Barceló, Elia – Töchter des Schweigens

Im Sommer 1974 ist etwas passiert, das das Leben von sieben jungen Mädchen für immer verändert hat. Mit 18 haben sie auf ihrer Klassenfahrt etwas erlebt, das ihr Leben seitdem bestimmt und in ganz andere Bahnen gelenkt hat. Keine der sieben Frauen kann vergessen, was geschehen ist, und 33 Jahre später holt die Vergangenheit sie wieder ein. Zwei von ihnen haben kurz danach das Land verlassen und sich ein neues Leben aufgebaut, 2007 treffen sie sich erstmals alle wieder. Eine der sieben Frauen ist auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen – zunächst sieht es aus, als habe Lena sich die Pulsadern aufgeschnitten, doch wie konnte dann die Rasierklinge verschwinden? Wer profitiert von Lenas Tod? Und wieso hat jemand Spuren ausgelegt, die Rita als Schuldige dastehen lassen?

Rita, Lena, Teresa, Sole, Candela, Carmen und Ana waren einst unzertrennlich, sie haben den Rest ihrer Schulzeit gemeinsam verlebt und hatten große Pläne für die Zeit nach dem Abitur. In Valencia wollten sie studieren und dort ihre Freiheit genießen, doch dann kommt die Klassenfahrt nach Mallorca dazwischen, die alles über den Haufen wirft. Doch was ist auf dieser Fahrt geschehen, das sich dermaßen ins Gedächtnis der Frauen eingebrannt hat? Manch eine der Freundinnen hat daraufhin einen ganz anderen Weg eingeschlagen, etwas anderes studiert oder sich in die Ehe geflüchtet. Bei ihrem Wiedersehen 2007 versuchen sie, das Erlebte aufzuarbeiten. Erstmals gestehen sie sich, welche Wendungen ihr Leben genommen hat und welche Probleme sie schon damals 1974 gehabt haben, von denen manchmal nicht einmal ihre besten Freundinnen etwas geahnt hatten.

_Wendepunkt_

Das Buch beginnt im Juni 2007, wo die berühmte Filmregisseurin Rita Montero ihre Freundin Lena besuchen will, die Wohnungstür aber offen vorfindet. Als sie die Wohnung betritt, kommt ihr schon alles sehr merkwürdig vor. Langsam tastet sie sich von Zimmer zu Zimmer vor – bis sie Lena im Badezimmer findet. Sie liegt tot in der Badewanne, die Pulsadern aufgeschnitten. Rita erinnert sich zurück, denn schon einmal hat sie Lena mit aufgeschnittenen Pulsadern gefunden – nur winzige Narben an den Handgelenken zeugten noch von dieser Tat. Doch dieses Mal ist Lena wirklich tot, und dabei hatte sie Rita doch zu einem Abendessen eingeladen, um ihr etwas Wichtiges zu sagen. Die fertige Suppe steht noch auf dem Tisch. Was ist in Lenas Wohnung geschehen? Die Polizei ahnt schnell, dass Lena ermordet wurde, schließlich fehlt von der Rasierklinge jede Spur. Und Rita Montero hat eindeutig etwas zu verbergen – nur was?

Doch nicht nur Rita hat einiges auf dem Herzen. Zu dem Wiedersehen mit ihren ehemaligen Freundinnen, die sie seit über 30 Jahren nicht mehr gesehen hat, hat sie als seelisch-moralische Unterstützung ihre persönliche Assistentin und Lebensgefährtin Ingrid mitgebracht, doch Ingrid ahnt nichts von den Erlebnissen des Sommers 1974, denn keine der Freundinnen hat je über das Erlebte gesprochen. Lena war die Erste, die zu dem stehen wollte, was sie damals gesehen und erlebt hat.

Aber alle anderen Freundinnen haben auch ihr Päcklein zu tragen: Sole ist in eine Diplomatenehe geflüchtet, die sie nach Kuba geführt hat. Glücklich ist sie nicht, weiß sie doch von der Affäre ihres Mannes. Zudem hat ihr eigener Onkel ihr einst die Unschuld geraubt. Carmen hat immer noch nicht verwunden, dass sie damals nicht studieren konnte, weil sie ungewollt schwanger geworden ist. Ihre erste Ehe ist gescheitert, die zweite auch, und nun hat sie eine eher unglückliche Affäre mit einem verheirateten Mann. Candela hat nie geheiratet, hatte aber die eine oder andere Beziehung, doch keine der Freundinnen hat jemals geahnt, dass Candela gar nicht auf Männer steht. Und nur eine von ihnen weiß, dass Candela schwer krank ist und nicht mehr lange zu leben hat. Doch vorher möchte sie noch ihre einzig wahre Liebe zurückerobern, die 1974 ein so plötzliches und schmerzhaftes Ende gefunden hat.

