Peter S. Beagle – Das Zauberhaus

Den wilden Pookah zu reiten! Jennys Abenteuer mit Geistern

Als die junge Jenny dem lebhaften New York den Rücken kehrt, um fortan mit Mutter und Stiefvater im englischen Dorset zu leben, hat sie nur wenig Sinn für das vermeintlich todlangweilige Landleben. Doch das alte Herrenhaus steckt voller Geheimnisse. Eines Tages begegnet sie Tamsin, die einst als junges Mädchen starb und nun als ruheloser Geist umherirrt. Jenny ahnt, dass ein verborgener Schmerz Tamsin gefangen nimmt, und begibt sich immer tiefer in das Reich der Geister hinein … (Verlagsinfo)

Der Autor

Peter S. Beagle wurde 1939 in Manhattan geboren und wuchs in der New Yorker Bronx auf. Während seiner Zeit auf der Highschool nahm er an einem Autorenwettbewerb teil und erhielt als ersten Preis ein College-Stipendium. So verbrachte er die folgenden vier Jahre auf der Pittsburgh University.

In den siebziger Jahren schrieb er in zunehmendem Maße Drehbücher. Beagle arbeitet seither u. a. als Journalist für bekannte US-Magazine, als Songtexter und als Drehbuchautor für viele Hollywoodfilme, darunter auch für die erste Verfilmung von Tolkiens „Herr der Ringe“ (1978) von Ralph Bakshi.

„Das letzte Einhorn“ (1968, als Zeichentrick unsäglich kitschig verfilmt) ist sein bekanntestes Buch, das in Deutschland und den USA zu einem Kultroman avancierte. Die Fortsetzung trägt den Titel „Der Zauberer von Karakosk“ (Klett-Cotta), aber auch „Das Volk der Lüfte“ (1977) und „The Innkeeper’s Song“ (dt. als „Es kamen drei Damen im Abendrot“) sind herausragende Fantasy. Beagle ist sicherlich einer der herausragenden Erzähler moderner Fantasy.

_Handlung_

Jennifer Glückstein ist eine typische New Yorker Göre. Mit ihren besten Freunden geht die 13-jährige Schülerin auch schon mal einen Joint rauchen, statt in der öden High School zu büffeln. Das sieht ihre Mutter Sally gar nicht gern, eine Klavier- und Gesangslehrerin, die von Jennys Vater, dem Opernsänger Norris, geschieden ist.

Beunruhigende Dinge tun sich neuerdings. Jenny bemerkt, dass ihre Mutter glücklich ist. Und der Grund dafür taucht auch bald auf: Evan aus England, ein Agrarbiologe, den Mom kennen- und – au weia! – lieben gelernt hat. Da kommt was auf Jenny zu, und sie tröstet sich im kuscheligen Pelz ihres Lieblingskaters Mister Kater. Mister Kater ist stets obercool – außer wenn er verliebt ist.

Doch das Unvermeidliche nimmt seinen Lauf: Sally ist so glücklich mit Evan, dass sie ihn heiraten und zu ihm nach London ziehen will. Das versetzt Jenny in Panik. Manhattan verlassen, ihre Freunde, ihre Schule, um auf der anderen Seite der Welt zu leben, bis an ihr Lebensende?! Noch dazu mit zwei Stiefbrüdern! Doch selbst ihr leiblicher Vater Norris lässt nicht zu, dass sie bei ihm einzieht und ihm den Haushalt macht. Sie solle diese einmalige Chance beim Schopf ergreifen, findet er. Nicht zu fassen. Nur Mister Kater kann sie trösten.

