Burnett, David / Salewicz, Chris / Murray, Chris – Bob Marley – Soul Rebel

_Guru oder Protestsänger? Marley ohne Nimbus_

Am 6. Februar 2009 wäre Bob Marley 64 Jahre alt geworden. Zu diesem Anlass erscheint der vorliegende prachtvolle Bildband, der ausgezeichnete und zum Teil unveröffentlichte Fotos vom Karrierestart eines der einflussreichsten Musiker des vorigen Jahrhunderts zeigt, darunter viele Fotos von der ersten Exodus-Tour 1977 durch Europa. Die Aufnahmen stammen vom |TIME|-Fotografen David Burnett, der den Musiker vor Ort in Kingston besuchte und ihn auf seiner Tournee begleitete.

_Die Autoren_

1) Der Fotograf: David Burnett

Burnett, geboren 1962 in Salt Lake City, begann seine Karriere 1967 als Praktikant beim |TIME Magazine|. Von 1970 bis 1972 berichtete er für die Zeitschrift |Life| über den Vietnamkrieg. 1975 war er Mitbegründer der Agentur |Contact Press Images| in New York City. Burnett reiste in über 75 Länder und veröffentlichte Fotoreportagen in |Time|, |Life|, |Fortune|, |The New Yorker| und |The New York Times Sunday Magazine|. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen.

2) Autor des Vorworts: Chris Salewicz

Der Journalist Chris Salewicz schreibt seit mehr als 20 Jahren über Popkultur, besonders über Reggae, Er war für den |New Musical Express| (NME) tätig, arbeitete für die |Sunday Times|, |The Face| sowie die Zeitschrift |Q| und schrieb die autorisierte Biographie „Bob Marley: Songs of Freedom“. Mit „Rude Boy“ veröffentlichte er seine Erinnerungen an die Insel Jamaika. Er war verantwortlich für das Booklet der preisgekrönten Vier-CD-Box „Tougher than Tough: The Story of Jamaican Music“ und schrieb mit am Drehbuch zu dem jamaikanischen Actionfilm „Third World Cop“.

|3) Autor der Einleitung: Chris Murray|

Chris Murray ist Gründer und Leiter der |Govinda Gallery| in Washington, D.C. In mehr als 30 Jahren hat er über 200 Ausstellungen organisiert, oft mit den führenden amerikanischen Künstlern. Murray zeigte in den 1970er Jahren Andy Warhol und veranstaltete 1983 die erste Ausstellung der Starfotografin Annie Leibovitz. Seit damals hat sich die |Govinda| zu einer der innovativsten Galerien der Vereinigten Staaten entwickelt.

_Inhalte_

|a) Texte|

Wie nähert man sich einem Idol? Sehr vorsichtig und schrittweise. Deshalb gibt es a) ein Vorwort, b) eine Einleitung und c) die eigentlichen Begleittexte zu den vier Kapiteln.

|Das Vorwort|

Salewicz holt in seinem Vorwort gleich das Weihrauchgefäß raus und beginn es über dem „klassischen mythologischen Helden“ Bob Marley zu schwenken. Das ist leider wenig hilfreich, denn Weihrauchwolken tendieren dazu, die Sicht auf die wirklichen Dinge zu vernebeln. Eine Aufzählung von Stilisierungen taugt nicht, um diese Wolken zu vertreiben. Zur Sache kommt der offenbar ergriffene Journalist erst in der dritten Spalte, als er endlich die Biografie des derart auf den Sockel gehobenen Stars erzählt.

Robert Nesta Marley wurde am 6. Februar 1945 in Nine Miles in der Gemeinde Saint Ann auf Jamaika geboren. Sein Vater, ein britischer Offizier, verließ ihn zweimal, einmal nach der Geburt in Nine Miles und etwa neun Jahre später erneut in der rauen städtischen Umgebung von Kingstons Slumviertel Trenchtown. (Marley singt über Trenchtown in einem seiner bekanntesten Songs, „No Woman No Cry“.) 1964 begann er seine Musikkarriere mit den |Wailers|, ergatterte in London bei |Island Records| einen Plattenvertrag und verkaufte von seinem 1982 posthum veröffentlichten Album „Legend“ 15 Millionen Kopien – was für ein Aufstieg.

