Clive Barker – Im Bergland: Agonie der Städte

Tödliche Begegnung: der wandelnde Gott

Mike und Judd sind auf Hochzeitsreise durch Jugoslawien (1984 existierte dieser Staat noch). Sie fahren quer durch das Land, besichtigen Klöster, Museen und lernen Land und Leute kennen – bis sie auf einen skurrilen und zugleich tödlichen Kampf zwischen den Städten Popolac und Podujevo treffen. Es ist ein Kampf der Giganten – Giganten aus Körpern …

Der Autor

Clive Barker, 1952 in Liverpool geboren, ist der Autor von bislang zwanzig Büchern, darunter die sechs „Bücher des Blutes“. Sein erstes Buch für Kinder trägt den Titel „The Thief of Always“ (Das Haus der verschwundenen Jahre). Er ist darüber hinaus ein bekannter bildender Künstler, Filmproduzent und -regisseur („Hellraiser 1“) sowie Computerspiel-Designer.

Er lebt in Beverly Hills, Kalifornien, mit seinem Lebenspartner, dem Fotografen David Armstrong, und ihrer Tochter Nicole. Sie teilen sich das Haus mit vier Hunden, fünf Goldfischen, fünfzehn Ratten, unzähligen wilden Geckos und einem Papagei namens Malingo.

Mehr Info: www.clivebarker.com

Clive Barker bei Buchwurm.info:

„Hellraiser – Das Tor zur Hölle“
„Hellraiser“2433 (Neuauflage)
„Das erste Buch des Blutes“
„Das zweite Buch des Blutes“ (Hörbuch)
„Die Bücher des Blutes I – III“
„Die Bücher des Blutes IV – VI“
„Spiel des Verderbens“
„Ein höllischer Gast“
„Galileo“
„Abarat“

Der Sprecher

Matthias Koeberlin, geboren 1974, absolvierte die Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam. Für seine Verkörperung des Ben in „Ben & Maria – Liebe auf den zweiten Blick“ erhielt er den Günther-Strack-Fernsehpreis. Für seine Interpretation des Lübbe-Hörbuchs „Das Jesus-Video“267 wurde er für den Deutschen Hörbuchpreis des WDR (2003) nominiert. In der ProSieben-Verfilmung des Bestsellers spielte er den Stephen Foxx.

Die Musik stammt von Dennis Kassel und Dicky Hank. Regie führte Kerstin Kaiser, die Aufnahme leitete Christian Päschk.

Handlung

Mike und Judd sind zwei Engländer, die in einem klapprigen VW durch Jugoslawiens Hinterland tuckern. Judd ist Journalist und quasselt ständig von weltbewegenden Problemen, wohingegen Mick als Tanzlehrer eher an den Kunstwerken in den Klöstern der Gegend interessiert ist. Folglich ist Mick genervt und Judd angeödet. Sie brauchen Abwechslung. Nach einem Fick in den Büschen am Straßenrand geht es ihnen schon viel besser, und Mick lässt den blödsinnigen Klosterbesuch sausen. Sie ahnen nicht, dass etwas viel Interessanteres auf sie wartet.

In Popolac wartet der Schiedsrichter Vaslav Jelovec darauf, dass sein Stadtkontingent bereit zum Abmarsch ist. Heute findet wie alle zehn Jahre der Kampf gegen die Zwillingsstadt Putusevo statt. Allerdings haben die Leute aus Putusevo ihre Planerin, die alte Nita, verloren: Sie starb in hohem Alter. Doch ihre Tochter verfügt noch über nicht genügend Autorität, um die Bürger zur Eile anzutreiben. Sie sind schon spät dran und achten nicht mehr auf die Einhaltung der wichtigen Sicherheitsmaßnahmen, außerdem sind die Bürger durch Jahre der Missernten geschwächt. Für die linke Flanke Putusevos sieht es nicht gut aus … Um 9 Uhr in der Früh sind die Rümpfe fertig, und Vaslav findet, in einer Stunde könne der Kampf losgehen. Die Zuschauer strömen zum Kampfplatz, um das seltene Spektakel, das seit Jahrhunderten veranstaltet wird, zu sehen.

