Stephan Brüggenthies – Der geheimnislose Junge (Lesung)

Das Kinderbordell im Schloss der Liebe

Ein Essen mit den Eltern seiner jugendlichen Freundin? Zbigniew, sprich Dz-big-niäff, Meier, Hauptkommissar im KK51 der Kölner City-Polizei Stolkgasse, hat ziemlich schlechte Laune, bevor er von seinem türkischen Kollegen Zeynel in einen vermeintlichen Routinefall hineingezogen wird: Ein Junge wird von seinen Eltern vermisst. Je mehr Meier über das vermögende Elternhaus und den wohlbehüteten Schüler eines Kölner Elitegymnasiums in Erfahrung bringt, desto sicherer ist er, dass der 15-jährige Timo einfach abgehauen ist.

Kurz darauf wird in Turin der Torso eines Jungen gefunden, der missbraucht und grausam verstümmelt wurde. Auf seinem Rücken eingezeichnet: eine Karte von Frankreich. Und obwohl der tote Junge nicht Timo ist, glaubt Zbigniew Meier an einen Zusammenhang. Auf eigene Faust macht er sich auf den Weg nach Houlgate in der Normandie – an jenen Ort, an dem Timo mit seiner Familie den letzten Urlaub verbracht hat und an dem sich sein Leben entscheidend verändern sollte. (Verlagsinfo)

Der Autor

Stephan Brüggenthies (* 1968 in Münster, Westfalen) ist ein deutscher Autor, Filmemacher und Filmkomponist. Stephan Brüggenthies studierte in Münster Betriebswirtschaft und Musikwissenschaft. Er wirkte in mehreren Bands mit, unter anderem „MOVEMENT“ (zusammen mit Newcolours-Sänger Gernot Bramkamp). Mit „New Harbour’s“, erschienen auf Funfactory/Rough Trade, landete die Band damals einen kleinen Clubhit.

Nach seiner Münsteraner Zeit wechselte Brüggenthies an die Filmakademie Baden-Württemberg, wo er zunächst Filmkomposition bei Oscarpreisträger Cong Su, dann Film & Medien bei Peter Märthesheimer & Christoph Fromm (Drehbuch) und Nico Hofmann & Lutz Konermann (Regie) studierte.

Seine Kurzfilme, unter anderem „Sind Sie Luigi?“ mit Claus Theo Gärtner und „Ein Bad voll Liebe“ mit Heinrich Schafmeister und Gabriela Maria Schmeide, wurden mehrfach ausgezeichnet. Seit 2001 lebt er in Köln. Seit 2003 ist er im Vorstand, seit 2005 Vorstandsvorsitzender des Filmbüro Nordrhein-Westfalen, dem Verband der kulturell orientierten Filmemacher in NRW. Seit 2006 ist Brüggenthies im Vorstand des Kulturrats Nordrhein-Westfalen.

Brüggenthies schrieb mehrere Folgen der ARD-Reihe Tatort (Fernsehreihe). Im Sommer 2009 erschien sein erster Roman, „Der geheimnislose Junge“, im Eichborn-Verlag. Der Roman gewann Anfang 2010 den MIMI (Krimi-Publikumspreis des Deutschen Buchhandels) und war nominiert für den Friedrich-Glauser-Preis (Bestes Debüt) 2010. Der Roman „Die tote Schwester“ erschien 2011 ebenfalls im Eichborn-Verlag. (Quelle: Wikipedia)

Der Sprecher

Matthias Keller, Jahrgang 1970, steht seit 1994 hauptberuflich am Mikrofon, u. a. moderierte er beim TV-Sender „Nickelodeon“. Als Bassstimme und Human Beatbox war er 17 Jahre lang mit der A-cappella-Comedy-Gruppe „U-Bahn Kontrollöre in tiefgefrorenen Frauenkleidern“ auf Tour. Seit 2009 kann man ihn als Solo-Entertainer erleben. (Verlagsinfo)

Die Bearbeitung des Textes erfolgte durch Wolfgang Koch und Christine Härle. Die Aufnahme erfolgte im Studio E9 in Offenbach.

