Philip Ardagh – Abscheuliche Angewohnheiten. Fünftes Buch der Eddie-Dickens-Trilogie

Wahnsinn zwischen Amnesie und Doppelgänger

Kaum von seiner letzten Expedition nach Schottland zurück, muss sich Eddie Dickens schon seinem nächsten irrwitzigen Abenteuer stellen: Erst erschlägt ein herunterfallender Schornstein des mürben Gemäuers von Schlimmes Ende beinahe Mr Dickens, dann führt das Schicksal Eddie auf Kollisionskurs mit einem Stechginsterbusch. Infolgedessen weiß Eddie nicht mehr, dass er Eddie ist, und nur die barmherzige Hilfe des warzennasigen (siehe Cover) Abtes Po vom Orden Ethelbert-des-Komischen bringt ihn wieder auf die Beine. Aber wird Eddie je sein Gedächtnis wiedererlangen und wird der bekannte Ingenieur Fandango Jones aufklären können, wer denn der Schornstein-auf-Leute-Schubser war?

Der Autor

Philip Ardagh ist über zwei Meter groß und trägt einen buschigen Bart – wie sein Foto belegt. Außerdem hat er mehr als 60 Kinderbücher geschrieben, für Kinder jeden Alters und unter verschiedenen Pseudonymen. „Allerdings keines, das nur annähernd so wäre wie ‚Schlimmes Ende'“, verrät der Verlag. Ardagh lebt mit seiner Frau und zwei Katzen in einem Küstenort in England. Er arbeitete als Werbetexter, als Krankenhausputzkraft, als Bibliothekar und als Vorleser für Blinde, bevor er aus dem Schreiben einen Fulltime-Job machte. Mehr Infos: http://www.philipardagh.co.uk.

Die erweiterte Eddie-Dickens-Trilogie:

1) Schlimmes Ende
2) Furcht erregende Darbietungen
3) Schlechte Nachrichten
4) Unliebsame Überraschungen
5) Abscheuliche Angewohnheiten
6) Allerletzter Akt

Der Übersetzer

Auch dieses Buch wurde wieder von Harry Rowohlt übersetzt. Harry Rowohlt lebt in Hamburg, ist Übersetzer, Autor, Rezitator, |Zeit|-Kolumnist und Gelegenheits-Schauspieler in der „Lindenstraße“ (und verlangt fünf Euro Strafe für die Frage, ob er etwa mit dem Verleger Rowohlt verwandt sei!). Er hat weit über hundert Bücher aus dem Englischen ins Deutsche übertragen. Die Liste der ihm verliehenen Preise würde den Rahmen sprengen.

Handlung

Eddie, der Held der Serie, findet im Schilf des Teiches hinter dem Haus der Familie – nun, was? Ein Baby in einem Korb. Ein männliches Baby obendrein. „Wie Moses in der Bibel“, meint Eddie. Doch die Noch Wahnsinnigere Tante Maud weiß nicht, wovon er redet. Und sein Vater, Mr Dickens, ahnt wieder einmal, dass der bescheuerte Autor dahintersteckt.

Als hätte er es geahnt, fällt ihm einer der Schornsteine auf den Kopf. Wenigstens ist er nicht platt wie eine Flunder, aber doch ziemlich nahe am Exitus. Während die anderen noch gaffen, fällt Eddie ein, dass man den Arzt holen sollte, Doktor Hömpel. Kaum hat Mr Dickens „Das wirst du mir büßen, Ardagh“ gegrummelt, kutschiert Eddie mit seinem Pferdchen „Pferdchen“ los ins Dorf. Allerdings gelangt er nicht weit, sondern landet schmerzhaft in einem Stechginsterbusch.

Das Schlimmste: Eddie weiß nicht mehr, dass er Eddie ist! Nur die barmherzige Hilfe des warzennasigen Abtes Po vom Orden Ethelbert-des-Komischen bringt ihn wieder auf die Beine und in sein Kloster, wo die Brüder ihren Neuzugang praktisch verhätscheln. Eddie kann sich nur bruchstückhaft an sein Leben erinnern. Da war ein Ned, oder? Fortan nennt man ihn Ned.

