Bond, Nelson – Lancelot Biggs’ Weltraumfahrten

Im frühen 22. Jahrhundert sind die inneren Planeten des Sonnensystems längst von blühenden Kolonien des Mutterplaneten Erde bewohnt. Ein reger Verkehr herrscht vor allem zwischen Erde, Mars und Venus. Eines der zahlreichen Schiffe, die hier Dienst tun, ist der Raumfrachter |Saturn|. Seine besten Tage hat er lange hinter sich, doch unter dem Kommando des erfahrenen Käptn Waldemar Hanson leistet der alte Kahn gerade noch genug, um der Außerdienststellung und Verschrottung einen Schritt voraus zu bleiben.

Die Routine auf der |Saturn| verwandelt sich in Chaos, als eines Tages der berüchtigte Lancelot Biggs als Vierter Offizier an Bord kommt. Er ist der Neffe des Vizepräsidenten der Gesellschaft, welcher auch der |Saturn| gehört, und kann dafür von Hanson nicht zum Teufel gejagt werden, obwohl dieser sich genau dies schon nach kurzer Zeit sehnlich wünscht: Biggs ist ein Tolpatsch, der ständig fatale Zwischenfälle in Gang setzt, die dem Käptn und seinen Leuten das Leben außerordentlich schwer machen.

Allerdings ist Biggs auch ein Genie. In Fällen von Raumnot, Piratenattacken, Zeitschleifen, Dimensionsrissen oder ähnlichen Unerfreulichkeiten, denen sich der moderne Raumfahrer immer wieder ausgesetzt sieht, fällt ihm stets eine unkonventionelle Methode ein, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen. So könnte sich sogar der strenge Hanson an den Neuling gewöhnen, würden dessen fabelhaften Einfälle nicht stets von unverhofften und peinlichen Nebenwirkungen begleitet, die in der Regel zunichte machen, was Biggs Taten an Ruhm und Belohnung zunächst erwarten lassen …

Da gab es einst eine Zeit, naiv und charmant zugleich, in der die Zukunft grenzenlos verheißungsvoll erschien. Naturwissenschaften und Technik würden sehr bald die wirklich allerletzte Grenze – die zum Weltraum – fallen lassen, man würde fremde Planeten nicht nur bereisen, sondern buchstäblich erobern und besiedeln.

Der II. Weltkrieg ließ solche Träumereien schwinden bzw. bescherte ihnen einen militaristischen Unterton. Aufgegeben wurden sie indes noch lange nicht. Auch heute werden sie offenbar, wenn auf irgendeinem Fernsehsender Filme aus den 1950er Jahren wiederholt werden. Da sind sie, die schlanken, stromlinienförmigen Raketen, die in ihrem Inneren fatal an ein U-Boot erinnern. Auch ihre Besatzungen benehmen sich, als ob sie sich an Bord eines Schiffes befänden, das einen der irdischen Ozeane kreuzt. Computer werden manchmal erwähnt, doch selten als solche bezeichnet, zumal man sie in den primitiven Stahlkästen kaum vermuten mag. Stattdessen berechnet der Steuermann mit Sextant und Rechenschieber den Kurs zum Mars oder zur Venus; die Reise gestaltet sich anschließend so: |“Bisher haben die Piloten einfach so lange die Düsen laufen lassen, bis sie an ihr Ziel herankamen, und haben dann für die Landung die Bremsvorrichtungen wirken lassen.“| (S. 74) Zwischendurch schaut der Kapitän durch die “Peri[skop]linse” in Fahrtrichtung und prüft nach, ob man auf Kurs geblieben ist.

Genau dies ist die Welt von Lancelot Biggs. Ende der 1930er Jahre startete Nelson Bond eine Serie von Science-Fiction-Storys mit ihm als „Helden“. Mehr als ein Jahrzehnt später fasste er diese zu einem Roman zusammen, dessen Episodenhaftigkeit indes seinen Ursprung deutlich erkennen lässt. Nur grob schuf Bond einen roten Faden, der vage Biggs absonderliche Taten in chronologischer Reihenfolge verbindet. Schon Bonds Zeitgenossen aus dem „Goldenen Zeitalter der SF“ konnten Romane schreiben, die diese Bezeichnung eher verdienten!

