Atkins, Charles – Blutduett

_Das geschieht:_

James Martin stand einst vor einer vielversprechenden Musiker-Karriere, als er in einen grausamen Doppelmord verwickelt wurde. Weil man ihm seine direkte Schuld nie nachweisen konnte und er außerdem in der Untersuchungshaft an Schizophrenie erkrankte, kam Martin nicht ins Gefängnis. Stattdessen steht er seit vielen Jahren in der feudalen Familienvilla, die er inzwischen allein bewohnt, unter Hausarrest. Er muss eine elektronische Fußfessel tragen, wird ständig von einem Psychologen untersucht und steht unter der Vormundschaft seiner Zwillingsschwester Ellen.

Ungeachtet der ihm auferlegten Beschränkungen hat sich Martin als Meister der Manipulation viele Freiheiten erobert. Ellen ist dem Bruder hörig, der Betreuer bestechlich. Gerade ist Dr. Kravitz, der ungeliebte Psychiater, (angeblich) einem Blutzuckerschock zum Opfer gefallen. Martin setzt alle Hebel in Bewegung, damit ihm Dr. Barrett Conyors als Ärztin zugewiesen wird, die er vor Jahren in Croton, einer Anstalt für kriminelle Geisteskranke, kennen und bis zur Besessenheit schätzen lernte, was er allerdings stets verbergen konnte.

Die hochbegabte und engagierte Conyors freut sich über das gute Honorar und die Ablenkung, denn just hat sie ihren Gatten beim Ehebruch erwischt. Auch beruflich ist die Ärztin angeschlagen, nachdem sich ein von ihr geheilter Patient nun doch vor Gericht verantworten musste und sich deshalb umbrachte. Nie wieder wird sie der Justiz auf diese Weise in die Hände arbeiten, schwor Conyors sich – für Martin ein idealer Ansatzpunkt für sein perfides Psycho-Spiel.

Zwar ahnt Conyors, dass ihr großzügiger Klient sie belügt, worin sie ein alter Freund, der misstrauische Detective Hobbs, bestärkt, doch sie überschätzt ihre beruflichen Fähigkeiten, wodurch sie Martin und die Intensität seines Wahns falsch einschätzt – ein Versäumnis, das Conyors Leben zur Auflösung bringt und im Rahmen eines dramatischen Finales sogar zu beenden droht …

_Thriller von der Stange_

Das Böse ist reich, (trügerisch) schön, hochtalentiert und skrupellos, das Gute (zunächst) schwach, weil gesetzestreu und moralisch, aber immerhin ebenfalls schön und klug: Willkommen in der Terminator-Zone, die in der Astronomie die Licht-Schatten-Grenze eines Planeten bezeichnet. Der Begriff taugt auch für die (Unterhaltungs-) Literatur. Hier ist der Terminator freilich breiter, denn er ist die Heimat jener (viel zu) vielen Romane, die weder richtig schlecht noch wirklich gut sind.

Im Dämmerschatten verschwimmen etwaige Charakterzüge. Handwerklich solide Arbeit ist in diesem Umfeld gefragt, und genau sie bietet „Blutduett“ als Schema-F-Thriller, der gerade an der Kante jenes Abgrundes balanciert, in dem einschlägige Klischees ihn endgültig verschlingen würden. Es gibt keine einzige originelle Idee in diesem Buch, was durch die künstlich aufgeregte aber eigentlich farblose Umsetzung noch betont wird. Charles Atkins folgt treu (oder stumpf) den Fußspuren anderer Autoren, die das Feld vom irren aber cleveren Super-Schurken bereits kreuz und quer beackert haben.

Zwar ist er bemüht, dies vergessen zu lassen, indem er aktuelles und durch persönliche Berufserfahrung gewonnenes Fachwissen in seine Geschichte einfließen lässt. Wie viele andere ehrgeizige Autoren ignoriert er jedoch die Frage, was seine Leser höher schätzen: eine spannende oder eine solide im fachlichen Kontext verankerte Geschichte? Er kennt die Antwort nicht, dass sich die Fiktion der Realität nur bedient, ohne ihr verpflichtet zu sein. Anders ausgedrückt: Eine Geschichte muss vor allem spannend sein und höchstens überzeugend klingen. Faktenwissen ist eine Zugabe, die der Leser von einem guten Autor erwartet und erwarten kann.

|Auch Klischees wollen beherrscht sein|

Charles Atkins hätte besser mehr Schwung in seine Geschichte gebracht, statt uns einmal mehr mit dem nur scheinbar und behauptet aufregenden Garn von der Schönen und dem Biest zu konfrontieren, ohne das Thema wenigstens zu variieren. Schon die Ausgangssituation erzeugt Stirnrunzeln. Atkins setzt auf die „Reiche dürfen alles“-Karte und konstruiert eine Mausefalle, die über unzählige heimliche Ausgänge verfügt und damit und ein „Looked Room“-Geheimnis einerseits schaffen will und andererseits mit Füßen tritt. Wie konnte ein psychisch nachhaltig gestörter, viele Jahre unter Medikamenteneinfluss in einem Sanatorium vegetierender Martin sein Elternhaus unbemerkt in eine High-Tech-Burg verwandeln, um deren Effizienz ihn jeder staatliche Geheimdienst beneiden würde? Gibt’s dafür Internet-Volkshochschulkurse? Atkins bemüht sich um „Erklärungen“, die jedoch fadenscheinig bleiben.

