Der zehnjährige Miles lebt seit seiner Flucht aus dem Waisenhaus in einem Holzfass. Seine besten Freunde sind sein Teddybär Mandarine, den er stets bei sich trägt, und Lady Partridge, eine ältere Frau, die mit ihren hundert Katzen in einem riesigen Baumhaus lebt. Eines Nachts zieht der Wanderzirkus Oscuro in die Stadt. Der neugierige Miles schleicht sich in die Vorstellung und sieht dort die Hochseilnummer eines kleinen Mädchens.
Mitten im Auftritt stürzt die Artistin, doch sie rettet sich auf wundersame Weise durch ihre Flügel – was das Publikum für einen netten Trick hält, ist offenbar tatsächlich Realität. Später beobachtet Miles, dass das Mädchen vom Zirkusdirektor, dem skrupellosen Großen Cortado, gefangen gehalten wird. Es gelingt ihm, die kleine Artistin zu befreien und mit ihr zu Lady Partridge zu flüchten.
Dort erfährt er die unglaubliche Geschichte des Mädchens, das sich „Little“ nennt. Little ist ein Engel, gemeinsam mit ihrem Engelfreund Silverpoint aus den Wolken gestürzt und auf dem Zirkusplatz gelandet. Während Little als Hochseilartistin auftreten musste, wurde Silverpoint in den „Palast des Lachens“ verschleppt, der zum Zirkus gehört. Für Miles und Little steht fest, dass sie Silverpoint befreien müssen. Ein sprechender Tiger hilft den beiden auf ihrer Reise zu diesem unheimlichen Ort, an dem der Große Cortado regiert. Wer hier eine Vorstellung besucht, verliert die Fähigkeit zu lachen und glücklich zu sein …
Mit dem Auftakt zu einer Trilogie versorgt Jon Berkeley alle Freunde des phantastischen Kinderromans mit einem unterhaltsamen Lesestoff, der neugierig auf die folgenden Teile macht.
|Liebevolle Charaktere|
Im Mittelpunkt steht der zehnjährige Miles, ein Waisenjunge, dem nach sieben Versuchen endlich die Flucht aus dem ungastlichen Waisenhaus geglückt ist und der seitdem zufrieden in seinem Weinfass lebt. Sein Leben ist nicht komfortabel, aber annehmbar und sein größter Schatz ist sein geliebter Bär Mandarine, die letzte Erinnerung an die Zeit vor dem Waisenhaus. Wer seine Eltern waren, weiß er nicht, und manchmal stimmt ihn dieser Gedanke traurig. Sein unbekümmertes, neugieriges Wesen macht ihn sofort sympathisch, und für Kinder stellt er schnell eine ideale Identifikationsfigur dar – ähnlich wie Huckleberry Finn lebt er ohne große Zwänge und genießt die Freiheit, eine für Kinder natürlich beneidenswerte Situation.
Die kleine Little sieht zwar aus wie ein süßes Mädchen, doch da sie zum ersten Mal auf der Erde ist, sind ihr viele Dinge fremd, was Miles immer wieder in Verwirrung bringt. Sie kann mit Tieren sprechen und fliegen, unter Wasser atmen und Miles Teddybär Mandarine zu Leben erwecken. Über die Menschen wusste sie bislang nur die Gerüchte, die sich die anderen Engel erzählen – von zweiköpfigen Wesen und pelzigen Gesichtern, von Menschen, die essen, bis sie platzen, und von anderen, die wie Gerippe herumlaufen. Ihre naive und zugleich liebenswerte Art ist nicht immer leicht für Miles zu begreifen, doch schon bald stehen sich die beiden nah wie Geschwister und sie wissen, dass sie nur gemeinsam eine Chance haben, gegen den Großen Cortado zu bestehen.
Eine Reihe von nicht weniger sympathischen und orginellen Nebenfiguren ergänzt die Liste der Charaktere. Da ist die kugelrunde Lady Partridge, die mit ihren hundert Katzen in einem Baumhaus lebt und eine zuverlässige Helferin in schwierigen Lagen ist. Mit Vorliebe lacht sie über ihre eigenen Witze, die außer ihr sonst niemand wirklich komisch findet, aber davon abgesehen, ist sie eine rundum liebenswerte, wenn auch schrullige ältere Dame. Da ist der distinguierte, sprechende Tiger, der Miles und Little auf ihrem Weg zum Palast des Lachens auf dem Rücken trägt, der aber bei jeder Gelegenheit erwähnt, dass sie ihn bloß nicht als Freund betrachten sollen, falls er doch einmal hungrig werden sollte. Und da ist der alte Bolzenglas von Arabien, ein früherer Forschungsreisender und ehemaliger Werber um Lady Patridge, der Miles‘ Expedition mit Begeisterung unterstützt.
