Baccalario, Pierdomenico – Volk von Tarkaan, Das

_Kinder auf Abwegen, Monster aus der Anderwelt_

Statt der sehnsüchtig erwarteten Fantasyautorin Apollonia J. Brennan tauchen auf der lang geplanten Jubiläumsfeier der Pfadfinder plötzlich zwei riesige, bis an die Zähne bewaffnete Ungetüme auf, schnappen sich eine Handvoll Kinder und sind wieder verschwunden, ehe überhaupt jemand reagieren kann …

Wo kommen die beiden Ungeheuer her? Warum sehen sie so aus wie die Kolosse in dem Roman von Apollonia J. Brennan? Und wo steckt die Autorin überhaupt? Für den tapferen Antonello und seine Freunde steht fest, dass sie diese Fragen nur beantworten können, wenn sie sich an die Fersen der riesenhaften Kerle heften und die anderen retten – binnen 24 Stunden … (Verlagsinfo)

_Der Autor_

Pierdomenico Baccalario wurde 1974 in Piemont geboren. Schon früh begeisterte er sich fürs Lesen und durchstöberte die riesige Bibliothek seiner Eltern nach abenteuerlichen Geschichten. An der literarischen Schule schrieb er selbst Geschichten, erfand Rollenspiele und die dazu passenden Welten. Nach der Schule studierte er zunächst Jura, bevor er sich dem Journalismus und dem Schreiben zuwandte. Gleich für seinen ersten Fantasyroman „Die Straße des Kriegers“ wurde er ausgezeichnet. Seine Bücher werden weltweit in über 20 Sprachen übersetzt. Bekannt ist er auch unter dem Pseudonym Ulysses Moore.

_Handlung_

Der 13-jährige Antonello lebt in einem italienischen Bergdorf unweit der Autobahn, die nach Frankreich führt. Immerhin hat sein ansonsten abgeschieden gelegenes Dorf eine Autobahnzufahrt. Wie gerne würde er jedoch statt mit einem Auto zu Fuß in die Berge wandern, ausgerüstet mit Kompass und Pfadfindermesser, statt die öde Dorfschule zu besuchen.

Alle Pfadfinder des Dorfes sowie die Schulkinder haben sich heute in einem Zelt neben der Grundschule versammelt, um der Fantasyautorin Apollonia J. brennan zu lauschen – und möglichst viele Autogramme zu ergattern. Ihren fünfbändigen Zyklus über die Verborgene Stadt der Schneekolosse kennen die Kinder in- und auswendig, weshalb sie sich allesamt verkleidet haben. Doch die Dichterin kommt nicht, denn …

Heute haben die Schneekolosse Lut und Urtgarten keine Lust, mit dem Häuptling Manach über die Kinderlosigkeit ihres Stammes zu grübeln. Vielmehr steht der Sinn der streitbaren Kerle nach einer zünftigen Jagd in der schneeweißen Wildnis, die sich rings um die Verborgene Stadt unter dem Vulkan ausdehnt. Leider verirren sich die beiden Krieger auf dem Pfad der fünf Wege und stolpern über eine Frau, die halb erfroren in einer Schneewehe steckt. Sie ahnen es nicht, aber es handelt sich um die vermisste Apollonia J. Brennan. Ein Döschen gibt den beiden „Geistesriesen“ kategorische Anweisungen, wohin sie zu gehen haben. Da sie sich sowieso verirrt haben, weiß dieses magische Ding vielleicht den richtigen Weg.

So landen sie in einer Höhle, in der sie die bewusstlose Frau ablegen können. Doch das Navi sagt, sie müssten weitergehen. Und so landen sie schließlich an der Grundschule neben dem Zelt, wo die Kinder der Lesung harren. Die Lehrerin ist entzückt über die beiden „Schauspieler“, die so richtig authentisch aussehen, und schickt sie sofort zu den Kindern. Im Zelt erblicken Lut und Urtgarten erstmals in ihrem Leben das, was Chef Manach mit „Kindern“ gemeint hat. Sie hätten aber nicht erwartet, dass die Kinder sie sofort wiedererkennen würden …

Antonello wird von Signora Lolli, der Mutter seiner Freundin Leila, zur Lesung mitgenommen. Wegen einer Reifenpanne kommen sie zu spät. Als sie eintreffen, ist es aber im Zelt merkwürdig still. Alle 28 Kinder sind verschwunden! Antonello belauscht heimlich, wie der Bürgermeister diese peinliche Sache verschweigen will. Also muss er selbst etwas unternehmen.

In der Kneipe bespricht er sich mit seinem Bruder Michele, der Försterin Rebecca und dem „Meister“, einem Mordskerl von einem Klempner, der aber über 7000 Bücher gelesen haben soll. Als Beweis, dass er sie nicht beschwindelt, legt er ihnen die schwere Gürtelschnalle vor, die aus purem, schwerem Gold besteht.