Die Realität des Umzugs manifestiert sich auch darin, dass Jenny für ihre Lieblingskatze alle Formalitäten für das britische Tierschutzministerium MAFF erledigt. Der edle Kater muss für einen Monat in Quarantäne, wie es das Gesetz verlangt. Doch dann kommt die Nachricht, dass es nicht ein Monat, sondern sechs Monate sein müssen. Die Katze soll wenigstens ins beste Tierheim, dass es westlich von London gibt, beschließt Jenny. Denn Evan wird nicht in London, sondern in Dorset leben. Dort soll er eine alte Farm wiederaufbauen. Evan ist in Ordnung.

|London|

Jenny ist kein Fan großer Feiern. Während Sally sich nach der formlosen Heirat von allen verabschiedet, hängt sie mit ihren Freunden rum und zieht Joints rein. Nach dem Flug logiert sie wenigstens in einem großen Hotel in der Innenstadt, von wo sie Londons Sehenswürdigkeiten erkunden kann. Sie lernt ihre zwei Stiefbrüder kennen. Julian ist ein zehnjähriges Mathegenie, das Jenny sofort adoptiert. Doch Jennys Herz klopft für den 16-jährigen Tony, der Tänzer werden will. Ein Tänzer, hach!

|Das Gutshaus|

Die Farm, die Evan für ein Oxforder Ehepaar wiederaufbauen soll, liegt ganz weit draußen. Im Herrenhaus sollen sie wohnen, doch es erweist sich als verwahrlost. Und es hat seine Mucken. So gibt es etwa eine kalte Stelle gleich hinterm Eingang, die die Kinder den „Polarkreis“ taufen. Kühlschränke fallen laufend aus, ebenso die Kabel der Stromleitungen, und sogar der Elektroherd. Angeblich wehrt sich das alte Haus gegen Elektrizität, meint der Verwalter. Blödsinn, findet Sally und krempelt die Ärmel auf, um zuzupacken.

Evan hat schon auf der Fahrt hierher von Geister, Kobolden und boshaften Boggarts erzählen. Lauter Flunkereien, oder? Da ist sich Jenny bald nicht mehr so sicher, denn sie hört Stimmen, und es sind nicht die von Evan und Mom nebenan. Sie vermisst Herrn Kater schrecklich. Julian schenkt ihr sogar seine Lieblingspuppe, um sie zu trösten: einen Gorilla. Und ihre neue Schulfreundin Meena Chari, von indischer Abstammung, sagt ihr, dass in Indien Geister überall seien, vor allem Poltergeister. Meena kann Jenny alles erzählen. Und für sie schreibt sie diese Geschichte.

|Geisterkatze|

Nach sechs langen Monaten darf Jenny endlich Herrn Kater aus dem Tierheim abholen, zusammen mit Meena. Herr Kater ist zunächst höchst misstrauisch seinem neuen Territorium gegenüber. Und auch er traut sich erst nicht in den zweiten Stock, dessen Zugang völlig verrammelt ist. Offenbar ist er sehr empfindsam für gewisse Schwingungen. Doch dann verschwindet er dort. Und kehrt eines Nachts mit einer Katze zurück. Sie ist flauschig, weiß – und halb durchsichtig. Doch Fräulein Flauschig ist erst der Anfang der Erscheinungen.

|Boggart und Tamsin|

Jennys Träume in diesem Haus sind nicht gerade angenehm. Immer wieder sieht sie einen bösen gelben Blick auf sich gerichtet. Wenigstens tagsüber muss sie nicht daran denken: Die Kinder beschließen, den Boggart zu fangen, der ihnen ständig Streiche spielt. Doch wie fängt man einen Geist? Es ist einfacher, als sie gedacht haben, und die beiden Katzen helfen ihnen dabei …

Der Boggart-Kobold gibt endlich Ruhe, deshalb kann sich Jenny entspannt der Suche nach der Herrin der Geisterkatze widmen. Zusammen mit Herrn Kater führt diese unsere Heldin in den gefürchteten zweiten Stock. Durch eine Geheimtür gelangt Jenny in das verborgene Zimmer, das zwar im Bauplan eingezeichnet ist, das aber nie zu finden war – und dessen Fenster auch nie erleuchtet ist. Hier lebt Tamsin.

