Belisle, David – R.E.M. – Hello. Fotografien von David Belisle

_Visuelles Andocken am Planeten R.E.M._

Auf knapp 200 Seiten präsentiert dieser Bildband die Rockband |R.E.M.| auf Hochglanzfotos, die der Fotograf David Belisle in den Jahren zwischen 2003 und 2007 geschossen hat. Alles Weitere und Nähere lest ihr im Folgenden. Der aktuelle Anlass: das Erscheinen des Albums „Accelerate“ (Beschleunige).

_Die Band_

Von der kleinen unbekannten Band „Twisted Kites“ aus Athens, Georgia, bis zu |R.E.M.|, die weltweit die Konzerthallen füllen, war es ein weiter Weg, den Michael Stipe, Peter Buck und Mike Mills gegangen sind. Der Name |R.E.M.| steht für Rapid Eye Movement, also schnelle Augenbewegung. Dies bezeichnet diejenige Schlafphase, in der, so die Annahme oder Diagnose, der Schläfer träumt.

Obwohl in den Achtzigerjahren noch relativ unbekannt, galten |R.E.M.|, inspiriert von Patti Smith, bald als Vorreiter des College- und Alternative Rock. Sie waren Vorbild für Musiker wie Kurt Cobain von |Nirvana|. Im Jahr 1991 gelang ihnen mit dem Album „Out of time“ und der Single „Losing my religion“ der internationale Durchbruch. Auch die LP „Automatic for the people“ wurde ein Riesenerfolg.

Es folgten Hits wie „Man on the moon“, „Everybody hurts“ oder „It’s the end of the world as we know it (and I feel fine)“. Dazu kommen die große Bühnenpräsenz und die clever inszenierten Live-Shows der Band. |R.E.M.| wird heute als eine Art Gesamtkunstwerk betrachtet, mit dem androgynen Michael Stipe als Frontman. Im März 2008 veröffentlichten sie ihr vierzehntes Studioalbum. Mit „Accelerate“ wollen sie nun die Bühnen der Welt erobern.

_Der Fotograf_

Der Fotograf David Belisle, der mit der Band eng befreundet ist, hat sie in den letzten sechs Jahren auf ihren Tourneen begleitet sowie auf und hinter der Bühne fotografiert. Mit seiner Kamera hat er seltene Momente und intime Einblicke festgehalten – für jeden Fan ist ein Augenöffner dabei. Wie den Bildunterschriften (s. u.) zu entnehmen ist, wurden viele Aufnahmen in den Jahren 2003 und 2004 gemacht, auf ihrer Welttournee.

_Die Fotos und Bildunterschriften_

Die über 150 Fotografien dieses Bildbandes umfassen farbige und schwarzweiße Fotografien der drei Bandmitglieder Stipe, Buck und Mills nicht nur bei Live-Auftritten, bei Dreharbeiten zu Videoclips oder mit Musikerkollegen wie Bruce Springsteen, Patti Smith, Neil Young und Thom Yorke von |Radiohead|, sondern auch jenseits des Rampenlichts, wie sie nur ihre engsten Freunde kennen. Auch Michael Moore und Woody Harrelson tauchen auf.

Belisle schreckte nicht einmal davor zurück, Stipe auf der Toilette oder unter der Dusche zu fotografieren. Kein Wunder, denn, wie Stipe im Vorwort schreibt, ist „das Klicken von Belisles Leica oftmals so leise, dass er wahrscheinlich schon Fotos gemacht hat, bevor irgendjemandem aufgefallen ist, dass er die Kamera in der Hand hält“. Dabei beweist Belisle nicht nur Vorwitz, sondern auch Humor. Einmal machte Stipe ein Video für die Wohltätigkeitsorganisation Oxfam. Man sieht, wie er mit einer weißen Flüssigkeit übergossen wird. „Ich stank eine Woche lang nach Babybrei“, kommentiert Stipe. Das Stipe sich für solche Inititativen engagiert, zeigen auch das „Vote for Change“-Konzert und sein Bild der burmesischen Dissidentin Aung San Suu Kyi.

Viele Aufnahmen zeigen den Charakterkopf Stipes mit einer dunkelblauen Färbung um die Ohren-, Stirn- und Augenpartie. Es handelt sich allerdings nicht um ein „Veilchen“ aus einer Schlägerei, sondern um bodypaint, das mit seinem Tourdesign zu tun hat. Stipe macht einen auf wildes Tier oder Kannibale. Ob dies etwas mit dem Video „Animal“ zu tun hat, kann ich nicht sagen, denn ich habe es nie gesehen.

