Brian Azzarello (Autor) / Eduardo Risso (Zeichner) – 100 Bullets Bd. 2 – Die zweite Chance

Band 1: „Der erste Schuss“
Band 6: „Sechs im roten Kreis“
Band 7: „Samurai“
Band 8: „Der unsichtbare Detektiv“

Auch der zweite Band zu „100 Bullets“ zeigt noch einmal ganz deutlich, dass Fans der Serie sich glücklich schätzen können, dass die |Vertigo|-Comics mittlerweile von |Panini| vertrieben werden. Dort nämlich wird nicht nur die laufende Serie fortgesetzt, auch die bisherige Geschichte erfährt infolge dieser Zusammenarbeit einen optisch noch mehr ansprechenden Re-Release, in dem die umfassende, vor allem aber unberechenbare Vorgeschichte noch einmal aufgerollt wird.

Der zweite Sammelband gliedert sich dabei wieder in mehrere einzelne Episoden, die alle für sich mehr oder minder die Frage aufwerfen, was genau hinter dem Trust steckt, von dem Agent Graves bei seinen unmoralischen Missionen gedeckt wird. Zunächst aber gibt es einen actionlastigen Ganoven-Kleinkrieg, den die beiden falschen Zocker Pony und Chucky miteinander austragen. Chucky wanderte für sieben Jahre in den Knast für einen tödlichen Unfall, den Pony verschuldet hatte. Nach seiner Entlassung verspürt Chucky zunächst keinen Unmut – bis er auf Graves und seinen berüchtigten Koffer trifft. Derweil trifft der undurchsichtige Agent ständig auf weitere Mitglieder der Minutemen, darunter auch den Eisverkäufer Cole Burns, der zunächst nichts von seinem Schicksal weiß, sich nach einem heftigen Rachefeldzug dann aber wieder seiner ehemaligen und neuen Rolle besinnen kann.

Den umfangreichsten Plot hat sich Star-Autor Azzarello allerdings für den Schluss aufgehoben. Er beschreibt das Treffen des ungleichen Duos Dizzy Cordova und Mr. Branch. Dizzy wurde in Shepherds Auftrag nach Paris geschickt, um Branch dort zu treffen, jedoch ist ihr nicht wirklich klar, welcher Part ihr in diesem Spiel zukommt. Derweil berichtet ihr Partner von seinen Erfahrungen mit Graves und seinen langjährigen Nachforschungen nach den Ursprüngen der Organisation des Agenten. Doch noch während er weiter ausführt, gerät er in der Jetztzeit in die nächste missliche Lage. Sein Auftrag für den Trust scheint nämlich noch nicht beendet.

Wieder einmal schildert der Autor einzelne Schicksale von Menschen, die unmittelbare Bekanntschaften mit dem seltsamen Trust gemacht haben, und wechselt dabei zwischen unterschwelliger Brutalität, zynischem Humor und bestechend dichter Thriller-Atmosphäre – wenn er nicht gleich alle drei Elemente, wie so oft, miteinander kombiniert. Die verschiedenen Geschichten sind unterdessen wirklich grandios, wobei es prinzipiell gar nicht entscheidend ist, ob eine Episode sich über mehrere Kapitel zieht oder der Kontakt mit Mr. Graves nur über wenige Seiten analysiert wird. Der Effekt ist jedes Mal der gleiche und nennt sich Begeisterung.

Ein gutes Beispiel hierfür ist die vorletzte Story, in welcher der Hauptakteur eine Bedienung im Restaurant zur Seite nimmt und ihr vom Schicksal ihrer vor vier Jahren verschwundenen Tochter berichtet. Was sich hier an hasserfüllter Stimmung in nur wenigen Skizzen aufbaut, jagt dem Leser einen eisigen Schauer über den Rücken, ganz zu schweigen von der intensiven Spannung, die wie selbstverständlich den Siedepunkt erreicht. Nicht ganz so subtil, dafür aber vergleichbar krass ist indes der erste Plot, der sich mit einem emotionalen Kleinkrieg zweier langjähriger Freunde beschäftigt, die sich beide ihr Geld mit illegalen Glücksspielen verdienen. Hier baut Azzarello zunächst ein Szenario voller seelischer Verbitterung auf, zögert das |grande finale| lange heraus, nur um schließlich so richtig zu explodieren.

Und so findet der Autor ständig neue Wege, die Kontakte mit dem unscheinbaren Agenten lebendig und effektreich zu gestalten. Die Vielfalt der Einfälle macht „100 Bullets“ aber auch erst so unglaublich interessant und ist die grundsätzliche Basis für die Unberechenbarkeit der Story. Nichts ist unmöglich, keine(r) ist wirklich das, was er/sie vorzugeben scheint, jede Situation kann sich mit einem Ruck völlig umkehren. Im zweiten Band scheint dieser Umstand eine noch intensivere Atmosphäre zu gewährleisten, ebenso aber auch noch dichtere, tiefer gehende Handlungsabschnitte hervorzubringen. Denn egal, in welche Sache die Minutemen verstrickt sind, jede Geschichte ist in Sachen Action, Grundstimmung und Spannung einfach nur genial umgesetzt.

Genialität muss man aber auch dem zeichnerischen Beistand attestieren. Azzarellos argentinischer Sidekick Eduardo Risso ist seit der ersten Kollaboration in der außergewöhnlichen |Batman|-Ausgabe schon mehr als bloß ein Geheimtipp, kann sich aber erst hier in dieser destruktiven Umgebung der „100 Bullets“ so richtig verwirklichen – und nutzt diese Chance mit jedem einzelnen Bild.

Keine Frage, diese umwerfende Symbiose verdient nicht nur größtes Lob, sondern auch eine uneingeschränkte Empfehlung für den aktuellen Comic-Bestellzettel. Auch „Die zweite Chance“ zeigt höchst eindrucksvoll, dass Azzarello mit „100 Bullets“ sein persönliches Meisterwerk geschaffen hat.

Taschenbuch: 228 Seiten
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