Tamsin Willoughby, die Tochter des Erbauers, ist ebenfalls ein Geist. Sie starb vor rund 300 Jahren mit 20 an einer Art Lungenentzündung. Doch warum ist sie immer noch hier im Haus und nicht schon längst im Jenseits? Schnell werden die beiden Mädchen Freundinnen, doch Jenny möchte zu gerne Tamsins dunkles Geheimnis kennenlernen – und schwört damit eine große Gefahr herauf …

_Mein Eindruck_

Oh ja, es gibt jede Menge Geister auf der Stourhead-Farm, aber sie sind keineswegs alle von gleicher Natur. Während der Boggart ein natürliches Daseinsrecht hat, hält sich Tamsin aus einem ganz anderen Grund hier auf: sie ist eine unerlöste Seele. Und bei weitem nicht die einzige, wie Jenny herausfindet.

Auch Jenny ist eine Detektivin des herzens, denn es tut ihr in der Seele weh, wenn andere Menschen leiden müssen, noch dazu unverschuldet. Auf eigene Gefahr freundet sie sich mit Tamsin an, genau wie es schon mit Meena Chari getan hat. Beide sind für die New Yorkerin Jenny zwar fremdartig, aber das ist ja in New York City nichts Besonderes. Nein, was Jennys Seelenschwester Tamsin so eigenartig macht, ist ihr Schicksal.

|Die Vorgeschichte|

Die Erforschung und Beendigung dieses Schicksals ist der Gegenstand dieser Geschichte. Die Grundbedingung zur Lösung des Rätsels von Tamsin Anwesenheit seit 300 Jahren ist Informationen zu sammeln über Monmouths Rebellion von 1685. Ohne in Details gehen zu wollen, sei nur gesagt, dass Tamsin und ihre Familie indirekt involviert waren: Edric Davies, der junge Mann, der sie liebte, war ihr Porträtmaler, und der junge Klavierspieler in ihrem Elternhaus schloss sich den Rebellen an.

Die Vergeltung des Königs war furchtbar. Sein Racheengel war Richter Jeffreys. Trotz seines hübschen Gesichts, das Jenny im Museum entdeckt, ließ er jeden Verdächtigen, ob Mann, Frau oder Kind, auf grausamste Weise hinrichten, bis die Landstraßen vor Leichengestank unpassierbar wurden.

Auch jenes von Edric gefertigte Porträt von Tamsin entdeckt Jenny. Es hat einen gravierenden Schönheitsfehler: Richter Jeffreys‘ Gesicht spiegelt sich in einem Kelch. Während in Jenny ein furchtbarer Verdacht aufsteigt, so liegt die Verbindung doch nahe: Der Richter bemühte sich um Tamsins Gunst. Und niemand konnte es sich leisten, ihn abzuweisen. Hat er ihr wehgetan? Ja, aber nicht im üblichen Sinne, sondern indem er Edric entfernte. Er tat dies auf eine besondere Weise, die noch heute ihren Schatten wirft …

|Warnungen|

Viele Naturgeister warnen Jenny vor dem, was sie tut. Der Boggart will sie vertreiben. Der Billy-blind gibt ihr einen guten Rat. Der Schwarze Tod ist ein böses Omen vor Unheil. Und der Pooka schließlich, der sich in jedes Wesen verwandeln kann, redet eindringlich mit ihr vor jenem Anderen, der hinter Tamsin lauert. Man kann jedoch drauf wetten, dass sich Jenny einen feuchten Kehricht um solche Warnungen schert. Hätte sie es nur getan!

Denn mit wachsenden Vorahnungen merkt der Leser (im Gegensatz zu unserer Heldin), dass sich Tamsins Schicksal schon bald entscheiden muss. Die entscheidende Phase ist erreicht, als der Geist des Richters Tamsins Geist auflauert – und schließlich Erfolg hat. Er begehrt sie immer noch für sich und will sie in sich aufnehmen. Nur Jenny kann ihre Seelenschwester vor diesem Unglück bewahren. Allerdings hat sie keine Chance gegen substanzlose Geister, oder? Da erhält sie Beistand von unerwarteter Seite …

|Expedition in die Vergangenheit|

Durch die dramatische Entwicklung von Jennys und Tamsins Schicksal wird Jenny, die uns diese Geschichte mit etwa 20 Jahren erzählt, nicht nur ein gutes Stück erwachsener. Sie weiß nun, dass das Leben nicht bloß Spaß und Befriedigung ist. Nein, sie hat in der Fremde auch tiefe Wurzeln geschlagen – etwas, was sie zu Anfang nie für möglich gehalten hätte. Und so werden ihre Stiefbrüder zur engen Familie.