Der „Meister“ verkündet, er glaube ihm. Denn schließlich sei heute der 2. Februar, von dem allgemein bekannt sei, dass sich an diesem Tag die Welten berühren – in einem Dimensionstor wie der Höhle. Aber was nun zu tun sei, wisse er auch nicht. Denn selbst wenn die Schneekolosse real sind, wie könnte man ihnen denn folgen?

Da fällt Antonello jemand ein, der absolut alles über das Volk von Tarkaan weiß, weil dieser jemand nämlich sämtliche fünf Bände in- und auswendig kennt: seine Freundin Leila. Allerdings liegt Signora Lollis Töchterlein mit Grippe fieberkrank darnieder. Sie kommt also als Führerin nicht in Frage. Aber wozu gibt es schließlich Apollonia J. Brennans Bücher? Nur Leila weiß, wie man den Entführern in ihre Welt folgen kann.

Nun muss Antonello, während er die Treppe zu ihrem Mädchenzimmer emporsteigt, ganz, ganz tapfer sein. Denn ihr Zimmer ist ein Albtraum aus Rosa, Pink und Plüsch.

Doch wie konnte Apollonia J. Brennan überhaupt in die Welt ihrer Schöpfung geraten? Wurde sie mit Magie dorthin gerufen? Die Antwort auf diese Frage könnte über das Schicksal beider Welten entscheiden.

_Mein Eindruck_

Die Search & Rescue-Mission Antonellos gestaltet sich natürlich wesentlich abwechslungsreicher, als er erwartet hat. Da gibt es schließlich noch einen Drachen unter dem Vulkan und jede Menge Schneekolosse in der Verborgenen Stadt. Aber ein cleverer Junge namens Giacomo hat sich dort bereits eine gute Stellung erobert – mit Hilfe seiner Kenntnisse über eben diese Schöpfung.

|Der Schamane auf Abwegen|

Giacomo hat den listigen Schamanen Singendes Herz darauf aufmerksam gemacht, dass jemand bereits die Zukunft von Tarkaan kennt – Miss Brennan nämlich. Und dass diese höchstwahrscheinlich im sechsten Band der Serie bereits festgelegt worden ist. Doch wo befindet sich dieser sechste Band bzw. dessen Manuskript? Das kann ja nur in Brennans Auto sein, und dieses befindet sich noch im Bergdorf. Also macht sich Singendes Herz, der aus gewissen Gründen nach der absoluten Herrschaft über Tarkaan strebt, auf den Weg in unsere Welt, begleitet von den Kolossen Urtgarten und Lut. Es kommt zu weiteren Verwicklungen …

Wie man sieht, bietet der routinierte und einfallsreiche Autor Baccalario hier eine komplexe und wendungsreiche Handlung, die jeden jungen Leser bestens unterhalten dürfte. Es gibt immer wieder witzige, mitunter aber auch platte Äußerungen der Kinder, die da plötzlich unter die Schneeriesen gefallen sind. Bei diesem Culture Clash machen sich die „Prinzessinnen“ und „der Samurai“ vor Todesangst fast ins Hemd, was man aber gut verstehen kann. Das fand ich etwas peinlich und klischeehaft.

|Realität vs. Fiktion|

Denn der Pfiff der ganzen Handlung ist ja der, dass die von den Büchern begeisterten Kinder auf einmal mit der REALITÄT der FIKTION konfrontiert werden. Und das ist natürlich, wie sie erfahren, etwas völlig anderes als nur die Textversion, die die VORSTELLUNG davon vermittelt. Baccalario ist ein schlauer Fuchs, indem er hier auf unterhaltsame – und für die meisten jungen Leseratten nicht durchschaubare – Weise die Leseerfahrung mit der Real-Erfahrung konfrontiert.

Dabei erweist sich, wer wahrhaft einen starken Charakter hat. Leider schneiden die meisten Mädchen bei dieser Konfrontation nicht besonders glorreich ab. Nur Raffaella, auf die es Giacomo abgesehen hat, vermag eine wichtige Rolle zu spielen: Sie enthüllt Chef Machan die Machenschaften seines Schamanen. Auf diese Weise ändert sie das Schicksal der Kolosse – und das der entführten Kinder.

Dass Apollonia J. Brennan in ihrer eigenen Schöpfung erwacht, hat natürlich ebenfalls Folgen. Allerdings bekommt sie genau dann einen Schreikrampf, als der Moment am ungünstigsten ist. Ein listiger Dieb, der eine Nebenrolle spielt, versetzt sie sofort wieder ins Land der Träume. Aus diesen Träumen erwacht sie erst wieder, nachdem sie ins Bergdorf, wohin sie ja ursprünglich wollte, zurückgebracht worden ist.

|Monster|

Monster aus der Anderwelt – die gibt es natürlich auch. Denn unsere schlimmsten Albträume werden ja auch zu Fiktionen verarbeitet. Solch ein Garn könnte ich mir durchaus auch von Stephen King vorstellen. Im vorliegenden Buch handelt es sich um einen Schneekraken, und um den zur Strecke zu bringen, braucht es wahre Helden. Wer hätte gedacht, dass in Marky, dem Klempner-Bücherwurm, so einer steckt?

|Der Sinn des Lesens|

Unter anderem behandelt das Buch auch die Frage nach dem Sinn des Lesens überhaupt. Macht Viel-Lesen eigentlich schlauer, insbesondere bei Fantasy? Nur wenn man, wie Giacomo, in der erlesenen Welt landet und alles darüber weiß. Dann erlangt man Macht darüber. Allerdings weist Giacomo, der aufstrebende Hilfsschamane, in Raffaellas Augen einen wesentlichen Fehler auf: Was Menschen und besonders Mädchen angeht, ist er ein völliger Trottel.

