Bánk, Zsuzsa – Schwimmer, Der

Ungarn, 1956: Auch Ungarn wurde nach 1945 dem Ostblock angegliedert. Sowjetische Truppen besetzten das Land und der Große Bruder in Moskau nahm fortan die Geschicke des Landes in die Hand. Es folgte eine der radikalsten Bodenreformen nach dem Zweiten Weltkrieg, bei der 35 Prozent der Bodenfläche des Landes verteilt wurden. Moskau versuchte, die eigenen Methoden auch in Ungarn anzuwenden: Landwirtschaft und Wirtschaft wurden nach dem sowjetischen Modell umstrukturiert, doch die Planwirtschaft versagte. Der damalige Staatschef Rákosi, ein Stalinist, fiel nach Stalins Tod 1953 in Moskau in Ungnade. Er wurde durch Nagy ersetzt – ein Fehler, denn Nagy setzte sich für den Reformkommunismus ein: Freilassung der Internierten, Abschaffung der Zwangsmaßnahmen, ja sogar die Ermächtigung zur Auflösung der Kolchosen. Natürlich konnte er sich mit dieser Politik nicht lange halten. 1955 erlangte Rákosi wieder die Oberhand und übernahm das Amt. Mit dem Tauwetter in Polen setzten auch in Ungarn 1956 Unruhen ein. Drei Jahre nach Stalins Tod machten sich Schriftsteller, Journalisten und Künstler öffentlich Luft und protestierten zunächst gegen Spielplanänderungen und Zensur. Im Oktober schlossen sich dann auch die Studenten an und formulierten ihren Traum von einem zwar kommunistischen, jedoch unabhängigen und neutralen Ungarn. Der Stein kam ins Rollen: Der Aufstand griff aufs Land über, der Machtapparat brach zusammen und Nagy erschien wieder auf dem Spielfeld. Zu diesem Zeitpunkt allerdings beschloss Moskau bereits, in das Geschehen einzugreifen und hielt Ungarn mit Versprechungen hin, bis sie ihre Truppen geordnet hatten. Am 4.11.1956 war es dann so weit. Sowjetischen Truppen stürmten Budapest und schlugen den Aufstand nieder. Der kurze Traum von einem unabhängigen und demokratischen Ungarn war ausgeträumt. Doch flüchteten in der kurzen Zeit der Unruhen mehr als 19000 Ungarn in den Westen.

All das wird in Zsuzsa Bánks Debütroman „Der Schwimmer“ nicht erzählt. Vor dieser sehr politischen Kulisse spielt ihr absolut unpolitischer Roman. Die Ereignisse aus dem Jahr 1956 schwingen im Hintergrund mit, offen thematisiert werden sie jedoch nicht. Zu Beginn des Romans befinden wir uns in eben jenem Jahr 1956. Die kleine Kata lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf. Ganz plötzlich, ganz unerwartet brechen diese politischen Ereignisse auf einer sehr persönlichen Ebene in Katas Lebenswelt ein. Ihre Mutter gehört zu jenen 19000 Menschen, die während des Aufstands in den Westen geflohen sind. Ihr Vater und damit auch Kata erfahren all dies nur aus zweiter Hand. Auf einmal ist die Mutter weg, unerreichbar fern und alles, was von ihr bleibt, ist kurze Zeit später ein kleiner verschlüsselter Gruß über das Radio Freies Europa. In einen Zug gestiegen sei sie, einfach so, mit ihrer Freundin Vali. Nichts habe sie bei sich gehabt und erst in der Mitte des Buches erfährt der Leser, dass sie bis zum letzten Dorf in Ungarn gefahren sind, um von dort zu Fuß und bei Nacht über die grüne Grenze zu laufen. Ein Führer hat sich ihnen angeboten und Katas Mutter bezahlte ihn mit ihrem Ehering.

Nicht nur Katas Leben bringt dieser unerwartete Verlust durcheinander. Auch ihr Vater scheint aus der Bahn geworfen. Seit seine Frau verschwunden ist, verfolgt er kein Ziel, scheint keine Träume zu haben, keine Ansprüche an die Zukunft. Nur manchmal, da „taucht er ab“, wie Kata und ihr Bruder Isti das nennen. Er liegt einfach auf dem Sofa und starrt an die Decke. Tagelang, manchmal sogar für Wochen. Er schleppt seine beiden Kinder zunächst nach Budapest, dann in einen kleinen Ort, dann an den Balaton, wo sie länger bleiben. Als sie dort wegmüssen, geht es wieder an einen namenslosen Ort – immer kommen sie bei Verwandten unter und nie scheint sich in ihrem Leben etwas zu verändern. Kata und Isti gehen nicht zur Schule. Ihr Vater hat fast nie einen Job. Zeit spielt keine Rolle, Geld spielt keine Rolle – es geht nur darum, weiterzuexistieren.

Damit hat „Der Schwimmer“ auch nicht wirklich eine erzählbare Handlung. Vielmehr erschließt sich das Buch durch Personen, denen Kata begegnet, durch Figuren, die in einzelnen Kapiteln näher beleuchtet werden. Die Ich-Erzählerin Kata beschreibt nicht aus der Zeit heraus, aber trotzdem mit kindlicher Wahrnehmung. Sie beobachtet, nimmt wahr, schaut hin und hört genau zu. Was aus ihren Zeilen durchschimmert, ist eine unterschwellige Verzweiflung aller Beteiligten, die Gewissheit, dass nichts vorwärtsgeht. Die Melancholie ergreift alle: Den Vater, wenn er „taucht“, Kata, wenn sie vor dem Radio wacht, in der Hoffnung, noch einen Gruß ihrer Mutter abzufangen. Und auch Isti, der nur glücklich ist, wenn er im See schwimmen kann; immer nur schwimmen.

Zsusza Bánk ist selbst die Tochter von ungarischen Eltern, die nach Deutschland ausgewandert sind. 1965 wurde sie in Frankfurt/Main geboren und lebt auch noch heute dort. Sie studierte Publizistik, Politik und Literatur und „Der Schwimmer“ ist ihr Debütroman, der gleich mit mehreren Preisen, z. B. dem „Aspekte“-Literaturpreis, ausgezeichnet wurde. Und das zu Recht. Bánks poetische Sprache ist so dicht und fesselnd, dass man pro Tag nur ein oder zwei Kapitel genießen sollte. „Der Schwimmer“ ist auf keinen Fall ein Buch, das dadurch gewinnt, dass man es in einer Tour liest. Es ist leise, aber es bleibt im Gedächtnis. Es macht schwermütig, ist aber nicht erdrückend.

„Der Schwimmer“ ist ein uneingeschränkt empfehlenswertes Debüt. Wenn man auf die leisen Töne Wert legt, wenn man nicht unbedingt eine fesselnde Handlung braucht, sondern sich mit den faszinierenden Gedanken eines kleinen Mädchens zufrieden geben möchte, dann sollte man dem Buch seine Aufmerksamkeit schenken.