Handlung

Das Verschwinden eines Eliteschülers scheint nur ein Routinefall zu sein, als Kommissar Zbigniew Meier ihn mit seinem Kollegen Zeynel übernimmt. Timo Lindner ging in Köln auf die Hildegardschule für Hochbegabte, verschwand aber vor zwei Tagen aus seinem Elternhaus. Wie sich herausstellt, lebt Timo in einem behüteten, aber „offenen“ Elternhaus, in dem es nur eine einzige abschließbare Tür gibt, nämlich die zum WC.

Das bringt Ziggy, wie er von seiner 17-jährigen Freundin Lena genannt wird, ins Grübeln. Wie würde sich so etwas auf die Psyche eines 15-Jährigen auswirken? Außerdem besaß weder Handy noch Computer, von einem DVD-Spieler ganz zu schweigen. Offenbar hat Timo stets nur gelesen und Musik gehört. Die Partituren sprechen Bände. Aber im Laufe einer gründlichen Durchsuchung des WCs findet Ziggy – trotz eines schmerzhaften Bandscheibenvorfalls – ein Versteck hinter einer Fliese. Für was?

Durch Lena findet Ziggy näheren Kontakt zu den Schülern der Hildegardschule. Timo schwärmte für ein rothaariges Mädchen namens Anna. Und die erzählt, dass sie gesehen habe, wie Timo mit einem Handy telefonierte und dabei französisch sprach. Beides verblüfft Ziggy zutiefst. Bei den Linders fällt ihm die Postkarte auf, die Timo aus dem Urlaub in der Normandie an sein Kindermädchen Birte Krüger schrieb. Weiß die alte Frau, die nach einem Schlaganfall im Krankenhaus liegt, wohin Timo am ersten Tag, an dem er ganz allein zu Hause war, verschwunden ist?

Eine Nachricht aus Turin bringt Ziggy auf den Weg nach Italien. Commissario Barrico zeigt ihm den Fundort einer Jungenleiche, die auf der Baustelle in einem Vorort gefunden wurde. Der Kopf fehlt, was die Identifizierung erheblich erschwert. Aber der Gerichtsmediziner Prof. Parioli kann einen DNS-Vergleich anstellen. Nein, dies ist nicht Timo. Aber merkwürdig ist an der Leiche schon einiges: Der Junge wurde vor seinem Tod über einen längeren Zeitraum schwer misshandelt und sexuell missbraucht. Und auf seinem Rücken finden sich die Umrisse einer Karte von Frankreich …

Den ersten Rückflug bricht Ziggy noch auf der Startbahn ab – die Sache mit der Karte lässt ihm keine Ruhe. Und warum hat der Mediziner dieses auffällige Merkmal nicht bemerkt? Auf dem zweiten Rückflug wird Ziggy von einer eleganten Enddreißigerin angebaggert, die auch aus Köln stammt, wie sie sagt. Sie nennt sich Barbara Plath, scheint einsam und will ihn unbedingt wiedersehen.

Als Ziggy endlich auf die Texte stößt, die Timo auf der Toilette schrieb und dort versteckte, muss er einen Code knacken, der auf einer bestimmten Musikpartitur basiert: Hector Berlioz‘ „Symphonie fantastique“. Da hat Ziggy einen verrückten Einfall: Ob wohl Barbara etwas von Partituren versteht? Er ruft sie an und siehe da – Volltreffer! An dieser Frau ist wirklich mehr dran, als er vermutet hat. Doch unser wackerer Kommissar ahnt nicht, wie viel mehr.

Als er in die Normandie fährt, um Timo auf die Spur zu kommen, tauchen Barbaras Hintermänner auf, und sie bringen blaue Bohnen mit. Was weiß Timo, das sie bedroht?

Mein Eindruck

Das Garn, das der routinierte Tatort-Drehbuchautor spinnt, ist überraschend spannend. Natürlich packt er sämtliche Tricks seines Handwerks aus, um den Leser bzw. Hörer bei der Stange zu halten. Aber er tut dies ebenso wirksam wie unauffällig. Am Ende jeder CD gibt es eine überraschende Wendung, die einem Cliffhanger gleichkommt. Klar, dass man sofort erfahren will, wie die Geschichte weitergeht.