_Fragezeichen_

Elia Barceló schafft das nahezu Unmögliche: Von der ersten Seite an hatte sie mich gepackt. Schon im ersten Kapitel legt sie Spuren aus, die unweigerlich ins Jahr 1974 führen, in dem etwas schier Unglaubliches passiert sein muss. Doch nur nach und nach erzählt sie vom Sommer 1974, in dem die sieben Mädchen Abitur gemacht haben. Parallel erzählt uns Barceló die Lebensgeschichte der sieben Frauen, berichtet wie sich das Leben jeder einzelnen unweigerlich verändert hat, welche Sorgen und Nöte die jungen Mädchen hatten und worüber sie sich jetzt im Jahr 2007 sorgen. Keine der sieben hatte ein leichtes Leben, jede hat nicht nur die Last der Schuld zu tragen, sondern jede Einzelne hat unglückliche Beziehungen hinter sich, gescheiterte Ehen, Familientragödien oder Ähnliches. Auf leider nur 422 Seiten eröffnet sich uns ein ganzes Universum von Lebensgeschichten bzw. -tragödien. Elia Barceló beweist dabei auf jeder einzelnen Seite, dass sie eine wunderbare und sehr geschickte Erzählerin ist. In farbenfrohen Worten schildert sie uns, was jede der sieben Frauen erlebt hat und macht uns dabei zu einer achten Freundin, die alles hautnah miterlebt und zu jeder der Frauen eine innige Beziehung aufbaut, weil man mit jeder Einzelnen mitleidet.

Die erzählte Geschichte baut dabei immer Faszination auf, man wird beim Lesen immer weiter in die Geschehnisse verstrickt und fiebert auf die Auflösung, die selbstverständlich erst wenige Seiten vor Schluss kommt. Elia Barceló spitzt ihre Erzählung dabei immer weiter zu, springt von der Gegenwart in die Vergangenheit und an einer besonders spannenden Stelle wieder zurück, um ihre Leser immer mehr gefangen zu nehmen und nicht wieder los zu lassen. Der Spannungsbogen setzt bereits im ersten Kapitel ein, in dem wir von Lenas Tod erfahren, und auch schnell klar wird, dass in dem Leben der sieben Freundinnen etwas ganz Entscheidendes geschehen sein muss. Langsam aber sicher steigt die Spannung immer weiter an, je mehr man sich den entscheidenden Ereignissen des Sommers 1974 nähert.

Auch sprachlich braucht Barceló sich nicht zu verstecken, sie ist eine großartige Erzählerin, nicht nur wegen der gelungenen und authentischen Charaktere oder wegen der Faszination, die die Geschichte entwickelt, sondern auch wegen der wunderbaren Worte, die Barceló wählt, um ihre Geschichte zu erzählen. Es ist zwar eine leicht verständliche Sprache, doch schmückt Barceló wunderbar aus und lässt damit farbenfrohe Bilder von dem inneren Auge ihrer Leser entstehen. Stets ist man ganz nah dabei, hat alles vor Augen und versinkt förmlich in der Welt der sieben Freundinnen.

Nur eins könnte man Elia Barceló ankreiden und zwar, dass sie es ihren Leserinnen nicht ganz leicht macht. Zwar verrät uns jedes Kapitel, in welchem Jahr und in welchem Monat es spielt, doch da die Ereignisse sehr nah beieinanderliegen und Barceló immer wieder hin und her springt, ist es nicht ganz leicht nachzuvollziehen, an welcher Stelle genau wir uns wiederfinden. Mal ist Lena beispielsweise schon tot, dann wiederum springen wir zu einem kleinen Fest zurück, an dem sie noch gelebt hat. All dies geschah im Mai 2007, sodass man sich erst neu einlesen muss, um herauszufinden, ob wir uns vor den bisherigen Ereignissen befinden oder ob wir wirklich in der Gegenwart gelandet sind. Hätte Elia Barceló den genauen Tag dazugeschrieben, wäre es deutlich leichter gewesen, sich zurechtzufinden.

_Faszination_

Was Elia Barceló mit „Töchter des Schweigens“ abgeliefert hat, ist ganz großes Kino! Von der ersten Seite an schafft sie es, ihre Leser mitzureißen, in dem sie früh ihren Spannungsbogen ansetzt und von da an kontinuierlich ansteigen lässt, bis die Nerven jedes einzelnen Lesers bis zum Zerreißen gespannt sein dürften. Ihre Geschichte birgt eine unglaubliche Faszination – wegen der authentischen und sympathischen Charaktere und vor allem auch, weil man einfach wissen _muss_, was 1974 geschehen ist, das das Leben von sieben jungen Frauen derart durcheinandergewirbelt hat. Und so viel sei verraten: Es ist wirklich etwas Schreckliches, das vorgefallen ist, etwas mit dem der Leser nicht gerechnet hätte und das einen trifft wie ein Faustschlag direkt in den Magen. „Töchter des Schweigens“ überzeugt erzählerisch auf ganzer Linie und wird einen ganz besonderen Platz in meinem Bücherregal einnehmen, denn dieses Buch habe ich mit Sicherheit nicht zum letzten Mal gelesen. Selten hat mich ein Buch so sehr mitgerissen und mich beeindruckt wie dieses, daher kann ich es uneingeschränkt weiterempfehlen!

|Hardcover: 432 Seiten
Originaltitel: Las largas sombras
ISBN-13: 978-3866122666|
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