Graham Bowley – Kein Weg zurück: Leben und sterben am K2

Das Szenario ist ein Altbekanntes: Eine Tragödie während einer Expedition mehrerer Extrembergsteiger lässt sich in den Medien immer gut vermarkten. Das Publikum ergötzt sich am Schicksal der Verunfallten, die Zweifel ob der dringenden Notwendigkeit bzw. des Sinns hinter einem solchen Unternehmen werden wieder lauter, und wenn das Ganze auch noch genutzt wird, um direkt ein Buch darüber zu schreiben, fragt man sich regelrecht, ob die betroffenen Autoren schon darauf warten, sich endlich auf die verkaufsträchtigen, erfolgversprechenden Skandale zu stürzen.

Im Falle von Graham Bowley sieht die Sache allerdings ein bisschen anders aus. Als im August 2008 mehrere Menschen am zweithöchsten Berg der Welt den Tod fanden, interessierte sich der Journalist kein bisschen für die Extrembergsteigerei. Stattdessen lieferte er lediglich einen Bericht zur Tragödie ab, der es jedoch auf die Titelseite der New York Times brachte und in der Folge für viele Diskussionen sorgte, die auch an Bowley nicht spurlos vorübergingen. Dennoch war es für ihn zunächst nur eine Pflichtaufgabe, den weiteren Verlauf der Mission zu dokumentieren und die Leserschaft auf dem Laufenden zu halten.

Er reiste schließlich zu den Überlebenden, sprach mit Angehörigen, vertiefte sich immer weiter in die Materie und verspürte plötzlich selber diese Faszination für das Höhenbergsteigen und die großen Opfer, die Menschen dafür aufbringen, ihre extremen Ziele zu verfolgen, sodass er am Ende genügend Stoff für ein ganzes Buch und noch viel meehr beisammen hatte. In „Kein Weg zurück“ schildert er schließlich in Form eines realitätsnahen, authentischen Abenteuerromans, was am 1. und 2. August – zumindest den verlässlich erscheinenden Quellenangaben zufolge – wirklich am K2 passierte, und entführt seine Leser in eine Welt, in der es unter extremsten Bedingungen irgendwann nur noch um Leben und Tod geht!

Inhalt:

1. August 2008: Auf diesen einen Moment haben einige auserwählte Bergsteiger aus zahlreichen Nationen ihr Leben lang gewartet. Die Wetterbedingungen für die Besteigung des K2 sind so gut wie seit Monaten nicht mehr, die Vorbereitungen für den heiß ersehnten Gipfelaufstieg sind getroffen, und als in den ganz frühen Morgenstunden die ersten Expeditionen den Weg an die Spitze wagen, kann die wochenlang diskutierte Theorie nun endlich in die Praxis umgesetzt werden. Doch der Weg hierhin war bereits lang und beschwerlich.

Da eine Vielzahl verschiedener Nationen mit unterschiedlichen Expeditionen das Basislager säumt, wurde beschlossen, dass die Besteigung des Gipfels in zwei unabhängigen Etappen unternommen werden muss. Die Gefahr, in der pikantesten Zone des Berges, dem Flaschenhals, steckenzubleiben oder mit übermäßiger Gewichtsbelastung die seit Jahren ruhenden Eistürme des dortigen Seracs in Bewegung zu bringen, teilen sich die Mitglieder auf und entwerfen einen ‚Schlachtplan‘, an den man sich nach tagelangen Diskussionen nun auch zu halten gedenkt.

Dennoch scheinen die Planungen nicht bis in letzte Detail durchdacht, weil die einzelnen Gruppen beim Aufstieg andere Vorstellungen von der pragmatischen Vorgehensweise haben. Und so entsteht genau an jener Stelle, die alle Bergsteiger, die je den K2 besteigen wollten, am meisten fürchten, der erste Kollaps. An den Seilen entsteht ein Stau, die körperlich leistungsfähigeren Bergsteiger müssen ihr Tempo ungewollt drosseln, und dank dieser Verzögerungen sind die meisten dazu gezwungen, den letzten Grat viele Stunden später zu erklimmen, als es ursprünglich angedacht war.

Ein Serbe kommt ums Leben, ein Sherpa stürzt ebenfalls ab, doch der Strom zieht unermüdlich gen höchstem Punkt und erreicht diesen auch zu großen Teilen – allerdings zu einer Zeit, die für den noch beschwerlicheren Abstieg mehr als bedenklich ist. Und so kommt es bei der nächtlichen Rückkehr zu einer folgenschweren Tragödie: Gruppen werden getrennt, Teilnehmer müssen der enormen Erschöpfung Tribut zahlen, weitere Bergsteiger stürzen in die Tiefen, rettende Seile sind nicht mehr dort, wo sie vorher angebracht waren, Rettungsmissionen scheitern, und von den insgesamt 24 Menschen, die am 1. August ihr Ziel vor Augen hatten, werden 11 nicht mehr in ihre Heimat und zu ihren Familien zurückkehren …

Persönlicher Eindruck:

Bücher über Tragödien am Berg gibt es zuhauf, vor allem was das Thema 8000er anbelangt. Doch in den meisten Fällen handelt es sich hierbei um persönliche Erlebnisberichte, die in der Nachdokumentation oftmals auch Lücken oder Beschönigungen enthalten, welche die Darstellung zumindest in einzelnen Aspekten ein Stück weit unglaubwürdig erscheinen lassen. Insofern ist die Herangehensweise von Graham Bowley natürlich gerade deswegen begrüßenswert, weil er als neutraler Betrachter mit dem Thema umgeht und keine Wertungen in seine Geschichten einfließen lässt. Stattdessen stützt er sich auf den teils gegensätzlichen Aussagen von Beteiligten und Sachkundigen und gewinnt dadurch eine sehr authentische Perspektive auf jene Dinge, die sich am Schicksalsberg so vieler Bergsteiger ereignet haben.

Doch es ist nicht nur dieser Aspekt, der „Kein Weg zurück“ deutlich aus dem Wust an vergleichbaren Publikationen heraushebt. Auch die Tatsache, dass hier nicht bloß berichtet, sondern auch tatsächlich erzählt wird, trägt dazu bei. Die Dokumentation ist keine solche im klassischen Sinne, sondern eine tragische Geschichte, in welcher der Leser schnell mit den einzelnen Charakteren und Typen vertraut gemacht wird, schnell Sympathien entwickelt, mitfühlt, eine ähnliche Faszination für die Leidenschaft der ‚Hauptfiguren‘ verspürt und schließlich auch in sehr vielen Details ein Gefühl dafür bekommt, was dieser Berg und die hiermit verbundene Herausforderung bedeuten.

Bowley schmückt die Geschichte mit vielen Fakten aus, lässt dabei aber die emotionale Seite der Geschichte niemals außen vor. Einzelne Schicksale werden sehr genau beleuchtet, gleichzeitig aber auch dargestellt, wie der Tod am Berg sich auf das Verhalten der Mitreisenden auswirkt. Jeder kämpft am Ende ums eigene Überleben, das wird vor allem dann klar, wenn Leichen aufgespürt werden, Mitglieder der eigenen Expedition urplötzlich aus der Seilschaft gerissen werden oder die Sherpas bei ihrer Mission, den gut bezahlenden Kunden zufriedenzustellen, ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, nur um ihrem Job gerecht zu werden.

Speziell dieser Punkt wird in „Kein Weg zurück“ sehr deutlich, aber auch erschreckend zur Sprache gebracht: Die Träger und Helfershelfer müssen ihre Familien durchbringen und haben durch ihre Tätigkeit einen Weg gefunden, der Armut zu entkommen, müssen dabei aber darauf gefasst sein, jeden Tag mit ihrem Leben zu bezahlen. Bowley schildert auch ihr persönliches Schicksal, zeigt ihre Sorgen auf und präsentiert sie vor allem nicht als Menschen zweiter Klasse, so wie es im gleichen Zusammenhang schon sehr oft geschehen ist – und dieser Teil der Geschichte gefällt womöglich am besten.

Doch natürlich liegt das Hauptaugenmerk bei den einzelnen Todesopfern, dem unschönen, vergeblichen Kampf ums Überleben und ihrem teils unwürdigen Ableben, das in Sekundenschnelle über sie hereinbricht. Aber auch hier findet man feine Unterschiede: Der Autor geht zwar auf die Ursachen ein, verrennt sich dabei aber nicht in den Wahn, das Spektakuläre besonders herauszuarbeiten. Man lernt die Schützlinge, die an diesen beiden Augusttagen ihr Leben verloren haben, aus nächster Nähe kennen, findet aber keinen Anlass, lediglich die Tragödie zu begutachten. Dafür geschehen zu viele Dinge parallel, die zwar in einer sehr stark herausgearbeiteten Chronologie präsentiert, aber teilweise so rapide in die Erzählung eingeflochten werden, dass man vielleicht genau das erlebt, was den Bergsteigern auch durch den Kopf gegangen ist – nämlich dass der Tod ein hoher, aber zu erwartender Preis ist, dass man persönliche Verluste in Kauf nehmen muss, dass es aber direkt nach einem solchen Zwischenfall weitergehen muss, damit man nicht selber ebenfalls auf der Strecke bleibt.

Es sind erschreckende Eindrücke, angefangen bei der leichtsinnigen Planung über das noch leichtsinnigere Vorgehen am Berg bis hin zu den zahlreichen Opfern, die diese beiden Tage gefordert haben. Doch die Faszination, die von diesen Schilderungen ausgeht, die sehr lebensnahe Darstellung des Höhenbergsteigens und schließlich das gesamte Mysterium K2 werden in keinem anderen Buch so packend und mitreißend aufgefangen wie in „Kein Weg zurück“. Nicht nur begeisterte Alpinisten und Kenner der Materie werden anerkennen müssen, dass Bowley hier einen Text veröffentlicht hat, welcher der ganzen Thematik mehr als würdig ist!

320 Seiten, gebunden
Originaltitel: No Way Down. Life and Death on K2
Übersetzung: Karina Of, Ulrike Frey
ISBN-13: 978-3890293905
www.piper-verlag.de/malik