Dass dies im Gegensatz zu dem, was der Titel vermuten lässt, keine Kindergeschichte ist, wird auf vielfältige Weise deutlich. Zunächst einmal sollte in einer Kindergeschichte kein misshandelter und ermordeter Junge ohne Kopf auftauchen. Zum anderen sollte eine 17-Jährige ihrem Lover keinen Blowjob geben, kaum dass sie zur Tür herein ist.

Die Erotik ist ein Handlungselement, das der Autor raffiniert in regelmäßigen Abständen einstreut. Nicht nur Lena ist scharf auf den Cop mit dem unaussprechlichen Namen Zbigniew, sondern auch praktisch jede Frau, die eine größere Bedeutung hat, also auch Tonia Lindner und vor allem Barbara Plath (oder Klausner, wie sie wirklich heißt). Während Tonia sich als ein Inzestopfer herausstellt, erweist sich Barbara als Callgirl. Ironisch wirkt dann ihre Angabe, sie sei „im öffentlichen Dienst“. So kann man Prostitution auch bezeichnen.

Die Frage, die Ziggy zunehmend zu schaffen macht: Wem von diesen Frauen kann er überhaupt vertrauen? Sie alle führen ein heimliches Doppelleben, wie sich zeigt. Aber auch Ziggy selbst muss mehr als einmal ein Anderer sein, um sich Vertrauen zu erschleichen und Dienstleistungen zu erhalten. Bei der süßen französischen Rezeptionistin Nathalie gibt er sich etwa als Bruder von Olaf Lindner aus, der unbedingt das gleiche Hotelzimmer in Houlgate haben will wie im Sommer Timo Lindner und seine Eltern. Hier zeigt sich, dass Nathalie etwas mit Olaf Lindner hatte, und als Tonia dies herausfand, musste er hastig abreisen. Dies war dann die Gelegenheit für eine andere Frau, sich an Timo heranzumachen und ihn nach Frankreich zu locken.

Pädophile Prostitution

Tja, Timo – wo ist er überhaupt? Die meiste Zeit fungiert er als Leerstelle, als personifiziertes Rätsel und Geheimnis. Erst im französischen Finale (es gibt auch ein deutsches) spielt Timo eine gewisse Rolle. Wie schon Ziggy vermutet hat, ist Timo an einen Pädophilenring geraten, der für reiche Kunden Kinder in einem französischen Schloss gefangen hält, um sie zu prostituieren.

Besonders bitter ist für Ziggy die Erkenntnis, dass sich die Rädelsführer in Köln aufhalten müssen. Das deutsche Finale erhält seinen besonderen Knalleffekt dadurch, dass der Kopf der Bande in einem NRW-Ministerium sitzt. Natürlich hat Ziggy wieder mal eine seiner regelmäßig auftauchenden „verrückten Ideen“, um den Zusammenhang zwischen Köln und der Uni Münster zu sehen. Dort gingen der Minister und Professor Parioli zusammen ihren Studien nach – die sich offenbar vor allem Kindern widmeten.

Eine Anleihe

Eine weniger „verrückte Idee“ ist es, wenn Zbigniew ein Zitat von Hannibal Lecter aus dem Roman „Das Schweigen der Lämmer“ von Thomas Harris entlehnt und dieses Zitat nicht einmal kenntlich macht: „Was begehren wir? Wir begehren das, was wir täglich sehen und womit wir aufgewachsen sind.“ Diese Erkenntnis passt auf den Mörder „Buffalo Bill“ und den „Roten Drachen“ Dolarhyde ebenso wie auf den NRW-Minister im vorliegenden Roman.

Die Handlung schlägt weiterhin Haken, bis die Gdanken von Ziggy und Tonia das Entsetzlichste denken müssen: Dass Olaf Lindner, der ja nicht Timos leiblicher Vater ist, sein Kind an den Pädophilenring unter dem Minister verschachert hat, um einen architektonischen Großauftrag in Köln zu erhalten. Das lässt auf die Einstellung des Autors schließen, die sich mit der Linie der CDU deckt: Wir müssen unsere Kinder, die unsere Zukunft sind, statt sie unserem wirtschaftlichen Erfolg zu opfern. Dies ist die eigentliche Aussage des Buches. Und nur wenige würden ihr widersprechen.

