiber, Gethers ist seit 1980 Lektor bei |Random House|. Von „Russell Andrews“ erschienen desweiteren die Thriller „Midas“, „Icarus“ und „Das Aphrodite-Experiment“.

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