Zumindest der tatsächlich gefangene Hannibal Lecter war in „Das Schweigen der Lämmer“ faszinierend, weil er sein Gegenüber nur durch Worte manipulieren konnte. Will James Martin einen Widersacher aus dem Weg räumen, setzt er seine Fußfessel außer Betrieb, setzt sich in ein getarntes Taxi und fährt den Lästling über den Haufen. Notfalls manipuliert er Komplizen, die Atkins bei Bedarf aus dem Hut zieht. So vermag er seine Handlung wohl aus einer ihrer vielen Sackgasse manövrieren, aber ernst nehmen kann man dieses „Lösung“ beim besten Willen nicht. Muss angemerkt werden, dass Martins Todesfallen ähnlich plump geraten? Eine Ausnahme bildet das große, durch aufgesetzte Gruseldramatik und Zufälle geprägte Finale: Es ist peinlich und sabotiert die ohnehin schwache Auflösung.

|Kluges Reh im Scheinwerferlicht|

Atkins hegt die allzu zuversichtliche Überzeugung, ein wortgewandter Autor zu sein. Gern bemüht er beispielsweise theatralische Symbolismen als Stilmittel. Schon der Titel verweist auf einen Kampf der Geistesriesen: |prodigy| bedeutet „Wunderkind“, und der Verfasser findet den Einfall originell, dass nicht nur James Martin, sondern auch Barrett Conyors ein solches Wunderkind war. Weitere Parallelen werden konstruiert: unglückliche Kindheit, schwierige Eltern, Beziehungsprobleme; sie sollen ebenso wie das Cello-Spiel – nur Genies spielen klassische Musik, und das Böse ist noch hässlicher, wenn es die schönen Künste missbraucht – bedeutungsschwangere Tiefe suggerieren. Faktisch wird das Instrumentarium der Seifenoper aufgefahren, deren Getöse die Schlichtheit des Plots übertönen soll.

Zwischen Martin und Conyors findet ein Katz-und-Maus-Spiel statt. Es spiegelt sich im Verhältnis zwischen Martin und seiner (echten) Katze Fred und soll unheilvoll die Zukunft der ahnungslosen Psychologin Conyors andeuten. Die wird privat und im Job durch zahlreiche Widrigkeiten so arg gebeutelt, dass immerhin nachvollziehbar wird, dass ein lupenreiner Irrer wie James Martin sie über den Tisch ziehen kann. Conyors ist eine Fachidiotin, sie steckt voller Skrupel, was Sympathie für die Figur wecken soll. Stattdessen nervt Conyors in ihrem Gutmenschentum, das sie außerdem in jede noch so ungeschickt gestellte Falle stolpern lässt.

Ausgelaugte Geschmacklosigkeiten erzeugen unfreiwillig Heiterkeit: In Martin juniors Matschhirn röhrt der tote, böse Vater, der unbedingt einen Erben produziert sehen will; mit Fruchtbarkeitspillen gefüttert und heimlich künstlich geschwängert, droht Barrett, sich mit einem Plastikmesser die Gebärmutter zu entfernen, wenn man sie nicht ziehen lässt – eine Situation, die spannende Krisenstimmung nachhaltiger killt als jeder Serienkiller.

|Gelegenheit zur Publikumsbelehrung|

Zwischen den raren Spannungsmomenten bremst Atkins die Handlung gern ab, um seine Figuren lange Vorträge über die Rolle der Psychologie im modernen Justizwesen zu halten. In diesem Punkt kennt sich der Verfasser hauptberuflich aus, und es ist ihm wichtig, sein Wissen einem möglichst breiten Publikum näherzubringen. Ihm unterläuft in diesem Zusammenhang deshalb nicht nur der weiter oben angesprochene Fehler, darüber seine Geschichte zu vernachlässigen. Atkins beginnt darüber hinaus zu dozieren. Fakten sind jedoch nur Teile des Rezeptes für eine gute Geschichte. Sie müssen ihr in geeigneten Dosen untergehoben werden. Ein Kreuzzug ist in erster Linie demjenigen wichtig, der ihn ausruft.

Als Leser möchte man „Blutduett“ schütteln, bis Klischees und allzu Bekanntes wie faule Früchte und trockene Blätter aus dem Geäst eines Obstbaums gefallen sind, um zu sehen, was übrig bleibt. Von diesem Roman blieben wohl nur kahle Zweige, was letztlich das passende Bild für eine routinierte, allzu kalkulierte und vor allem: hölzerne Geschichte wäre.

_Autor:_

Der 1961 geborene Psychiater ist Mitglied der Medizinischen Fakultät der Universität Yale in New Haven (US-Staat Connecticut). Sein Spezialgebiet ist die Behandlung manisch-depressiver Verhaltensstörungen. Über seine Erfahrungen und Forschungen schreibt Atkins regelmäßig Artikel in Fachzeitschriften; er ist außerdem Autor viel gelesener Ratgeber über den Umgang mit psychisch erkrankten Personen.

Als Krimi-Autor debütierte Atkins 1998 mit „The Portrait“. Weitere Romane sowie zahlreiche Kurzgeschichten für Magazine und Anthologien folgten. 2007 begann der Autor eine Serie um die Psychiaterin Barrett Conyors. Hier kann Atkins sein Fachwissen in eine Krimi-Handlung einfließen lassen.

Charles Atkins lebt in Woodbury, Connecticut. Über seine medizinischen und schriftstellerischen Aktivitäten informiert er auf seiner Homepage [www.charlesatkins.com]http://www.charlesatkins.com.

|Taschenbuch: 413 Seiten
Originaltitel: The Prodigy (Woodbury/Minnesota : Midnight Ink 2007)
Übersetzung: Marcel Bülles
Deutsche Erstausgabe: Januar 2010 (Bastei-Lübbe-Verlag/Allgemeine Reihe Nr. 16370)
ISBN-13: 978-3-404-16370-0|
[www.luebbe.de]http://www.luebbe.de

_Charles Atkins bei |Buchwurm.info|:_
[„Gift“ 3966
[„Risiko“ 5024

Schreibe einen Kommentar