Unterdessen fahren Mick und Judd ins idyllische Ibartal, verirren sich dort aber, so dass Judd, der Fahrer, entscheidet, die nächste Abzweigung, egal wohin, zu nehmen. Gesagt, getan. Dieser Feldweg führt auf den Berg hinauf, durch kühlen Wald. Sie haben schon fast das Plateau erreicht, als Judd plötzlich anhält. Er meint, ein Donnern oder Dröhnen gehört zu haben. Mick, dessen Gehör durch viele Discobesuche geschädigt ist, strengt sich an – da ist es wieder: ein Donnern.

Findet hier ein Militärmanöver der Russen statt? Judd ist wie elektrisiert: Er wittert eine geile Story, die man ihm daheim aus den Händen reißen wird. Dann hört er ein markerschütterndes Kreischen, das ihm einen Schrecken einjagt. (Putusevos linke Flanke gibt nach. Der Koloss wankt. Der Gigant stürzt.) Mick und Judd steigen aus dem Auto aus und wollen der Ursache der Geräusche nachgehen. Sie hören Schreie von Sterbenden, das Getöse von Schreiens des Leidens. (Der zweite Riese, Popolac, wendet sich erschüttert von dem Schreckensbild ab und geht in die Berge, einem unbekannten Willen gehorchend, der an Irrsinn grenzt.)

Judd erinnert sich an die Hölle seiner Kindheit, in der die Schreie der Verdammten von den Wänden hallen. Dies hier ist haargenau genauso. Da sieht Mick eine rote Flutwelle den Feldweg herunterfließen. Er traut seinen Augen nicht. Dann trifft ihn der Geruch wie ein Hammer. Es muss Blut sein – und noch viel mehr. Er springt in den VW, doch statt wie verlangt den Rückwärtsgang einzulegen, fährt Judd, der Reporter, zu Micks Entsetzen vorwärts!

Sie gelangen zum Rand des Talkessels, in dem der Kampf stattfinden sollte, aber jäh unterbrochen wurde. Es ist eine Stätte des Grauens …

Mein Eindruck

„Im Bergland: Agonie der Städte“ beschwört Bilder herauf, die so archaisch und mächtig sind, dass die Erzählung noch nach zwanzig Jahren frisch in der Erinnerung weiterlebt. Das aus dem Griechischen stammende Wort „Agonie“ bedeutet „Todeskampf“, denn es ist von „agon“, dem Kampf, abgeleitet (daher auch die Begriffe Ant- bzw. Protagonist). Genau darum scheint es zunächst im Kampf der Städte zu gehen, doch im Laufe der Geschichte wird die Möglichkeit, die Utopie eines Neuanfangs sichtbar gemacht, die das schrecklichen Geschehen zu etwas Gutem wenden kann. Solange man es erkennt.

EXKURS & SPOILER

Wer wirklich ganz genau wissen möchte, wie der Kampf der Giganten funktionieren kann, der bekommt hier eine kurze Erklärung. Wer sich die Neugier erhalten will, sollte diesen Abschnitt meiden.

Mehr als 38.000 Bürger haben sich – pro Gemeinde – zu einem der Giganten zusammengeschlossen. Sie tun dies alle zehn Jahre, indem sie sich spezialisieren und die am besten Geeigneten an die optimale Stelle des Giganten platzieren. Mit Geschirren, Seilen und Zügen sind alle miteinander verbunden. Ganz oben sind die Bürger für Augen und Mund platziert, die den Weg bestimmen. Der Gigant dürfte mehrere hundert Meter hoch sein, denn seine Schrittlänge beträgt nicht weniger als etwa tausend Meter. Nachts verdunkelt die aufragende Säule aus Leibern den Sternenhimmel.