Aber eigentlich geht es nicht ums Lesen, sondern um das Erfahren und Erleben von Geschichten. Damit kann sich Antonello, der Bücherhasser, durchaus anfreunden. Und Marky ist genau der Richtige, um ihm Geschichten zu erzählen. Apollonia J. Brennan jedoch ist erstmal vom Geschichtenerzählen kuriert. Und wer wissen will, was aus dem fiesen Schamanen geworden ist, der sollte das Buch selbst lesen.

_Die Übersetzung _

Die Übersetzerin Ulrike Schimming erledigt ihren Job über weite Strecken hinweg einwandfrei, aber mir fielen ein paar merkwürdige Formulierungen auf.

Seite 41: „Der Hirsch wogte bedächtig das Geweih.“ Etwas stimmt daran nicht, aber was? Wenn etwas „wogt“, dann handelt es sich in der Regel um eine Welle. Also kann eigentlich nur „wiegen“ gemeint sein, und dieses Wort hat viele Bedeutungen, unter anderem „mit dem Kopf wiegen“, im Sinne von hin und her bewegen wie bei einer Schaukel (daher auch das Wort „Wiege“). Die Vergangenheitsform von „Wiegen“ ist „wog“.

S. 83: Statt „das ward ihr“, müsste es korrekt „das wart ihr“ heißen.

S. 94: „Statt „Dikussionen“ müsste es „Diskussionen“ heißen.

S. 137: „es sah nicht so auf, als ob“. Statt „auf“ sollte es „aus“ heißen.

Danach machte mir das Buch so viel Spaß, dass ich wahrscheinlich alle weiteren Fehler überlesen habe.

_Unterm Strich_

Dieses nette Abenteuerbuch mit doppeltem Boden lässt sich sicherlich in nur einem Tag lesen; ich brauchte mehrere dazu. Denn so richtig umwerfend ist es ja nicht; dazu ist die Story zu vielschichtig und mit drei verschiedenen Handlungssträngen erzählt. Aber es ist gerade die Vielschichtigkeit, die mich zu interessieren begann und die den Reiz des Buches ausmacht.

Kurz gesagt, konfrontiert das Aufeinanderprallen von Tarkaan und Italien beide Seiten mit einer Art Culture Clash. Dabei werden die jungen Leser des Fantasyzyklus von Fallenden Stern gezwungen, ihre romantischen Vorstellungen mit der wesentlich härteren Realität Tarkaans zu vergleichen. Die meisten von ihnen wollen nie wieder dorthin.

Aber einer will gar nicht mehr aus Tarkaan weg: Giacomo. Und daran ist nicht Raffaella schuld, sondern seine Gier nach Macht. In Tarkaan stellt er etwas dar, in Italien ist er ein Nobody. Das ist also einer der Gründe zu lesen: Man kann ein anderer sein, jemand, der besser, tapferer, schöner, mächtiger oder sonst was sein. Das ist Okay, solange es nicht für immer ist.

Denn es gibt Gesetze für das Aufeinanderprallen von Welten im Multiversum, und die dürfen nicht gebrochen werden, oder es hat böse Folgen. Heißt es zumindest. Deshalb muss Giacomo unbedingt wieder binnen 24 Stunden nach Hause, ebenso wie der Rest der Kinder und der Schneekolosse. Diese Gesetze gelten aber wohl nicht für Katzen. Diese spezielle Katze wandert, nachdem sie ihre Dienste zum Wohle der Magie geleistet hat, mit einem gewissen Dieb durch Tarkaan. Fortsetzung folgt?

Die Moral von der Geschicht‘: Lesen nützt, aber nicht weil man ein anderer sein kann, sondern um eine Geschichte zu erfahren, von der man etwas lernen kann. Und diese Lektion macht das eigene Leben reicher. Das lernt auch schließlich Antonello, der Bücherhasser.

|Gebunden, 352 Seiten
Originaltitel: Il popolo di Tarkaan, 2009
Aus dem Italienischen von Ulrike Schimming
ISBN-13: 978-3815751374|

_Pierdomenico Barccalario bei |Buchwurm.info|:_
[„Century 1: Der Ring des Feuers“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6001
[„Century 1: Der Ring des Feuers“ (Lesung)]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6041

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