Beckett, Simon – Obsession (Lesung)

_Die Entdeckung der Anderen: Grauen und Erotik_

Als seine Frau plötzlich stirbt, ist Ben Murray am Boden zerstört. Allein Sarahs autistischer Sohn Jacob spendet ihm Trost. Aber als er die Schränke der Verblichenen ausräumt, macht Ben eine merkwürdige Entdeckung: Jacob war gar nicht Sarahs Kind, sondern wurde von ihr nach einer Fehlgeburt aus dem Krankenhaus geraubt. Sarahs Hebamme bestätigt dies. Fassungslos macht sich Ben auf die Suche nach Jacobs leiblichen Eltern – doch der Vater ist genauso von Jacob besessen wie Ben selbst …

_Der Autor_

Simon Beckett studierte Anglistik und arbeitet seit 1992 als freier Journalist. Seine Reportagen dienten ihm zum Teil als Grundlage für den Thriller „Die Chemie des Todes“. Insbesondere seine Recherchen auf der so genannten |Body Farm|, dem forensischen Trainingslager des FBI, flossen in diesen Roman mit ein. Beckett lebt mit seiner Frau in Sheffield, wo er 1968 auch geboren wurde.

Weitere Beckett-Romane:

– [Die Chemie des Todes 2355
– [Kalte Asche 4205
– [Leichenblässe 5625

_Der Sprecher_

Johannes Steck, geboren 1966 in Würzburg, ist Absolvent der Schauspielschule Wien. Von 1990 bis 1996 hatte er Engagements an verschiedenen Theatern. Dem breiten Publikum ist er vor allem aus dem TV bekannt. Er spielte in zahlreichen TV-Serien. Steck arbeitet zudem als Radio-, Fernseh- und Synchronsprecher. Er hat schon diverse Hörbücher gelesen.

Regie führte Lutz Schäfer, der auch den Text kürzte, den Ton steuerte Tobias Pfister.

_Handlung_

Erst bringt Ben Murray seinen sechsjährigen Stiefsohn Jacob zu Bett, dann kehrt er in das nunmehr leere Schlafzimmer zurück. Er trauert um seine geliebte Frau Sarah, der vor kurzem beerdigt hat. Sie starb an einem Aneurysma, einem Hirnschlag. Am nächsten Tag holt Tessa, die Frau seines besten Freundes Keith, Jacob ab, um ihn zur Schule für Autisten zu bringen. Jacob ist ein besonderes Kind, das auf besonderer Behandlung besteht. Ben liebt ihn genauso, wie Sarah es getan hat. Umso härter trifft es ihn, als er entdeckt, dass Sarah ein Geheimnis hatte.

Als Ben Sarahs Kleiderschrank und Frisierkommode aufräumt, stößt er auf eine alte Metallkassette. Der Schlüssel findet sich unter Sarahs Schmuck. In der Kassette liegt nicht nur Jacobs Geburtsurkunde, sondern auch ein Stapel Zeitungsausschnitte. Sie bilden eine Serie von Artikeln aus der „Daily Mail“, die Sarah noch nie gelesen hat. Darin ist von einem Baby die Rede, das vor sechs Jahren im März aus einer Geburtsklinik verschwunden ist. Die Serie beginnt mit Jacobs Geburtstag. Ben stockt der Atem. Könnte Jacob gemeint sein? Aber die Rede ist von einem Stephen Cole, Sohn von John und Janet Cole. John sei ein Veteran des Golfkrieges. Die Coles rufen zur Rückgabe ihres Kindes auf, ihre Gesichter sind von Leid verzerrt.

Ben stürzt mit einer Panikattacke aus dem Zimmer. Er ist versucht, die Artikel zu verbrennen. Sarah hat ihm erzählt, Jacob sei der Sohn ihres ersten Freundes Miles. Sie war immer so froh über ihr Kind. Sollte sie es wirklich geraubt haben? Undenkbar! Obwohl kurz vor Jacobs viertem Geburstag Autismus festgestellt wurde, machte Ben Sarah einen Heiratsantrag, den sie annahm. Da ruft Geoffrey an, Sarahs Vater. Er berichtet, dass Jacob eigentlich sechs Wochen zu früh auf die Welt kam, aber bei der Geburt schon ein ordentliches Gewicht auf die Waage brachte: sechs Pfund immerhin.