Als einer der Mönche auf der Suche nach zwei entlaufenen Schafen des Klosters auch mal in Schlimmes Ende vorbeischaut und einen gewissen „Ned“ erwähnt, fährt ihm die Noch Wahnsinnigere Tante Mauf über den Mund und drückt ihm Ned, das gefundene Baby, in die Arme. Als der Wahnsinnige Onkel Jack auftaucht und ihm mit grässlichen Todesarten droht, sucht der erschreckte Klosterbruder Guck hastig das Weite, natürlich mit Ned, dem Baby.

Unterdessen bittet der „einigermaßen bekannte Ingenieur“ Fandango Jones Kriminalinspektor Bunyon, den mysteriösen Fall des Schornsteins zu untersuchen, denn er glaubt, es handle sich um versuchten Mord. Hätte sich Bunyon nur nie darauf eingelassen! Schon bald bekommt er es bei seiner Ermittlung in Schlimmes Ende mit den entnervendsten Gestalten seiner Laufbahn zu tun.

Der scheinbar Vernünftigste ist der Ex-Sergeant Nein-Sir, der aber nur vom WOJ Jack so genannt wird. Nein-Sir hat eine verdächtige Gestalt zur Tatzeit auf dem Dach gesehen. Und er schwört, es habe sich um Master Edmund gehandelt, der von allen anderen Eddie genannt wird. Aber Eddie war doch unten, als Teil der Gesellschaft? Oder?

Im Kloster weiß Eddie, der nun Neddie genannt wird, immer noch nicht, wer er ist. Aber ist gern bereit, Baby Ned aufzunehmen, der sich in seinen Armen sofort beruhigt (die Stimme des Blutes!). Abt Po wimmelt einen Zigeuner namens Fudd ab, der behauptet, Eddie, pardon: Neddie, sei sein Sohn Fabian. Abt Po ist schlauer als der Zigeuner.

Eddies Zukunft im Kloster scheint endlich gesichert. Doch da begegnet er seinem Doppelgänger. Dreimal darf man raten, wie dieser heißt.

Mein Eindruck

Tja, wie kam es nun wirklich zu dem verhängnisvollen und folgenschweren Schornsteinsturz in Schlimmes Ende? Kriminalinspektor Bunyon versucht sein Möglichstes, und das ist nicht viel, weil er ständig die Antworten der Zeugen wiederholt. Nicht wesentlich erleichtert wird der Fall durch die Verwirrung um die Identität des doppelten Eddie.

Auch die Aussage von Mrs Florina Dickens, welchselbige Eddies Mutter ist, ist nicht sonderlich konstruktiv, findet Bunyon: Sie habe den Schornstein selbst vom Dach genommen und hinunter zum Dachvorsprung geschleppt. Aber sie könne ja nicht der Täter gewesen sein, nicht wahr? Schließlich wäre sie selbst fast von selbigem Schornstein als Mordwerkzeug erschlagen worden. Um ein Haar.

Und was mag es wohl mit dem Baby im Schilf à la Bibel-Moses sowie Eddies Doppelgänger auf sich haben? Und warum sieht ausgerechnet ein Zigeuner in Eddie seinen verschwundenen Sohn? Diese und viele weitere Fragen harren ungeduldig der Antwort – jawoll, das tun sie: ungeduldigst! Kein Wunder, wenn der Inspektor am Ende völlig mit den Nerven fertig ist und die Fingernägel des Lesers völlig abgeknabbert sind. Am Schluss bleibt eine Frage zur Qual des Lesers offen: Wie kommt es, dass es in Kapitel neun das Baby Ned |zweimal| gibt? Schlaflose Nächte sind also bereits garantiert.

