Barclay, James – verlorene Reich, Das (Die Kinder von Estorea 1)

„Das verlorene Reich“ ist ein beunruhigendes Buch. Beängstigend deshalb, weil die Zeit nach seiner Raben-Saga mit riesiger Leere gefüllt war und seither keine Fantasy-Story mehr mit solch fesselnden Charakteren besetzt werden konnte. Beunruhigend schließlich auch, weil die Befürchtung vor Erscheinen dieses Bandes bestand, dass Barclay an seinem eigenen Schaffenswerk scheitern und die immensen Erwartungshaltungen seiner Leserschaft nicht befriedigen könnte. Und zu guter Letzt auch deswegen, weil trotz allem der Verdacht im Raume stand, dass es dem britischen Autor gelingen könnte, für weitere zahllose schlaflose Nächte zu sorgen, weil man völlig in seinen neuen Geschichten versunken ist.

Mit dem ersten Band seines neuen Zyklus „Die Kinder von Estorea“ stellt er nun sich, vor allem aber seine zahlreichen Fans vor eine harte Probe. Doch Barclay wäre schließlich nicht Barclay, könnte er nicht auch diese schwierige Aufgabe mit Bravour bewältigen.

_Story_

Seit nunmehr 850 Jahren breitet sich die estoreanische Konkordanz kontinuierlich aus und führt ihren Glauben mit zielgerichteten Eroberungszügen durch die gesamte Welt. Advokatin Herine del Aglios, die aktuelle Machthaberin, strebt auch nach den erfolgreichsten Jahren in der Geschichte des Imperiums nach einer Erweiterung ihres Reiches, während Kanzlerin Felice Koroyan zugleich jederzeit bereit ist, Ketzerei und mangelnde Glaubensbereitschaft innerhalb der Grenzen der Konkordanz hart zu bestrafen.

In diesen Zeiten wachsen in der Provinz Westfallen vier junge Menschen auf, die den Prophezeiungen nach über ganz besondere Fähigkeiten verfügen und endlich die Bewegung des Aufstiegs an ihr Ziel bringen sollen. In der Obhut von Ardol Kessian, dem Vater des Aufstiegs, werden sie ausgebildet, gleichzeitig aber auch vor allen äußeren Einflüssen geschützt, um ihre Fähigkeiten reifen zu lassen und nicht vorzeitig vom Orden der Kanzlerin entdeckt zu werden. Lange Jahre bleiben sie im ländlichen Westfallen verborgen, bis der diplomatische Schatzkanzler Jhered der Provinz einen Besuch abstattet. Dessen Stillschweigen bringt die Kanzlerin auf den Plan und soll die Zukunft der Kinder von Estorea für immer verändern.

Herine del Aglios wird ebenfalls von den Entwicklungen in Westfallen in Kenntnis gesetzt, muss aber gleichzeitig an anderer Front kämpfen. Der letzte Eroberungszug der estoreanisch- atreskanischen Armee droht zu einem fürchterlichen Desaster zu werden, da die gegnerischen Truppen aus Tsard weitaus stärker sind, als man zunächst gedacht hatte. Während die eigenen Truppen zurückgeworfen werden, beginnt das Imperium zum ersten Mal zu wanken, denn um dem sicheren Tod zu entgehen, denken die Führer einst eroberter Provinzen darüber nach, ihrer Loyalität abzuschwören und sich von der Fessel der Konkordanz zu befreien …

_Persönlicher Eindruck_

„Das verlorene Reich“ ist wohl genau das, was man vom ersten Band einer epischen Saga wie dieser erwarten sollte, nämlich eine bedachte Einführung in das Handlungskonzept und das eigentliche Szenario, das jedoch selbst für eine detailverliebten Schreiber wie Barclay sehr, sehr ausführlich ausgefallen ist. Allerdings sind die Hintergründe dieses Mal auch eine ganze Spur umfassender als seinerzeit beim |Raben|. Die Geschichte der Konkordanz und ihrer kontinuierlichen Eroberung hat quantitativ weitaus mehr zu bieten als der Background der beliebten Söldnertruppe und bedarf gerade wegen der teils recht komplexen Verstrickungen detaillierter Erklärungen. Hinzu kommt, dass sich die Story zunächst nicht auf eine konkrete Personengruppe konzentriert. Zwar sind die entscheidenden Figuren im ersten Band schon klar definiert, doch da sie über ein viel größeres Feld agieren und die meisten Charakterprofile bei weitem noch nicht gefestigt sind, ist auch hier eine gezielte Einführung notwendig, um die Verstrickungen und Beziehungen besser einschätzen zu können.

Barclay indes scheint die hierbei entstehende Ruhe im Erzähltempo sichtlich zu genießen. Er ist weit entfernt vom letzten Schlachtenlärm der Rabenkrieger und geht stellenweise fast schon ein wenig selbstverliebt vor, was die Ausführlichkeit seiner Personen- und Lokalbeschreibungen angeht. Dies hat zur Folge, dass sich das Buch gerade in der ersten Hälfte ein wenig zäh liest, weil einfach noch kein festes Muster besteht und man dem eigentlichen Fokus der Story ein wenig hinterherrennt. Jedoch lässt sich dies bei einem solchen Komplex wohl einfach nicht vermeiden und sorgt folgerichtig in der zweiten Halbzeit dafür, dass die Geschichte ihre eigentliche Dynamik annimmt und man den Autor wieder in echter Höchstform erlebt.

Und dennoch ist „Das verlorene Reich“ an sich ein stiller Band und gerade deswegen für einen Auftakt ein wenig außergewöhnlich. Die Action steckt maßgeblich zurück, auch wenn hier und dort Szenen aus den aktuellen Schlachten erwähnt sind. Ferner unterliegt die Geschichte erst einmal keiner temporeichen Dramaturgie, weil sich der Autor die Zeit lässt, den Unterbau seiner Saga in aller Ausführlichkeit zu beleuchten. Aber auch die Atmosphäre lässt sich mit kaum einer anderen Geschichte vergleichen und schon gar nicht pauschal einordnen. Es ist dieses Gefühl von stiller Magie in der Luft, welches sich einfach nicht ignorieren lässt, den Barclay-Fan aber gerade auf den enorm spannenden letzten 200 Seiten wieder in seinem Enthusiasmus bestätigt.

Barclay hat es dementsprechend auch wieder gemeistert, das Publikum in seinen Bann zu schlagen. „Die Kinder von Estorea“ liefern mit diesem Band den gelungenen, vielversprechenden Auftakt einer neuen Fantasy-Saga, die zwar mit Barclays bisherigem Schaffen kaum zu vergleichen ist, aber erneut deutlich seine geniale Handschrift trägt. Fraglos kündigt sich hier eine weitere Sternstunde der literarischen Fantasy an!

|Originaltitel: Cry of the Newborn (Part 1)
Übersetzung von Jürgen Langowski
591 Seiten, kartoniert
ISBN-13: 978-3-453-52377-7|
http://www.heyne.de
http://www.theascendants.co.uk
http://www.ravengazetteer.com
http://www.jamesbarclay.com

_James Barclay auf |Buchwurm.info|:_

|Die Chroniken des Raben|:

[„Zauberbann“ 892
[„Drachenschwur“ 909
[„Schattenpfad“ 1386
[„Himmelsriss“ 1815
[„Nachtkind“ 1982
[„Elfenmagier“ 2262

|Die Legenden des Raben|:

[„Schicksalswege“ 2598
[„Elfenjagd“ 3233
[„Schattenherz“ 3520
[„Zauberkrieg“ 3952
[„Drachenlord“ 3953
[„Heldensturz“ 4916

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