Um diesen Widerspruch aufzulösen, besucht Ben Jessica, Sarahs Freundin und Hebamme. Er hat kein gutes Verhältnis zu ihr, denn von Anfang gab sie ihm das Gefühl, er habe ihr Sarah weggenommen. Sie liest die „Daily Mail“, bemerkt Ben bestürzt. Die Hebamme mauert zunächst, bevor ihr Widerstand zusammenbricht und sie mit der Wahrheit herausrückt. Sarah erlitt vor sechs Jahren eine Fehlgeburt und war am Boden zerstört. Als Sarah wegging und mit einem anderen glücklich und strahlend zurückkam, hatte sie die Fehlgeburt völlig verdrängt. Was sollte Jessica tun? Sarah in den Wahnsinn treiben? Sie liebte Sarah!

Der Privatdetektiv, den Ben auf Anraten seines Freundes Keith, der Anwalt ist, engagiert hat, findet die leiblichen Eltern Jacobs: Janet Cole starb bei einem Verkehrsunfall, doch John Cole lebt in Tunford, einer kleinen Gemeinde südlichen von London. Cole sei mit Sandra, einer Pub-Bedienung, verheiratet und arbeite auf einem Schrottplatz. Doch Quiley, der Privatdetektiv, hat gründlicher recherchiert, als Ben lieb ist: Er weiß von dem Kindesraub und versucht, Ben subtil zu erpressen.

Ben fährt wenig später zusammen mit Keith nach Tunford, um sich Cole anzusehen, ganz unverbindlich. Es wird ein Desaster. Denn Quiley ist ebenfalls auf dem Schrottplatz, und als sich Ben Cole anschaut, sagt Quiley den entscheidenden Satz: Dies (Ben) ist der Mann, bei dem sich nun Stephen, Coles Sohn, befinde. Cole, der große Ähnlichkeit mit Jacob aufweist, aber als Ex-Soldat durchtrainiert und muskulös ist, geht ohne Vorwarnung auf den vermittelnden Keith los und schlägt ihn k.o. Als Cole festgehalten wird, hetzt er seinen Bullterrier auf Ben und Keith. Sie entkommen mit knapper Not. O Mann! Was für ein Irrer! Keith blutet wie ein Schwein, Ben steht unter Schock.

Drei Monate später hat das Jugendamt Ben seinen Sohn weggenommen und zu den Coles gegeben. Alle Proteste fruchten nichts. Der Gipfel der Ungerechtigkeit ist, dass Ben seinen Stiefsohn nur einmal in vier Wochen sehen darf. Beim ersten Besuchstermin öffnet eine lügnerische Schlampe: Sandra Cole. Das kleine Haus sieht ebenso ungepflegt aus wie der Vor- und der Rückgarten – überall Wrackteile vom Schrottplatz. Cole hetzt den Bullterrier wieder auf Ben, der den Zähnen des Hundes entkommt.

Doch Ben lässt zu seiner eigenen Verwunderung nicht locker. Er liebt seinen Sohn, aber er ist auch besessen von der Idee, ihn zurückhaben zu müssen. Cole ist nicht der richtige Vater für ihn, und diese Schlampe von Bardame erst recht keine Mutter. Daher verfällt Ben auf die Methode, die er als Profi-Fotograf am besten beherrscht: beobachten und fotografieren. Wenn das Jugendamt Beweise haben will, dass das Heim der Coles ungeeignet ist, dann soll es auch welche bekommen.

Aus seinem Versteck am Waldrand hinter dem Haus der Coles macht Ben schon bald Besorgnis erregende und verstörende Entdeckungen. Doch er selbst bleibt auch nicht unentdeckt.