Doch sie sind oft vergessen, während Lancelot Biggs als Klassiker seines Genres gilt. Der Unterschied liegt zum einen darin, dass Bond sein Handwerk verstand, während er sich andererseits wenig um die Regeln der SF scherte. Diese wurde in den Jahren um 1940 von den meisten Verfassern bitterernst genommen. Galaxisweite Kriege tobten da, während glotzäugige Monster die Erde (und vor allem – wieso auch immer – die Erdfrauen) ins Visier nahmen und von granitkinnigen Männerhelden ins All zurückgeprügeln wurden. Dabei erfanden die Autoren praktisch alle klassischen Topoi der Science-Fiction und dekliniert sie durch. Nelson Bond gehörte zu jenen, die sie umgehend durch den Kakao zogen.

Die angemaßte „Wissenschaftlichkeit“ der frühen SF-Jahre – heute findet man sie noch im „Techno-Bubble“ der „Star Trek“-Serien – veranlasste die Autoren, ihrem Publikum „Erklärungen“ für die dargestellten Wunder zu liefern, deren Nonsense-Faktor wechselweise staunen und lachen lässt. Bond nutzt dies als Gelegenheit, die Absurditäten der Handlung erst richtig herauszustellen. Wenn Lancelot Biggs den |Saturn| mitten durch den Planeten Jupiter sausen lässt, leitet der Autor dies zunächst so ein: |“Sie kennen alle die fundamentale Theorie der Lorentz-Fitzgeraldschen Zusammenziehung. Gegenstände, die sich im Raum bewegen, ziehen sich längs ihrer Hauptachse zusammen, und zwar im direkten Verhältnis zu ihrer Geschwindigkeit, wobei die Lichtgeschwindigkeit die Höchststufe bildet.“| Was – nun gleich für die (in Vertretung der Leser) chronisch begriffsstutzigen Bordkameraden „übersetzt“ – dies zur Folge hat: |“Es ist, als ob ein ganz feiner Draht, der sich mit der Geschwindigkeit des Blitzes bewegt, durch eine Eisbombe hindurchgetrieben wird.“| (S. 82).

Unter diesen Umständen erstaunt es wenig, dass sich Bond um die astronomischen Realitäten wenig schert. Auch zu seiner Zeit war man sich schon der Tatsache bewusst, dass Jupiter als Gasplanet keine feste Oberfläche besitzt. Bond ignoriert es und fabuliert sich eine Urwelt unter einer schützenden Atmosphärenglocke zusammen. Es irritiert bei der Lektüre überhaupt nicht, denn es passt sehr gut in eine zukünftige Märchenwelt, in der wackere Pioniersgestalten mit Pickel und Sieb durch den Raum reisen, weil Bodenschatzfunde auf einem Asteroiden einen neuen Goldrausch in Gang setzen, deren heimwehkranke Nutznießer sich dann von der Erde ausgerechnet Blumensamen liefern lassen …

Die Kombination einer eigenwillig interpretierten SF mit Elementen des definitiv Vergangenen ist ein weiterer Reiz der Biggs-Geschichten. Prendergast Biggs, Lancelots einflussreicher Onkel, ist natürlich ein altmodischer Gentleman mit Anzug und Taschenuhr. Weltraumfahrten werden praktisch ausschließlich als Handlungsreisen unternommen. Käptn Hansen und seine Crew fliegen stets mit der Knute ihrer Gesellschaft im Genick; der brachiale Kapitalismus des frühen 20. Jahrhunderts bestimmt diese Zukunft, den Bond als Zeitgenosse noch sehr gut kannte. Dieser passt gut zur Stimmung ständiger Drohung, die über dem |Saturn| schwebt: Können Schiff und Mannschaft ihre „Nützlichkeit“ für die Gesellschaft nicht mehr unter Beweis stellen, werden sie gnadenlos ausgemustert. In diesem Punkt wirken „Lancelot Biggs’ Weltraumfahrten“ gar nicht so witzig, aber allmählich wieder zeitgemäß …

