Bionda, Alisha (Hg.) / Gruber / Büchner / Hohlbein / Siefener / Marzi / Koch u. a. – dünne Mann, Der (Edgar Allan Poes Phantastische Bibliothek 8)

_Achter Anlauf: Autoren-Armada._

Während sich „Edgar Allan Poes Phantastische Bibliothek“ während der ersten Bände jeweils auf einen Autor konzentriert hat, bietet „Der dünne Mann“ einen Spaziergang durch die deutschsprachige Phantastik-Szene. Dabei dürfen sich unbekanntere AutorInnen ebenso vor dem Erbe Poes verneigen wie renommiertere Schreiberlinge und nicht zuletzt Genregröße & Zugpferd Wolfgang Hohlbein.

|Andreas Gruber| legt mit „Wie ein Lichtschein unter der Tür“ eine Poe’sche Betrachtung sexueller Begierden vor und zeigt, wie ein junger Bursche eine Vorliebe für ältere Frauen entwickelt und dabei in immer krassere Dimensionen vordringt. Die Story hat eine schöne Bildsprache, die an gewählte Worte eines betagteren Tagebuchschreibers erinnert, und ist mit einem atmosphärisch dichten Spannungsaufbau versehen, wenn das Ende auch nicht unbedingt überrascht. Ein wenig aus der Stimmung wird der Leser gerissen, wenn zwischen der würdevollen Tagebuchsprache plötzlich unbeholfene Jugend-Dialoge auftauchen, die sich mit Bauchnabelpiercings befassen oder mit Linda Blairs Gekotze in „Der Exorzist“. Trotzdem: Unterhaltsame Story!

|Barbara Büchner| schwelgt mit „Spinnwebschleier“ in einer düstererotischen Fantasie, die sich ihrerseits mit würdig ergrauter Sprache und morbiden Bildern vor dem Meister des Düsteren verbeugt. Ein kurzes Vergnügen, aber durchaus stimmig.

|Eddie Angerhuber| hat mit „Nepenthe“ eine sehr klassische Geschichte vollbracht über Zivilisationsmenschen, die sich in einem geheimnisvollen Landhaus niederlassen, die allmählich von der düsteren Vergangenheit dieses Hauses eingeholt werden, von düsteren Stimmungen, beklemmenden Abschiedsbriefen und unheimlichen saphiräugigen Katzen. Der Spannungsaufbau ist grandios gebastelt, die Sprache passend pathetisch, die Stimmung meisterhaft morbide und das Ende wurde mit einem wunderbaren Schlusssatz perfekt auf den Punkt gebracht. Tolle Story! Kein Vergleich zu Angerhubers elitärsprachlich dahergeprotztem Nachwort im ersten Band der „Bibliothek des Schreckens“!

|Michael Siefener| enttäuscht zunächst etwas mit seiner „Abendstimmung mit Burgruine“, zu schwach ist der Spannungsaufbau und zu metaphernverliebt die Sprache. Am Schluss jedoch gewinnt die Story durch ihre kluge, düstere Auflösung.

|Dominik Irtenkauf| verlässt sich in „Sündflut“ ebenfalls etwas sehr auf seine Metaphern und erzählt in weitschweifigem Stil von unheilvoller Begierde, Opium, Tod und Wahnsinn. Fans altmodisch bebilderter Innenschauen werden an „Sündflut“ sicher ihre Freunde haben, auch wenn das Ende etwas abrupt über den Leser hereinbricht.

|Micha Wischniewski| scheint mit seiner Story „Die Firma“ eher eine Hommage an Thomas Ligotti und Mark Samuels verfasst zu haben als an Edgar Allan Poe, aber das ändert nichts an ihrer Stärke. Eine namenlose Firma kommt in eine namenlose Stadt, der Protagonist bewirbt sich dort und wird von dem seltsamen Ort und seinen Aufgaben verschlungen. Die Ähnlichkeit mit Samuels „Die Sackgasse“ ist nicht zu übersehen und auch der „Dominioweg“, in dem sich die „Firma“ befindet, dürfte definitiv als Verbeugung vor Ligotti verstanden werden, und vor Frank Dominio, jenem vom Weltekel zerfressenen Protagonisten in Ligottis „Meine Arbeit ist noch nicht erledigt“ (in: „Das Alptraum-Netzwerk“). „Die Firma“ ist demzufolge also nicht unbedingt originell, aber wunderbar zynisch, nihilistisch und düster!