Bei Fotos zählt nicht nur das Motiv, sondern auch Auswahl und Kombination. Vielfach werden Bühnenaufnahmen mit Hochglanzmotiven den schwarzweiß gehaltenen Backstage-Motiven gegenübergestellt, um zu sagen: Leute, das Leben auf der Tour hält nicht nur schöne Momente bereit, sondern kann auch ganz schon banal und trist sein. Stipe regt mit einer seiner Bildunterschriften an, dies mal zur Diskussion zu stellen. Danach sehen glamouröse Events wie die Aufnahme in die |Rock ’n‘ Roll Hall of Fame| anno 2007 etwas weniger schillernd aus (S. 168/169).

Auch die Töchter von Peter Buck, Zoe und Zelda sind zu sehen (z. B. Seite 50), aber sie starren direkt in die Kamera und sind sich des Geknipstwerdens voll bewusst. Am Schluss stößt der Betrachter auf eine doppelseitige Collage aller Motive, die nicht auf eine Einzelseite passten: Ausschnitte aus rund 500 Schnappschüssen wurden von Kim Buchanan zusammengefügt und collagiert. Wer sich Zeit nimmt und länger auf die Details Acht gibt, wird noch sehr viel mehr Beachtenswertes über die Band und ihre Satelliten erfahren. Es lohnt sich.

Die Bandmitglieder haben vielen, aber beileibe nicht allen Fotos einen handgeschriebenen Kommentar als Bildunterschrift beigefügt. Leider sind diese Zeilen nicht ohne weiteres zu entziffern, aber nach einer Weile des Überlegens ist es mir immer gelungen, die schiefen Buchstaben zu sinnvollen Wörtern zusammenzusetzen. Die Zeile der zwei Mädchen auf S. 51 über ihren Vater Peter Buck ist am besten zu entziffern.

|Nachwort von Belisle|

In seinem Nachwort „Der Westen von Seattle“ schildert Belisle, wie er es schaffte, Tourfotograf einer so berühmten Band wie |R.E.M.| zu werden. Der erste Schritt war sicherlich das Aha-Erlebnis 1982 beim letzten Konzert von |The Who|, der zweite war der Kontakt zum späteren |R.E.M.|-Tourmanager Bob Whittaker (alle Crewmitglieder werden in separaten Fotos vorgestellt). 2001 wurde Belisle dann offizieller Hausfotograf der Band und begleitete sie überallhin. Der vorliegende Band ist ein Destillat aus seinen professionellen Arbeiten.

_Unterm Strich_

Der Bildband bietet einen interessanten und optisch reizvollen Querschnitt nicht nur aus dem Schaffen des Fotografen, sondern auch aus den Aktivitäten der Band. Dazu gehören nicht nur Live-Auftritte, sondern auch Foto- und Video-Shootings, die Teilnahme an Multistar-Konzerten und der Auftritt bei der Aufnahme in die Ruhmeshalle der Rockmusik.

Hinter diesem öffentlichen Erscheinungsbild gibt es aber auch die privaten Bandmitglieder zu entdecken. Während sich Peter Buck und Mike Mills meist hinter ihren Gitarren verschanzen, zeigt sich Frontmann und Sänger Michael Stipe in allen möglichen Variationen, so dass ich wirklich neugierig auf diesen ungewöhnlichen Menschen wurde. Im Gegensatz zu seinen Kollegen zeigt er sich sogar in seinen Privaträumen, so etwa im kleinen Gästehaus beim Schlafen.

Was fehlt, ist eine Monografie über die Band und ihr Umfeld, ja sogar über ihr politisches und ästhetisches Programm. All dies kann der ahnungslose Laie nur über die hier vorgestellten Freunde wie Neil Young, Patti Smith und Bruce Springsteen erschließen – oder über Auftritte für den US-Präsidentschaftskandidaten John Kerry, für Aung San Suu Kyi und für die Welthungerhilfe Oxfam (Oxford Famine Relief). Das ist nur ein kümmerlicher Anfang und sollte den Betrachter dieses fantastisch gut aussehenden Bildbandes motivieren, sich näher mit der Geschichte und dem Werk dieses bemerkenswerten Band zu beschäftigen. (Am 12./13.4.2008 erschien beispielsweise in der SZ-Wochenendbeilage ein Artikel über Stipe und seine geistige Mutter Patti Smith, die bei |Cartier| in Paris auftraten.)

Es gibt viele Wege, sich dem |R.E.M.|-Planeten anzunähern und dort anzudocken, und dieser Bildband ist nicht der schlechteste Zugang. Auf jeden Fall einer der optisch reizvollsten und makellos produzierten.

|Originaltitel: R.E.M. – Hello
Aus dem US-Englischen von Thorsten Wortmann
192 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-89602-841-9|
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