_Mein Eindruck_

Dies ist kein Forensik-Krimi wie „Chemie des Todes“, „Kalte Asche“ und „Leichenblässe“, sondern ein viel früher (1998) entstandener Suspense-Krimi mit Human-Drama-Aspekten. Nicht um die Aufklärung eines Verbrechens geht es, sondern um das Betreuungsrecht für einen autistischen Jungen. Das klingt banaler, als es sich liest. Einen großen Teil der Geschichte macht deshalb die menschliche Seite des Dramas um Jacob alias Stephen aus. Es ist, als würden zwei verschiedene Welten aufeinanderprallen und um Jacob kämpfen.

Es ist dem Leser von vornherein klar, dass die Konfrontation zwischen Ben und Cole nur auf einen Entscheidungskampf hinauslaufen kann. Aber Ben braucht lange Zeit und durchläuft viele Stationen, bis er sich so weit entwickelt hat, dass er den Kampf aufnehmen kann. Er ist nicht nur trauernder Vater, der seine tote Frau nicht verraten will, indem er ihr Vermächtnis – eben Jacob – im Stich lässt. Er ist auch ein Mann, und als solcher für erotische Reize empfänglich.

Es mag peinlich wirken, aber dieser Aspekt wird ganz explizit an Bens Erektionsfähigkeit gemessen. Seit Sarahs Tod kriegt er keinen mehr hoch, und es ist ausgerechnet die sexuell höchst attraktive Sandra Cole, die seinen kleinen Freund wieder zum Leben erweckt. Selbstredend ist dies ein Spiel mit dem Feuer. Aber es erweist sich als notwendig, um dem sturen, gefährlichen John Cole beizukommen.

|John Cole|

John Cole ist neben Ben Murray zweifellos die wichtigste Figur. Kein Wunder, findet der Showdown doch zwischen diesen beiden Vätern statt. Cole ist ein Golfkriegsveteran, der die Erinnerung von den Panzerwracks mit nach Hause genommen hat. Sandra zeigt Ben die entsprechenden Fotos. Cole entwickelte unter dem Einfluss dieser schrecklichen Eindrücke nicht nur eine Besessenheit mit Schrott und Wracks und Unfallopfern – er fährt immer als Erster zu gerade passierten Unfällen auf der Autobahn -, sondern auch eine fixe Idee.

Coles Theorie geht von der Existenz eines „Systems“ aus, in dem alles mit allem anderen verknüpft ist. Das ist zutreffend, denn die Quanten- und Stringtheorien der Physik unterstützen diese Idee, die ansonsten als „Schmetterlingseffekt“ oder „Chaostheorie“ Verbreitung gefunden hat. Da Jacob in Coles eigenem „System“ einen zentralen Baustein darstellt, kann er nicht zulassen, dass man ihn ihm wegnimmt. Sein System würde zusammenbrechen. Dass Jacob alias Stephen ein Autist ist, stellt für Cole nur eine Prüfung seines Glaubens dar: Ist er stark genug, diese Prüfung zu bestehen, oder wird er an dem Frust über Stephens Schweigen zerbrechen?

|Finale|

Wie auch in seinen Forensikthrillern (s. o.) gipfelt der Roman in einem actiongeladenen Finale, das gar nicht recht zu dem Human-Touch-Drama der vorhergehenden Erzählung passen will, die doch stark auf Psychologie Wert gelegt hat. Nachdem John Cole Stephen alias Jacob entführt hat, fährt die Polizei, alarmiert von Ben, schweres Geschütz auf. Eine Hundertschaft umstellt den Schrottplatz, wo sich Cole mit Jacob verschanzt hat. Der Exsoldat hat Todesfallen aufgestellt, und nichts ahnende Cops werden unversehens zu Opfer. Ben sieht nur einen Ausweg: Wenn Cole Ben haben will, den er für den Verursacher all seiner Probleme hält, dann soll er ihn haben. Ben begibt sich in die Höhle des Löwen.

|Der Sprecher|

Johannes Steck legt sich hier wieder richtig ins Zeug. Er versteht es wirklich, die Figuren zum Leben zu erwecken und uns dabei vergessen zu lassen, dass es weder Geräusche noch Musik im Hintergrund gibt. Sein beeindruckendsten Figuren sind die Männer, denn mit seiner Stimmlage fällt es ihm leichter, sie zu porträtieren. Besonders die Figur des John Cole beeindruckt durch die tiefe Tonlage und den bedrohlich kontrollierten Ausdruck. Eher lächerlich wirken der durchtriebene Detektiv Quiley und der schleimige Jugendamtsmitarbeiter Carlyle. Auch der gewandte Anwalt Keith, Bens Freund, tut sich nicht gerade durch Authentizität hervor, sondern wirkt eher windig und listig. Er ist es auch, der Quiley empfiehlt.