|Christoph Marzi| wandelt mit „Die Raben“ – wie der Titel schon vermuten lässt – sicheren Fußes auf klar Poe’schem Story-Terrain und befasst sich mit alten Familien, toten Ehefrauen und, wie immer, mit dunklen Geheimnissen. Alastair Carfax wird von einer Armada Raben belagert, deren Geheimnis sein neuer Hausverwalter – und gleichzeitig Erzähler der Story – allmählich auf die Schliche kommt. Marzis Sprache ist kraftvoll und seine Bilder treffen, wie schon die tolle Charakterisierung von Alastair Carfax zeigt: „Der letzte knorrige und langsam verrottende Ast dieses Stammbaums, der laut den Einwohnern Baltimores in die tiefste Hölle zurückzureichen schien.“ Kunstvolle Düsterstory!

|Wolfgang Hohlbein|, der „Star“ dieser Anthologie, hat mit „Der dünne Mann“ eine flockig unterhaltsame Gruselmär geschrieben, über den irischen Hafenarbeiter Ian McGillicaddi, über das große Beben in London und über einen geheimnisvollen dünnen Mann, der plötzlich bei McGillicaddi auftaucht und alles über den trinkfesten Iren zu wissen scheint. Nach und nach, in ironischem und lockerem Stil, eröffnen sich die Motive des dünnen Mannes und gipfeln in ein wohlkonzertiertes Ende. „Der dünne Mann“ ist zwar kein Meisterstück, aber handwerklich hochsolide Unterhaltung ohne Fehl.

|Christian von Aster| widmet sich in „Stanchloams Erbe“ ebenfalls ergrauten Gruselmotiven: Asters Protagonist ist ein Viktor Frankenstein, der mit einer Prise Hochmut und Misanthropie angereichert wurde. Dem Poe’schen Erbe angemessen, bedient sich auch Aster des Tagebuchstiles, in dem er die Besessenheit seines Protagonisten darlegt und den epischen Vorverweis darauf, dass der Tagebuchschreiber damit kein glückliches Ende finden wird. Auch Aster kann man einen gekonnten Umgang mit verstaubtem Sprachspielzeug attestieren, und das Ende seiner Story hat einen angenehm düsteren Abgang, wenn es auch nicht vollkommen unerwartet über den Leser herfällt und der Weg dorthin kleine Unglaubwürdigkeiten zu verkraften hat.

|Jörg Kleudgen und Boris Koch| haben mit „Der Fluch von Mayfield“ keine so kraftvolle Verbeugung hinbekommen wie ihre Vorgänger. Auch hier wird der Leser mit alten Häusern, Familientragödien und schrecklichen Geheimnissen konfrontiert, aber leider ist es den beiden Autoren nicht geglückt, eine tragfähige Atmosphäre zu erzeugen, und die Story schleppt sich spannungsarm zu einem lahmen Ende. Schade!

|Mark Freiers| „Kleine Nachtgeschichte“ ist ein kurzer Sechsseiter, der sich ebenfalls den Themen Liebe, Mord und Wahnsinn widmet. Zwar ist die Story nicht brüllend originell und der Spannungsaufbau etwas holprig, dafür entschädigt einen aber die würdig poeske Auflösung.

_Schwächeres Licht in der Ahnengalerie._

Zwar habe ich Band 6 und Band 7 von |Edgar Allan Poes Bibliothek des Schreckens| noch nicht gelesen, aber von den Gelesenen führen noch immer folgende Bände diese Reihe an: „Die Weißen Hände“ von Mark Samuels (Band 4), „Spuk des Alltags“ von Alexander M. Frey (Band 3) und, konkurrenzlos, „Das Alptraum-Netzwerk“ von Thomas Ligotti (Band 2). „Der dünne Mann“ ist durchaus unterhaltsam und zeichnet sich durch unterschiedliche Autoren aus, aus deren Feder Werke von unterschiedlicher Qualität geflossen sind. Der Unterhaltungswert dieses Bandes ist hoch, hat aber auch unter einigen Einbrüchen zu leiden, brüllend originell ist hier nichts, aber an eine Hommage an Poe sollte man solche Ansprüche vielleicht auch nicht stellen. Für Genre-Fans durchaus interessant, Neueinsteiger sollten aber lieber auf die Originale zurückgreifen – oder auf die Bände zwei bis vier.

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