Der Autor greift raffiniert (und hinterlistig) die Themen verlorene Identität (Eddie), verdoppelte Identität (Doppelgänger) sowie verheimlichte Identität (Baby Ned) nacheinander auf. Ob es wohl am viktorianischen Ambiente liegt oder an einer Vorliebe für Sherlock-Holmes-Geschichten – jedenfalls enthält die wie üblich völlig beknackte Geschichte genügend Material und Motive, um einen ganzen Schauerroman à la E.T.A. Hoffmanns [„Die Elixiere des Teufels“ 519 (1815/1816) zu schreiben.

Vielleicht hat Ardagh aber auch bloß bei Hoffmann abgeschrieben. Schließlich kommen dort auch jede Menge Mönche, Doppelgänger, Mörder und Waisen vor. Doch der Kriminalinspektor und der Ingenieur fehlen aus verständlichen Gründen. Und nichts könnte so beknackt wie die Insassen von Schlimmes Ende sein.

Ständig wendet sich der Autor an die kind- oder jugendliche Zuhörerschaft, um ein paar Dinge wie etwa das schwierige Wort „perambulator“ oder bestimmte Erfindungen zu erklären. Dadurch erhält die Erzählung zwar an pädagogischem Wert, doch der Autor erhöht durch die Einschübe auch die Spannung – oder er nervt ältere Leser, die eh schon wissen, was „perambulieren“ bedeutete.

Die Übersetzung

Der Übersetzer Harry Rowohlt stellt sich völlig in den Dienst des Autors und erhöht noch den skurrilen Stil der Darstellung und der Sprache der Vorlage. Er benutzt lautmalerische Wörter wie „spotzen“ oder „schlürfig“, aber auch treffende deutsche Begriffe wie „Kokolores“. Ein Wort wie „Bregen“ dürfte hingegen mehr an der Waterkant geläufig sein. Es bezeichnet eigentlich das Hirn von Schlachttieren.

Die Illustrationen

Fandango Jones trägt eine doppelstöckige „Angströhre“, also einen jener extrem hohen viktorianischen Zylinder. Nur, dass diese Angströhre offenbar aus einer Ofenröhre besteht. Ebenso wunderbar ist die Zeichnung, die den von einem Schornstein erschlagenen Mr. Laudanum Dickens zeigt. Der Schornstein erinnert an Karamellbonbons, denn er ist verziert wie eine Schachfigur aus „Alice im Wunderland“. Ich könnte noch viele weitere skurrile Einfälle des Zeichners David Roberts anführen, doch man sollte sie einfach selbst in Augenschein nehmen.

Unterm Strich

Charles Dickens‘ „Oliver Twist“ meets Monty Python. Nun ja, vielleicht nicht ganz, aber die Ähnlichkeiten mit Montys schrägem Sinn für Humor sind nicht völlig von der Hand zu weisen. Der Autor greift raffiniert die Themen verlorene Identität (Eddie), verdoppelte Identität (Doppelgänger) sowie verheimlichte Identität (Baby Ned) nacheinander auf. Um all die daraus entstehenden Verwicklungen aufzudröseln, bedarf es eines veritablen – und nervenstarken – Kriminalinspektors. Sherlock lässt grüßen.

Meine Altersempfehlung (als Nichtpädagoge): ab 10 bis 12 Jahren, je nach sittlicher Reife, charakterlicher Festigung und sprachlichen Fähigkeiten des potentiellen Lesers. Dieser Stoff ist nicht ganz so hart wie „Harry Potter“ ab Band drei, weicht aber wesentlich von dessen Stereotypen ab.

Gebunden: 159 Seiten
Originaltitel: Eddie’s Further Adventures – Horrendous Habits, 2005
Aus dem Englischen von Harry Rowohlt
Illustriert von David Roberts
Empfohlen ab 10 Jahren
ISBN-13: gebunden 978-3-570-12859-6, broschiert 978-3-570-21852-5

https://www.penguin.de/Kinder-und-Jugendbuchverlage-cbj-&-cbt/aid77972.rhd

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)