Durch das Bindeglied Tamsin findet Jenny einen Zugang zur tiefen Geschichte dieses Landes. In der skurrilsten Szene der Geschichte wankt Jenny durch Panoramen von unbekannten Geisterbergen und Geisterlandschaften, die keiner außer ihr und Tamsin sehen kann. Kein Wunder, dass alle anderen sie etwas sonderbar finden.

Aber sie hat das Tor zu einer fernen Vergangenheit aufgestoßen, in der es in dieser Gegend noch nicht einmal Menschen gab. Und das ist schon eine ganze Weile her. Aber das Ereignis vermittelt Jenny, die Amerikanerin, dass die Welt viel älter ist, als sie je geahnt hat. Es ist nur folgerichtig, dass sie später Geschichte studiert.

Das einzig wirklich Verwunderliche ist der Umstand, dass Jennys Umgebung so wenig von all diesen Wundern mitbekommt. Julian checkt noch am meisten davon, doch Tony, Evan und Sally bekommen herzlich wenig mit. Herr Kater ist natürlich mitten im Reigen der Geschehnisse, lässt sich aber in seiner Coolness möglichst wenig anmerken.

_Die Übersetzung_

Dass der Übersetzer Andreas Brandhorst in der obersten Liga spielt, machen nicht nur seine zahllosen Übersetzungen von Terry Pratchetts Büchern deutlich, sondern auch der vorliegende Roman. Mit großer Einfühlsamkeit wählt er immer das passende Wort für die Seelenlage unserer Heldin.

Das einzige Detail, das mich störte, war die fehlenden Endungen, die immer wieder auftauchten. So etwa auf Seite 326: “ …hauchte mir eine[n] Kuss zu.“ Solche fehlenden Buchstaben gibt es zum Glück nicht allzu häufig.

_Unterm Strich_

Ich würde diese spannende Geistergeschichte nicht jedem Kind in die Hand drücken. Zum einen sind Geister als solche in der Regel Zeugen einer Tragödie. Zu deren Verstehen ist eine gewisse Auffassungsgabe erforderlich. Zum Zweiten schildert das Buch ein Netz von Beziehungen, das seine Entsprechung in der Dreiecksgeschichte vor 300 Jahren findet. Auch dafür ist eine gewisse Offenheit seitens des Lesers nötig.

Obwohl Jenny und Tamsin weibliche Hauptfiguren sind, dürften auch Jungs sich für ihr schauriges wie spannendes Schicksal interessieren können. Der Autor hat Geister und Tote schon in seinem Debütroman „He, Rebeck!“ auftreten lassen, doch hier hat er dieses Thema für Jugendliche aufbereitet.

Viele skurrile Phänomene wie Boggart, Pooka und Billy-blind treten auf, und schließlich darf Jenny sogar den Pooka reiten, ein Akt, vor dem sie ebenfalls unzählige male gewarnt worden ist, denn der Pooka werfe seine Reiter am liebsten in die schlimmsten Dornengestrüppe ab, heißt es. Doch um den Showdown rechtzeitig zu erreichen, braucht unsere Heldin das schnellste Transportmittel, das sie finden kann, und was wäre schneller als ein Geisterpferd?

|Die Aufmachung|

Wie man sieht, ist das Buch voller geheimnisvoller, anrührender und spannender Ereignisse. Der Verlag hat versucht, den jungen Leser durch die verniedlichende Buchaufmachung NICHT abzuschrecken. Weder wird im Haus gezaubert, noch tauchen ein Drache oder gar eine Rose auf. Das einzige zutreffende Detail sind die geisterhaften Überlagerungen von Mauerwerk und Wald.

Taschenbuch: 360 Seiten
Originaltitel: Tamsin (1999)
Aus dem US-Englischen von Andreas Brandhorst
ISBN-13: 978-3492265362

www.piper.de

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

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