Der Sprecher

Man merkt, dass Matthias keller eine Affinität zum Schauplatz der Handlung hat. Der Kölsche Akzent, den er Ziggys Kollegin Sabine Pütz in den Mund legt, klingt authentisch. Aber in gleichem Maße beherrscht Keller das Französische, das Ziggy etwa gegenüber Nathalie und anderen Leuten in Houlgate benutzt.

Der Sprecher charakterisiert die Figuren in erster Linie durch emotionale Äußerungen. Diese reichen vom einfachen Fauchen oder Flüstern bis hin zum lauten Rufen und sehr selten auch Brüllen. Sehr eindringlich ist Tonias Darstellung, besonders wenn sie verzweifelt klagt und schluchzt. Da stößt die Glaubwürdigkeit des Sprechers an ihre Grenzen.

Die weiblichen Figuren haben alle in etwa die gleiche, etwas höhere Stimmlage als die männlichen Figuren. Bei diesen gibt es wesentlich mehr Variation, denn bei tiefen Stimmlagen ist der Sprecher flexibler. So klingt Commissario Barrico aus Turin wesentlich tiefer als etwa Ziggys türkischer Kollege Zeylan (ausgesprochen „sedschán“).

Die Kürzungen am Text führen manchmal zu etwas Verwirrung, weil unvernittelt neue Infos eingeführt werden. Aber das hält sich in Grenzen, finde ich. Schade, dass es weder Toneffekte noch Musik noch Geräusche gibt. Offenbar musste der inzwischen pleitegegangene Eichborn-Verlag sparen.

Unterm Strich

Spannend ist dieser Thriller vor allem durch die ständig zu lösenden Rätsel, die Kommissar Meier reihenweise entdeckt, obwohl der verschwundene Timo Lindner angeblich überhaupt keine Geheimnisse zu verbergen hat – die Ironie ist überdeutlich. Der anfänglich aufscheinende Humor mit der sympathischen Selbstironie – der Kommissar als Schwarzfahrer, höhö – verfliegt jedoch zunehmend, je mehr der Ernst der Gefahr, in der sich Timo befindet, klar wird. Timos angeblich imaginiertes „Schloss der Liebe“ erweist sich als reales Chateau d’Amour, in dem Liebe zum Horror wird.

Tatsächlich erinnert so manches Detail an Thomas Harris‘ „Schweigen der Lämmer“, nicht zuletzt das direkt Hannibal Lecter aus dem Mund genommene Zitat über das, was wir begehren. Begehren, Horror und Kommerz gehen in Timos Geschichte eine enge Verbindung ein. Die Botschaft ist deutlich: Wenn wir anfangen, unsere Kinder für den Kommerz und persönlichen Vorteil zu opfern, verdienen wir keine Gnade, sondern nur Strafe.

Für so manchen Thrillerfreund bietet die nur für Erwachsene geeignete Geschichte allerdings zu wenig Action. Selbst der Beschuss durch Scharfschützen wird von Zbigniew nur passiv hingenommen, statt dass er sich wehrt, um Tonia zu verteidigen. Ein amerikanischer Romanheld wie etwa Jack Reacher (bei Lee Child) hätte sicherlich ganz anders reagiert.

So setzt sich der Thriller zwischen einige Stühle: Er ist fast unverfilmbar, weil dann die Sexszenen wegfallen müssten und man das „Schloss der Liebe“ aus einem Kinderbordell zu einer Art Waisenhaus mit Missbrauch machen müsste. Nur wagemutige Regisseure würden es beim Original belassen, schätze. Und für einen „Tatort“ ist dies möglicherweise zu starker Tobak. Und natürlich viel zu lang. Das heißt aber nicht, dass einem die Geschichte als Buch oder Hörbuch nicht gefallen könnte.

Das Hörbuch

Der Sprecher erweist sich als durchaus kompetent. Seine Stärke liegt in der emotionalen Darstellung der Figuren, insbesondere der Frauen. Man merkt an einigen Stellen, dass der Text des Buches gekürzt wurde. Schade auch, dass es weder Geräusche noch Musik gibt. Dafür ist das Hörbuch inzwischen sehr preiswert ab 5 Euro zu bekommen.

7 Audio-CDs mit 560 Minuten Spieldauer
Gelesen von Matthias Keller
ISBN-13: 978-3821863184

http://www.eichborn.de

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