Berg, Carol – Tor der Offenbarung (Rai-Kirah-Saga 2)

Band 1: [„Tor der Verwandlung“ 3948

Nach den Ereignissen in „Tor der Verwandlung“ ist Seyonne in seine Heimat Ezzaria zurückgekehrt. Es ist ihm sogar gelungen, von seinem Volk wieder aufgenommen zu werden, und er hat die Frau geheiratet, die er seit seiner Jugend liebt. Er soll sogar bald Vater werden.

Trotzdem ist nicht alles eitel Sonnenschein. Ein nicht unerheblicher Teil der Ezzarier misstraut ihm noch immer, und da Seyonne ein schlechter Lügner ist und mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hält, hat der oberste Rat der Ezzarier einen Wachhund auf ihn angesetzt: die junge Fiona, die während Ysannes Schwangerschaft auch als Seyonnes Aife arbeitet.

Da Seyonne derzeit noch der einzige vollständig ausgebildete Wächter der Ezzarier ist, muss er nahezu täglich einen Kampf im Innern irgendeiner Seele ausfechten – eine ungeheure Belastung. Und trotzdem wäre vielleicht für immer alles beim Alten geblieben, wären nicht zwei folgenschwere Dinge geschehen: Ysannes Kind kommt mit einem Dämon behaftet zur Welt. Das ezzarische Gesetzt sieht vor, solche Kinder zu töten, indem man sie aussetzt. Noch gebeutelt von diesem entsetzlichen Verlust, trifft Seyonne auf einen Dämon ohne jedes Anzeichen von Bosheit, dafür mit einem ausgeprägten Wunsch nach einem freundlichen Gespräch …

_Die Riege der Figuren_ hat eine Menge Zuwachs bekommen:

Fiona ist eine sehr burschikose junge Frau. Aufgewachsen unter denjenigen Ezzariern, die sich nach der Eroberung durch die Derzhi tief in den Wäldern versteckt hatten, um dem Tod oder der Sklaverei zu entgehen, trägt sie ihr Haar noch immer kurz und lieber Hosen statt Röcke. Mit den Ritualen, die mit dem Kampf gegen die Dämonen verbunden sind, nimmt sie es außerordentlich genau und gerät deshalb immer wieder in Reiberei mit Seyonne. Sie sieht in seiner Nachlässigkeit Anzeichen von Verderbtheit und lässt ihn deshalb keinen Moment aus den Augen, als könnte sie ihre Überzeugung beweisen, wenn sie nur geduldig genug alles beobachtet, was Seyonne tut. Darin ist sie mindestens so gründlich wie in der Befolgung der Rituale, was dazu führt, dass sie Seyonne sogar folgt, als er Ezzaria verlässt.

Eine ebenso ausgefallene Persönlichkeit ist Blaise, ein junger Mann, der sich dem Kampf gegen die Herrschaft der Derzhi verschrieben hat. Er besitzt ein paar ungewöhnliche Fähigkeiten, die auf ein gerüttelt Maß an Melydda – magische Macht – schließen lassen, allerdings ist er nicht einmal in der Lage, einen einfachen Bann zu weben, um das Ungeziefer aus seiner Hütte fernzuhalten! Abgesehen davon besitzt er Charisma und ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl seinen Gefolgsleuten gegenüber, dafür fehlt es ihm in ganz bedauerlichem Maße an politischer Einsicht.

Balthar ist dem Leser des ersten Bandes vielleicht noch in Erinnerung als derjenige, der das grausame Ritual erfand, um ezzarische Sklaven ihrer Magie zu berauben. Wer jetzt glaubt, es mit einem finsteren, bösartigen Gesellen zu tun zu haben, wird überrascht sein: Balthar stellt sich als kleiner, gutmütiger, alter Mann mit einer tragischen Geschichte heraus, der schon bald der Welt samt Ezzariern und Derzhi den Rücken gekehrt und sich auf eine Insel in einem großen Fluss zurückgezogen hat. Dort hat er seine Zeit damit verbracht, eine uralte Ruine zu erforschen, und ist dabei auf einige gravierende Erkenntnisse gestoßen, die so erschreckend sind, dass er sie nur widerwillig preisgibt.

Eine noch größere Überraschung als Balthar waren jedoch die Dämonen. Der am Ende des ersten Bandes noch recht eindimensionale Feind zersplittert schon nach kurzer Zeit in eine solche Vielzahl von unterschiedlichen Persönlichkeiten, dass es die Auflistung der Charaktere schlicht sprengen würde.

Und dann wäre da noch Merryt zu erwähnen, ein jovialer, etwas derber und gleichzeitig undurchsichtiger Ezzarier, der vor langer Zeit in die Gefangenschaft der Dämonen geraten ist.

Jedem dieser Neuzugänge hat die Autorin ein eigenes, faszinierendes Profil verliehen. Selbst die Dämonen, die sehr gut darin sind, sich nicht in die Karten schauen zu lassen, erweisen sich alle als wirklich eigenständige Charaktere mit unterschiedlichen Interessen und Motiven. Auch das diesmal wieder sehr gelungen.

