Assouline, Pierre – Lutetias Geheimnisse

Pierre Assouline hat ein Buch über den Zweiten Weltkrieg geschrieben – das ist an und für sich nichts Besonderes, doch der Franzose wählt einen nicht alltäglichen Ausgangspunkt. Er erzählt die Geschichte des Palasthotels „Lutetia“ aus der Sicht des Hoteldetektivs Edouard Kiefer, der aus dem Elsass stammt und somit sowohl französische als auch deutsche Wurzeln besitzt.

Dieser Tatsache ist es zu verdanken, dass er auch während der Besatzung der Deutschen, die das Hotel für ihre Zwecke requirierten, bleiben darf. Während er vorher für die Sicherheit der zumeist erlesenen Hotelgäste zuständig war, muss er nun dolmetschen oder Botengänge für die Nazis erledigen. Doch das Lutetia, das in Edouards Augen seine eigenen Geheimnisse beherbergt, spielt nicht nur geduldig während der Besetzung Frankreichs eine wichtige Rolle. Danach wird es erneut requiriert und dient als Auffanglager für aus KZs befreite Häftlinge. Dabei spielen sich teilweise rührselige Szenen in den Fluren des großen Hotelkomplexes ab: Leute finden sich wieder oder erfahren, dass jene, die sie suchen, tot sind.

Obwohl Edouard Kiefer zumeist in den Hintergrund rückt und als Beobachter fungiert, schimmert an der einen oder anderen Stelle auch sein Privatleben durch. Die Gräfin Nathalie Clary beispielsweise liegt ihm sehr am Herzen. Die beiden sind gemeinsam großgeworden, doch sie heiratete den Grafen Clary, und sie und der Hoteldetektiv pflegen zu den Hochzeiten des Lutetias eine geheime Beziehung. Doch als die Deutschen Einzug in Frankreich halten, wird Nathalie deportiert und kehrt nach dem Krieg für einen kurzen, aber intensiven Moment zurück zu ihrer Jugendliebe. Daneben beschäftigt sich der Ich-Erzähler mit seiner Mutter, die ihn und seinen Vater schon vor Jahren alleine gelassen hat, und dem seltsamen Zufall, dass einer der brutalsten Deutschen beinahe den gleichen Nachnamen wie er trägt …

Viel ist es nicht, was in „Lutetias Geheimnisse“ passiert, doch gerade das ist die Stärke des Romans. Pierre Assouline gestaltet die Zeit vor, während und nach dem Krieg nicht als Abenteuer, sondern konzentriert sich aufs Beschreiben und darauf, die vielen unterschiedlichen Gesichter dieser gewichtigen Zeit darzustellen. Dabei greift der Autor auch auf historisch belegte Gestalten zurück, zum Beispiel den Schriftsteller James Joyce, der vor dem Krieg des Öfteren im Lutetia weilte. Die realen und die erfundenen Personen werden zumeist kurz eingeführt und haben selten einen längeren Auftritt als ein paar Seiten. Einige Charaktere werden mehr als einmal erwähnt, aber in der schier unendlichen Masse von Personen und Schicksalen, die Edouard beobachtet, ist es schwierig, den Überblick zu behalten. Gerade Charaktere, die immer wieder auftauchen, hinterlassen aufgrund der Vielfalt zu wenig Eindruck, um dem Leser erinnerlich zu bleiben, was einfach schade ist. Auf der einen Seite lassen sich der Krieg und seine Übel durch die vielen vorüberziehenden Gesichter sehr gut und weitreichend darstellen, auf der anderen ufert die Geschichte manchmal aus.

Es sind nicht nur die Charaktere, die untergehen, sondern auch der Erzähler selbst. Edouard erzählt flüssig, dicht und sehr detailliert, wirkt dabei aber plaudernd und auch ungeordnet. Man hat das Gefühl, als würde er dem Leser direkt gegenübersitzen und über die guten alten Zeiten plaudern. Er ist ein guter Beobachter, und trotz der Ich-Perspektive rückt er auf weiten Strecken in den Hintergrund. Sein Privatleben vermischt sich nur selten mit seiner Arbeit als Hoteldetektiv, und so vergisst der Leser manchmal sogar, wer der Erzähler eigentlich ist. Allerdings ist fraglich, ob die Geschichte so gut und atmosphärisch wäre, wenn Edouard sich mehr in den Vordergrund gedrängt hätte. Daher ist es in diesem Fall besser, von einem Beobachter anstatt von einem Erzähler zu sprechen, denn dank Assoulines Schreibstil erlebt der Leser die Geschehnisse tatsächlich wie durch Edouards scharfe und aufmerksame Augen.

Dadurch, dass das Buch hauptsächlich Beobachtungen vereint, ist kaum ein roter Faden in der Handlung zu erkennen. Abgesehen von den historischen Ereignissen verfolgt Assouline keine erzählerischen Ziele. Wen das nicht schreckt, der wird in „Lutetias Geheimnisse“ ein gut recherchiertes, fiktives, aber erschreckend realistisches Zeitzeugnis finden. Dabei ist gerade für deutsche Leser die Sichtweise interessant: Es wird nicht direkt vom Ort des Geschehens berichtet, sondern aus dem Nachbarland, und der Fokus liegt dabei auch nicht unbedingt darauf, die Ereignisse möglichst eindringlich und brutal darzustellen, sondern auf der stillen Beobachtung. Obwohl ein subjektiver Erzähler deutlich erkennbar ist, wirkt das Buch an vielen Stellen sehr objektiv.

Diese Objektivität ist allerdings nie mit Sterilität oder Kühle gleichzusetzen. Im Gegenteil erzählt der französische Autor warmherzig und offen und hat den Leser bereits nach den ersten Seiten fest im Griff. Wie bereits erwähnt, ist es Edouards Plaudertonfall, der sich eines gehobenen Vokabulars bedient und so gut wie nie in die Alltagssprache abrutscht, zu verdanken, dass sich das Buch flüssig und ohne Widerstände lesen lässt. Die Worte werden richtiggehend lebendig und wirken eher wie im Gespräch als aus einem Buch gelesen. Das ist überhaupt die größte Stärke von „Lutetias Geheimnisse“: die Lebendigkeit, die vor allem vom Erzähler und damit auch vom Schreibstil ausgeht. Nichts wirkt gekünstelt, sondern nüchtern und bodenständig. Da fällt es schwer zu glauben, dass der Autor acht Jahre nach Kriegsende geboren wurde und nicht mittendrin war.

„Lutetias Geheimnisse“ ist ein Buch, für das man ein gesundes Interesse und den Willen, sich darauf einzulassen, mitbringen muss. Es hat kaum eine geradlinige Handlung, sondern setzt sich hauptsächlich aus den Beobachtungen von Geschehen und Personen zusammen. Der sehr gut ausgearbeitete Erzähler Edouard hält den Roman dabei mit seiner Beobachtungsgabe und der nüchternen, aber dennoch lebendigen Erzählweise zusammen. Wer gerne etwas über den Zweiten Weltkrieg aus einer ungewöhnlichen Sicht erfahren möchte, ist mit Pierre Assoulines Werk gut beraten.

http://www.heyne.de

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