Marley starb am 11. Mai 1981 an Krebs. Dazwischen lag eine mühevolle und einzigartige Karriere, die der Autor detailliert beschreibt, in der neuen Musikrichtung des Reggae. (Um was es dabei geht, muss hier aus Platzgründen vorausgesetzt werden, außerdem will ich keine Eulen nach Athen tragen.) Heute sei Marley einer der wichtigsten Musiker der Dritten Welt, praktisch auf einer Stufe mit John Lennon, und zwar vor allem wegen seiner Botschaft aus Liebe und Freiheit.

|Die Einleitung|

… wird wesentlich konkreter, indem Murray, der Galeriebetreiber aus der US-Hauptstadt, erst den Fotografen Burnett beschreibt und dann dessen Aufenthalt auf Jamaika, bei dem es zu den Aufnahmen mit Marley kam. Burnett und seine journalistischen Gefährten sollten 1976 das neue Phänomen des „Reggae“, einen Nachfolger des Rocksteady (1966 ff) kennenlernen. Sie stießen an der Nordküste auf eine rebellische Subkultur, komplett mit Religion, chiliastischem Heilsversprechen und weltlichem Gott, dem äthiopischen Kaiser Haile Selassie – wow! Und dann rauchten diese Musiker auch noch Ganja – Marihuana – am laufenden Band – cool!

Gar nicht so cool war die Szene, auf die sie in der Hauptstadt Kingston trafen. Zwei Parteien standen einander bis an die Zähne bewaffnet gegenüber, und wer in die Zone der anderen geriet, war des Todes. In diese Auseinandersetzungen, die das Land zerrissen und die Bevölkerung dezimierten, geriet auch der aufstrebende Musiker und Freiheitspoet Robert Marley. Er wurde mitsamt seiner Frau und seinem Manager niedergeschossen. Glücklicherweise wurde bei diesem Attentat niemand getötet, aber Verletzungen hinterlassen nicht nur äußerlich ihre Spuren.

Es sind solche umwerfenden Informationen, die auch Salewicz hätte bringen können. Doch stets ist es die Frage für einen Autor, ob er sich mehr auf die Musik bzw. das Werk eines Künstlers konzentrieren soll oder auf dessen Biografie. Salewicz kümmert sich um beides und weiß doch nicht recht zu befriedigen. Ich kann jedenfalls nicht behaupten, dass ich wüsste, was Marley antrieb. Aber die genannten erschreckenden Fakten über Kingstons Beinahe-Bürgerkrieg vermitteln doch eine Ahnung dessen, worum es bei Marley gegangen sein muss: Freiheit, Versöhnung, Liebe, kurzum: Erlösung.

|Die Kapiteltexte|

Endlich kommt der Fotograf selbst zu Wort. Burnett bemüht sich um Fassung und Selbstkontrolle, doch vielfach kann er nicht umhin, das Objekt seiner Aufnahmen zu loben: die Geduld, die Freundlichkeit, die hochintelligente und doch innovative Redeweise des bekannten Jamaikaners. Man kann also nicht sagen, dass er, wie manche von Marleys Fans, den Musiker für den wiedergekehrten Jesus hielt. Das ist wahrlich eine Erleichterung.