Unter den weiblichen Figuren gibt es leider viel weniger Abwechslung. Da ist zum einen Jessica, die abweisende Hebamme, dann die stets bemühte und beflissene Hausfrau und Mutter Tessa, Keiths Ehefrau. Sie spricht in einem sehr hohen Tonfall, den ich Steck überhaupt nicht zugetraut hätte. Auch Bens Assistentin Zoe ist gelungen: stets mürrisch, eine echte Londoner Stadtpflanze. Die Hauptfigur unter den Frauen ist jedoch Sandra Cole, die eine derartige erotische Ausstrahlung vermittelt, dass man um Bens „Jungfräulichkeit“ nur bangen kann.

Hinter diesen markant gezeichneten Figuren tritt der Sprecher zurück, so dass sich der Zuhörer gut unterhalten lassen kann, selbst wenn das erzählte Geschehen noch so erotisch oder grausig ist. Geräusche und Musik würden hier nur stören.

_Unterm Strich_

Der Originaltitel deutet etwas weniger spektakulär als der deutsche Titel an, um was es geht: um den „Besitz“ eines Kindes. Zwei Prinzipien treffen dabei aufeinander: die selbstlose Liebe Ben Murrays einerseits, der das Wohl des Kindes in den Vordergrund stellt, und die selbstsüchtige „Liebe “ John Coles, der Jacob als Baustein seines eigenen Welt-Systems betrachtet und eine Weiterentwicklung des Kindes weder fördert (keine Schule) noch zulässt (er schottet Jacob ab und lässt ihn auf dem Schrottplatz schuften).

Interessant ist dabei das Verhalten des Jugendamtes als Schiedsrichter: Eigentlich soll es dem Kindeswohl dienen, doch es gibt hier schwarze Schafe, die ihr eigenen Süppchen kochen. In einer dramatischen Konferenz kommt alles ans Tageslicht und führt zu einer Krise. John Cole ist unbeweglich in seinem totalen Anspruch auf Jacob. Doch Sandra erweist sich nicht als seine Stütze, sondern steht auf Bens Seite. Das betrachtet er als Hochverrat …

„Obsession“ bedeutet Besessenheit, aber es bleibt dem Leser bzw. Hörer überlassen zu beurteilen, ob diese Besessenheit nicht doch auch etwas Gutes haben könnte. Wenn alles gut ausgeht, kann man immer leicht sagen, dass Ben nur hartnäckig war, es aber Coles Obsession ist, die ihn in Gefahr bringt. Aber es hätte genauso gut Ben sein können, den das Jugendamt wegen seiner „Besessenheit“ bestraft hätte. Eltern dürften sich zweifellos auf Bens Seite stellen wollen, denn Cole ist offensichtlich verrückt. Aber Cole ist auch ein Vater mit entsprechenden Rechten. Vielleicht erzeugt Elternschaft automatisch auch eine Besessenheit, nur dass diese gutartig und notwendig ist: Liebe zu den eigenen Kindern.

|Das Hörbuch|

Johannes Steck versteht es wirklich, die Figuren zum Leben zu erwecken und uns dabei vergessen zu lassen, dass es weder Geräusche noch Musik im Hintergrund gibt. Auch vorm Brüllen und Rufen schreckt er keineswegs zurück. Doch keine Angst: Die Lautstärke bleibt stets im Normalbereich. Diese Lesung ist nicht nur spannend, sondern auch lebhaft und abwechslungsreich.

|Originaltitel: Owning Jacob, 1998
Aus dem Englischen übersetzt von Andree Hesse
472 Minuten auf 6 CDs
ISBN-13: 978-3-86610-618-5|
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