„Finde immer erst die Theorie!“ Dies ist die Devise von Lancelot Biggs, den Bond ganz klassisch als genialen Tölpel zeichnet. Für das „normale“ Leben mit seinen Vorschriften und gesellschaftlichen Regeln ist Biggs völlig untauglich. Er kann von Glück sprechen, dass ihn sein reicher Onkel protegiert. Doch in einer Krise zeigt Biggs seine Qualitäten. Seine Lösungswege sind freilich ebenso unkonventionell wie sein Wesen. Er hat etwas von einem „idiot savant“, kann seine beachtlichen Fähigkeiten schwer steuern, sondern wird von ihnen beherrscht. Zu den großen Schwierigkeiten Biggs’ gehört deshalb seine Sprachlosigkeit: Ihm gelingt es nicht, seinen Mitmenschen mitzuteilen, welche famose Idee er gerade ausbrütet. Das passt sehr gut in Nelson Bonds Kram, denn genauso wie Käptn Hanson und seine Männer fragt sich auch der Leser, was dem kuriosen Raumvogel jetzt wieder eingefallen ist. Zum Klischee gehört es auch, dass gerade dieser linkische Kerl die Liebe einer schönen Frau erringt: Diana Hanson ignoriert Biggs’ offensichtliche Fehler, weil sie sogleich seine wahren menschlichen Qualitäten erkennt. Auch hier zeigt sich Bond als weniger als SF-Autor denn als Märchenerzähler.

Lancelot Biggs zur Seite steht eine Galerie angemessen schräger Typen. Da ist der viel geplagte Käptn Hanson, ein bärbeißiger, mit allen Wassern der Milchstraße gewaschener Veteran der Weltraumschifffahrt. Die raue Schale verbirgt – es ist keine Überraschung – einen weichen Kern, doch der muss sorgfältig gesucht werden, weil sonst Hansons Zorn über jene kommt, die ihn, den Profi, ärgern. Die Vorschrift ist des alten Käptns Bibel, was ihn Biggs’ Eskapaden besonders schwer erträglich werden lässt. Hanson ist lehrfähig, doch immer wieder wird das auf harte Proben gestellt, die er – die Dramaturgie erfordert es – nicht besteht und effektvoll aus der Haut fährt.

Erneut einem gern gepflegten Klischee folgend, hat ausgerechnet dieser bärenhafte, eisenharte Raumschiffer eine wunderschöne Tochter, die ihrem Vater im Wesen sehr gleicht – ein Zug, der in den Vereinigten Staaten sowohl um 1940 als auch um 1950 natürlich nicht allzu offen ausgelebt werden durfte, da Diana primär eine Frauenrolle verkörpert und ihre Existenzberechtigung darin besteht, bedroht & gerettet zu werden, damit sie der Held anschließend heiraten und zur Mutter machen kann.

Als treuer Partner und „Watson“, der als Erzähler fungiert, fungiert Bert Donovan, genannt „Sparks“ (= „Funken“ aber auch „lustiger Kerl“), was ein alter Spitzname für Funker ist, womit die Funktion dieses Mannes an Bord der „Saturn“ ausreichend definiert ist. Sparks ist ein „Mann aus dem Volk“, der es beruflich nicht weit gebracht hat, obwohl seine Intelligenz immer wieder durchscheint. Er ist nicht nur der Chronist des |Saturn|, sondern auch Biggs’ Verbündeter, denn er bewundert den unkonventionellen Nachwuchsoffizier, auf den er offenbar eigene, unerfüllt gebliebene Berufs- und Lebensträume projiziert.