Diese Vielfalt an Individualität unter den Dämonen hat natürlich enorme _Auswirkungen auf die Handlung_. Oder vielleicht auch andersherum. Jedenfalls ist das Feindbild aus Band eins dadurch komplett in die Brüche gegangen, und damit auch das Weltbild der Ezzarier. Die langen Jahre außerhalb seiner Heimat und seiner Kultur haben ohnehin schon dazu geführt, dass Seyonne bei seiner Rückkehr so manches hinterfragt. Als er beginnt, der Sache auf den Grund zu gehen, macht er eine Entdeckung, die allem, was man ihn gelehrt hat, dermaßen zuwiderläuft, dass er trotz aller Distanz zu seiner eigenen Kultur größte Schwierigkeiten damit hat, die Konsequenzen zu akzeptieren. Auch der Leser macht quasi eine komplette Umwälzung mit, die Autorin hält ihn aber so stark an der Hauptfigur, dass zu keiner Zeit der Eindruck von Willkür entsteht.

Natürlich muss der weggefallene Gegenspieler in irgendeiner Form ersetzt werden. Das tut die Autorin auf elegante, unaufdringliche Weise. Im Laufe der Geschichte verschiebt sich das Gegengewicht ganz allmählich hin zu einer Person, die bisher nicht vorkam und auch jetzt nur ganz am Rande auftaucht. Wie zuvor der Dämon, der sich in Aleksander eingenistet hatte, hängt jetzt diese Bedrohung wie ein düsterer Schatten im Hintergrund, während die eigentliche Handlung sich mit konkreteren, aber kleineren Gegnern herumschlägt, die wie die Kelid am Ende des Bandes zumindest teilweise ausgeschaltet sind.

_Trotz all dieser positiven Aspekte_ hat mir der zweite Band nicht ganz so gut gefallen wie der erste. Die besondere, sich allmählich entwickelnde Beziehung zwischen Aleksander und Seyonne, die einen großen Teil der Faszination des ersten Bandes ausgemacht hat, ist hier weggefallen, und die ständigen Reibungen zwischen Fiona und Seyonne sowie das Duell zwischen Seyonne und der Dämonin Vallyne sind zwar nicht schlecht gemacht, können damit aber nicht mithalten. Das mag daran liegen, dass Seyonnes scharfer Verstand, der ihn in der Konfrontation mit Aleksander stets wie einen Artisten bei einem gewagten Drahtseilakt agieren ließ, diesmal zu großen Teilen brach lag. Nicht, dass es seine Schuld gewesen wäre, aber die Autorin fügt ihm diesmal so zahllose und schwere Misshandlungen, Verwundungen und Demütigungen zu, dass der Leser konsequenterweise mehr an Gefühlen teilhat als an Gedanken. Seyonne ist über große Zeiträume hinweg mehr verwirrt als bei Sinnen. Das zieht nicht nur die Handlung stellenweise etwas in die Länge, es macht diesen Teil des Zyklus auch ein gutes Stück grausamer als den ersten.

Immerhin aber hat die Autorin alle Bestandteile ihrer Geschichte – die Welt der Dämonen, den historischen Hintergrund, die persönlichen Vergangenheiten ihrer Figuren – sehr geschickt und nahtlos miteinander verwoben. Es dauert ein wenig, bis der Zusammenhang zwischen den ausgesetzten Kindern der Ezzarier, den Rebellen um Blaise, den Dämonen und den historischen Entdeckungen allmählich deutlich wird, gegen Ende aber zieht die Spannung an und hält sich tatsächlich bis ganz zum Schluss, was nicht unerheblich auf einige überraschende Wendungen zurückzuführen ist. Abgesehen von den oben erwähnten kleinen Mankos ist dieser zweite Band des Zyklus immer noch ein gutes, lesenswertes Buch.

_Carol Berg_ schreibt ihre Bücher nebenbei. Hauptberuflich ist die studierte Mathematikerin und Computerwissenschaftlerin als Software-Entwicklerin bei |Hewlett Packard| tätig. „Tor der Verwandlung“ ist der erste Band der Trilogie Rai-Kirah und ihr erstes Buch überhaupt. Seither hat sie den vierbändigen Zyklus |The Bridge of D’Arnath| geschrieben sowie einen Zweiteiler und die Romane „Song of the Beast“ und „Unmasking“, der im November neu auf den Markt kommt. Nahezu alle ihre Bücher haben irgendeinen Preis gewonnen. Eine beachtliche Leistung für eine Hobby-Autorin. Höchste Zeit also, dass ihre Bücher endlich auch auf Deutsch erscheinen. Der abschließende dritte Band von |Rai-Kirah| erscheint im Juli dieses Jahres unter dem Titel „Tor der Erneuerung“.

|Originaltitel: The Rai-Kirah-Saga 2. Revelation
Originalverlag: Roc, New York 2002
Aus dem Amerikanischen von Tim Straetmann
Taschenbuch, 672 Seiten|
http://www.blanvalet-verlag.de/
http://www.sff.net/people/carolberg/

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