Wie genau normalerweise gekämpft wird, etwa mit Waffen, wird nicht erklärt, denn dazu kommt es ja nicht. Aber ein Zusammenprall der zwei Giganten dürfte allein schon ausreichend sein, um den Schwächeren in die Knie zu zwingen. Die Leiber, die die Haut-Zellen bilden, sind übrigens nackt, was den Anblick noch einen Tick archaischer macht: Nackt pflegten die Ringer in den Tagen der ollen Griechen und Römer gegeneinander anzutreten, und ihre Blöße verdeckten sie erst, als auch Frauen dieses Spektakel sehen wollten.

SPOILER ENDE

Das herausragende Merkmal der Giganten ist die gemeinschaftliche und gerichtete Anstrengung, die etwas weitaus Größeres vollbringen kann als eine formlose Masse aus Menschen. Nicht Chaos herrscht, sondern Ordnung, nicht Individualismus, sondern Gemeinsinn, und nicht die Libido, sondern der Wille. Normalerweise. Als der eine Gigant zusammenbricht, erfasst den Überlebenden eine Art Irrsinn angesichts dieser Katastrophe, und er torkelt ziel- und willenlos von dannen. Doch es tritt keine Auflösung ein, so stark ist der buchstäbliche Zusammenhalt der Bürger.

Es ist der fleischgewordene „homo gestalt“, den die Philosophen sich erdachten, als sie von der Übertragung eines Schwarmbewusstseins auf den Menschen träumten. (Es gibt dazu sehr schöne Science-Fiction-Romane, so etwa Theodore Sturgeons „More than human“ und John Brunners „The whole man“.)

Nun sehen sich unsere beiden schwulen englischen Loverboys einem Wunder und einem Horror gegenüber, der alles, was sie erfahren oder auch nur gedacht haben, in den Schatten stellt. Ihnen steht buchstäblich der Verstand still, und etwas anderes tritt an seine Stelle, etwas, das sie in der finalen Konfrontation mit dem Giganten unterschiedlich reagieren lässt.

Von Anfang an ist Judd, der Reporter, als Zyniker zu erkennen, der Mick nur wegen dessen gutem Aussehen mitgenommen hat. Mick hingegen ist ein Romantiker, der sich für Meisterwerke der Kunst begeistern kann, aber auch gegen einen guten Fick nichts einzuwenden hat. An diesem Unterschied entscheidet sich, wer die Begegnung mit diesem wandelnden Gemeinwesen überlebt und wer nicht. Ich verrate aber nicht, wer sich für was entscheidet.

Klein oder groß?

Von Beginn an geht es dem Autor darum, die Relativität von Größe zu thematisieren. Als sich die beiden Lover in die Büsche schlagen, heißt es in einem Nebensatz: „Da kam ein Riese des Weges“. So zumindest empfinden es die Käfer und Insekten auf dem Pfad der beiden Männer. Das ist am Morgen. Doch in der folgenden Nacht sind sie es selbst, die sich winzig wie Käfer vorkommen, als der Riese kommt und die Sterne verdunkelt: ein wandelnder Gott, der diese Menschlein nicht einmal wahrnimmt. Ganz am Schluss sind es wieder die Insekten und anderes kleine Getier, das sich an dem gefallenen Riesen gütlich tut. Nur ist es nicht der wandelnde Riese, sondern ein saftiger Engländer …

Nimmt man die wandelnden Städte als Symbole und überträgt ihre Bedeutung auf reale Städte, so lassen sich Kräfte und Gewalten denken, die diese Metropolen entweder zu ruhmreicher Größe emporwachsen lassen – aber auch welche, die sie vernichten können, und seien diese Kräfte noch so klein. Es kann sich um einen Tsunami (oder 11. September) handeln oder auch nur um Ratten und Termiten – die Wirkung ist die gleiche: Untergang.