|Fantasievolle Details|
Es ist in Grundzügen die Welt, die wir kennen, die im Roman präsentiert wird, doch nach und nach schleichen sich die fantastischen Elemente ein. Den sprechenden Tiger hält Miles zunächst noch für einen Traum, und auch ein Engelsmädchen hat er nie zuvor gesehen, ganz zu schweigen davon, dass er auf einmal die Gespräche auf der Katzenversammlung verstehen kann. Es ist kein reiner Märchenroman, sondern die Grenzen zwischen der unserigen Realität und jener der Fantasy-Details verschwimmen. Immer ist man gespannt darauf, welche skurrile Figur als Nächstes auftauchen mag, welche Hindernisse sich Miles und Little in den Weg stellen oder vom wem sie überraschend Hilfe erhalten – auch wenn von Anfang an klar ist, dass alles ein gutes Ende finden muss. Die Einbindung des Wanderzirkusses sorgt für eine zusätzliche aufregende Atmosphäre mit ihren bunten Gestalten, etwa den netten drei Clowns, die immer durcheinander reden und dabei vom Thema abschweifen, der baumlangen Riesenfrau Baumella und dem geheimnisvollen Zero, einer monsterhaften Mischung, die an an eine Hyänen-Yeti-Kreuzung erinnert.
Der Stil ist ideal für Leser ab etwa 10 Jahren geeignet. Hin und wieder spricht der Erzähler den Leser direkt an, aber so selten und dezent, dass es keineswegs aufdringlich ist. Sehr positiv ist außerdem, dass der erste Teil in sich abgeschlossen ist. Alle wichtigen Fragen werden geklärt und man kann das Buch nach dem Lesen befriedigt zur Seite legen, bis der zweite Teil erscheint. Am Ende werden Andeutungen gegeben, was im nachfolgenden Roman passieren wird, sodass sich der Leser schon mal Gedanken machen kann.
|Nur kleine Schwächen|
Echte Mankos weist das Buch erfreulicherweise keine auf. Allerdings reagieren die Figuren nicht immer ganz logisch. Als Little von ihrem Schicksal erzählt, stellt Miles kaum weitere Fragen, sondern es steht für ihn sofort fest, dass er ihr bei der Suche nach Silverpoint helfen wird. Dabei wäre es naheliegend, sich zu erkundigen, ob Little niemandem aus dem Wolkenreich zu Hilfe rufen kann. Ähnlich verhält es sich bei einer Hilfsaktion gegen Ende des Buches. Anstatt sogleich zu fragen, woher seine Freunde wussten, dass sie zur Rettung herbeikommen mussten, erfährt er die Umstände bloß zufällig und etwas später. Gerade für ungeduldige Kinder, die rasch Antworten auf logische Fragen haben wollen, ist das nicht sehr geschickt konstruiert, fällt aber zum Glück nicht stark ins Gewicht.
Ein wenig schade ist die Eindimensionalität der bösen Charaktere, deren Darstellung längst nicht so originell ausfällt wie jene der Sympathieträger. Vor allem der böse Zirkusdirektor Cortado und sein Gehilfe Dschingis sind recht oberflächlich gezeichnet, knubbelig und hässlich vom Äußeren, Dschingis außerdem sehr beschränkt und naiv. Es fehlt den Bösen vor allem an Zwiespältigkeit und einer etwas geheimnisvolleren Attitüde, die sie interessanter gemacht hätte.
_Als Fazit_ bleibt ein gelungener Auftakt zu einer kindgerechten Trilogie, an der auch Jugendliche und Erwachsene ihre Freude haben können. Obwohl es sich um den ersten von drei geplanten Teilen handelt, ist das Buch in sich abgeschlossen und besitzt ein eigenständiges und befriedigendes Ende. Liebevolle Charaktere, ein leicht verständlicher Stil und märchenhafte Elemente machen den Roman trotz ein paar kleiner Schwächen zu einem spannenden und abwechslungsreichen Lesegenuss.
_Der Autor_ Jon Berkeley, geboren in Dublin, liefert mit „Das gestohlene Lachen“ seinen Debütroman ab, zwei weitere Bände sollen folgen. Zuvor arbeitete er über zwanzig Jahre lang als Illustrator und lebte unter anderem in Sydney und Hongkong. Heute hat er sich mit seiner Familie und seinen Tieren in Katalonien niedergelassen.
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