Auch sonst wird der Bondsche Kosmos von wandelnden Klischees bevölkert. Piraten wirken wie einer Oper entsprungen, „Raumgangster“ sind offenbar aus Al Capones Chicago ausgewandert. Soldaten sind schneidig, Köche chronisch unfähig, Siedler aus dem „Wilden Westen“ der Asteroidenfelder knallharte Jungs. Sie runden das Bild eines zutiefst sympathischen SF-Klassikers ab, der fern jeden Blastergeballers und oft unverhohlen sentimental eine Geschichte erzählt, auf welcher der Staub so dick liegt wie auf einer alten Flasche kostbaren Weins. Es wird Zeit, dass diese für das deutsche Publikum wieder einmal aus dem Regal genommen wird – nur: Kann die junge Leserschaft, die von „Warhammer“- oder „Star Wars“-SF geprägt ist, mit Lancelot Biggs noch etwas anfangen?

Nelson Slade Bond (geb. am 23. November 1908) ist einer der letzten Überlebenden des „Goldenen Zeitalters“ der Science-Fiction, das gegen Ende der 1930er Jahre in einem schöpferischen Urknall der literarischen Welt eine Unzahl unsterblicher Klassiker des Genres bescherte. Seine Familie stammt aus Nova Scotia, wanderte jedoch noch vor 1910 nach Scranton im US-Staat Pennsylvania aus und zog nach dem Ersten Weltkrieg nach Philadelphia um. Der junge Bond arbeitete in den 1920er Jahren u. a. als PR-Agent, beschloss aber 1932 zu studieren und besuchte bis 1934 die Marshall University in Huntington, West Virginia. In diesem Jahr heiratete Bond und beschloss eine Karriere als Schriftsteller. Zunächst schrieb er Artikel, wobei er sich vor allem mit seinen Arbeiten über das Briefmarkensammeln über Wasser hielt.

Bald versuchte sich Bond auch als Geschichtenerzähler. Die zahlreichen „Pulp“-Magazine seiner Zeit boten einen zwar schlecht zahlenden aber aufnahmefähigen Markt. 1937 konnte Bond seine erste Story veröffentlichen, der er in rascher Folge viele, viele weitere folgen ließ: Er wurde ein Profi, der von den nicht gerade üppigen Honoraren leben musste, die von den Magazinen seiner Epoche gezahlt wurden, und folglich fleißig produzierte, was gerade gewünscht wurde. Freilich gelang es Bond, trotz dieser Beschränkungen seine eigene Stimme zu finden und zu behaupten. Während er in seinen frühen Schriftsteller-Jahren thematisch praktisch jedes Thema der klassischen Science-Fiction (Invasion, Zeitreise, Raumflug, Apokalypse usw.) aufgriff, prägte er (wenn ihm die Zeit blieb) seinen einfallsreich-schnurrigen Geschichten bald seinen trockenen, aus heutiger Sicht liebenswert verstaubten Sinn für Humor auf, den besonders seine Storys um den verschrobenen Anti-Raumhelden Lancelot Biggs unsterblich machten.

Bond arbeitete darüber hinaus für Radio, Fernsehen und Bühne. Seine Schriftstellerkarriere gab er Ende der 1950er Jahre weitgehend auf und kehrte in die Public Relation zurück. Später gründete er einen Laden für antiquarische Bücher. Nur noch selten schrieb er, blieb aber der SF-Szene verbunden. Mitte der 1990 Jahre erklärte er offiziell seinen „Rücktritt“ und wurde von den „Science Fiction Writers of America“ mit dem Titel eines „Author Emeritus“ geehrt. Seine persönlichen Unterlagen übergab Bond dem Archiv der Marshall University. Allerdings verfasste er noch seine Memoiren. Der fast hundertjährige Bond lebt heute in Roanoke, Virginia.

(Nelson Bond hat keine eigene Website, ist aber trotzdem im WWW stark präsent. Zu den ausführlichsten und schönsten Sites, die sich mit seiner Person und seinem Werk beschäftigen, zählt http://www.marshall.edu/library/speccoll/virtual_museum/bond/default.asp. Hier gibt es auch Links auf weitere interessante Bond- und SF-Websites.)

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