Eine Metapher für diese Zusammenhänge hat der amerikanische Schriftsteller John Shirley bereits 1980 in seinem Stadt-Roman „Stadt geht los“ (deutsch bei Argument) erarbeitet, mit überzeugender Wirkung. Barker verlegt die Handlung in eine abgelegene Stadt und macht sie dadurch archaischer, elementarer und allgemeingültiger.

Der Sprecher

Als ausgebildeter Schauspieler weiß Koeberlin seine Stimme wirkungsvoll einzusetzen und die Sätze deutlich und richtig betont zu lesen. Auch die Aussprache aller englischen Namen und Bezeichnungen geht reibungslos vonstatten. Aber die Flexibilität seiner Stimme scheint noch relativ begrenzt zu sein. Selten sinkt die Lautstärke zu einem Flüstern herab oder erhebt sich zu einem Fauchen oder Keuchen. Die Betonung hat sich inzwischen der des Lübbe-Stammgastes David Nathan angenähert, und das tut Koeberlins Vortrag hörbar gut. Er ist wesentlich eindringlicher als noch beim „ersten Buch des Blutes“ vor eineinhalb Jahren.

Geräusche und Musik

In diesem kuriosen Ausnahmefall könnte man die Musik als Geräusch bezeichnen. Es handelt sich bei besagtem Sound um ein simples dumpfes Dröhnen, das den Schritt eines wandelnden Riesen imitiert. Es wird sehr behutsam und dosiert eingesetzt, keinesfalls melodramatisch, was ich sehr gut finde.

Im Intro und Outro ist diese tiefe – ich will es mal als „Trommel“ bezeichnen – wieder zu vernehmen. Diesmal wird sie begleitet von einer dezenten Marschtrommel und – im Ausklang – einer klagenden Violine, die, entsprechend dem Verschwinden der beiden Engländer, langsam verklingt.

Unterm Strich

Diese Erzählung des frühen Clive Barker ist für mich eine seiner stärksten Leistungen. Nicht nur relativiert er die Begriffe von Groß und Klein, sondern auch von Ich und Gemeinschaft, von Mensch und Gott, von Leben und Tod. Judd ist ein egoistischer Zyniker, doch Mick ein schöner, vielleicht naiver Romantiker. Beide reagieren unterschiedlich auf das Erscheinen des wandelnden Gottes, eines Wunders, das sowohl blutigen Schrecken erzeugt als auch in seiner Erhabenheit Ehrfurcht weckt. Beide Aspekte sind seit der Antike Merkmale des Göttlichen.

Bemerkenswert ist, dass der Riese von Menschen gemacht wurde und aus Menschen besteht. Diese Metapher hat daher sehr viele Bedeutungsebenen, die man sogar in Begriffen wie Freiheit oder Kommunismus suchen könnte. Es steckt viel drin in der Story, aber man bekommt auch sehr viel zurück. Dem ersten Höhepunkt folgt eine Pause voller Erklärungen, doch erst die zweite Begegnung bringt die eigentliche Wende.

Als wahre Helden treten hier keine schrecklichen Monstren oder Anderweltler wie die Zönobiten auf, sondern gewöhnliche Bewohner des Berglandes. Und wenn die so etwas schaffen können, dann können andere Menschen das vielleicht auch. Wenn sie es wollen.

Die Lesung ist von einer ungewöhnlichen Dezentheit und Zurückhaltung. Dabei würde sich die Story geradezu dazu anbieten, ein dramatisches Hörspiel daraus zu machen. Schließlich geht es (auch) um den Untergang einer Stadt von annähernd 40.000 Einwohnern. Aber die Wirkung in der dezenten Darstellung ist weitaus nachhaltiger, zumindest für mein Empfinden. Barker hat andere Storys in den „Büchern des Blutes“ veröffentlicht, in denen er blutigen Horror in schreienden Farben à la Grand-Guignol-Theater malt, aber „Im Bergland“ ist um einige Grade besser.

73 Minuten auf 1 CD
O-Titel: Clive Barker’s Books of Blood vol. 1, 1984
Aus dem Englischen übersetzt von Peter Kobbe
www.luebbe-audio.de

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