Ein Fotograf war damals noch in der heute völlig undenkbaren Lage, einen Star direkt und ohne PR-Geschwader aufzunehmen und ihm sogar Regieanweisungen zu geben, selbiger Star möge doch kurz mal fünf Meter rennen, damit er mit seiner Spezialkamera ein Bild anfertigen könne. Auch die Close-up-Bühnenfotos von den Konzerten in Europa wären heute so nicht mehr zu machen. Burnett gehörte damals praktisch zur Familie, kickte Fußball, begleitete den Soundcheck, fuhr im Tourbus mit. Hoffentlich kochte er auch mal Kaffee.

|b) Fotos|

Der Bildteil des Bandes ist gewissermaßen viergeteilt. Nach einem einleitenden Teil mit allgemeinen Fotos von Marley folgt ein Backgrounder. Der Fototrip der Amis begann 1976 ja in Ocho Rios an der Nordküste. Dort spielten Vorläufer Marleys wie die Band |Burning Spear| und natürlich Peter Tosh. Dieser Hintergrund, der das Phänomen Marley erst möglich machte, ist wichtig, um die Entstehung Marleys und des Reggae verstehen zu können.

Der zweite und wesentlich umfangreichere Teil stellt uns den Meister himself vor. Die Aufnahmen erfolgten vor und in seinem Haus in Kingston. Er trägt die Dreadlocks, den Negus-Bart, ein weißes Hemd, eine Westerngitarre mit dem Foto des Negus darauf (Negus: Kaiser Haile Selassie von Äthiopien, der „Löwe von Juda“). Und fast immer befindet sich in seinen Fingern ein Joint von Ganja. (Marley starb unter anderem an Lungenkrebs.)

Doppelseitige, ausklappbare Schwarzweißfotos machen das Idol tauglich zum Poster fürs Teenie-Zimmer – und vielleicht auch für die eine oder andere Galerie. Hier sieht man „das Weiße im Auge“ des „monstre sacré“, wie die Franzosen sagen.

Den letzten und farbigsten, geradezu farbenfrohe Teil bestreiten die Fotos, die 1977 auf der „Exodus“-Tour aufgenommen wurden. Aufnahmen auf, vor und hinter der Bühne vermitteln fast schon das Gefühl, live dabei zu sein. Im Mittelpunkt steht häufig Marley solo, aber er hatte auch eine Menge Mitstreiter, darunter die Begleitmusiker und Choristinnen. Die Credits und Danksagungen schließen diesen Teil ab.

Ich will nicht verschweigen, dass ich zwischen Seite 109 und 112 auf beschädigte Seiten stieß. Das Papier war am unteren Seitenrand, nahe beim Bund, eingerissen. Hier ging offenbar beim Druck etwas schief. Um diesen Fehler zu vermeiden, sollte der Käufer darauf achten. Das ist allerdings schwierig, wenn das Buch, wie meines, in eine Plastikfolie eingeschweißt angeboten oder geliefert wird.

_Mein Eindruck_

Es ist heutzutage schwer geworden, sich einem Künstler so stark zu nähern, wie es David Burnett 1976/77 konnte. Da ist man heute auf die Gunst der PR-Maschinerie angewiesen. Burnett stellt in seinem Text selbst einige Vergleiche an, die nicht gerade schmeichelhaft für den heutigen Medienbetrieb ausfallen. Deshalb wirken seine Aufnahmen von einem Bob Marley ohne jedes Brimborium authentisch, sympathisch und glaubwürdig. Hier wurde nicht retuschiert, und von einer digitalen Bearbeitung konnte man 1976 nur träumen.

Das bedeutet aber nicht, dass die Fotos nun grobkörnig wie in einer Schnupftabakdose daherkämen. Ganz im Gegenteil. Die Bilder sind besonders bei den Bühnenaufnahmen derart hochauflösend, dass keinerlei Korn festzustellen ist. Die einzigen Aufnahmen, die Werkstattcharakter aufweisen, sind die Kontaktabzüge auf Seite 66/67. Sie vermitteln einen Eindruck davon, wie ein Fotoreporter mit seinem Ergebnis arbeitet: streichen, akzeptieren, vergrößern, einen Ausschnitt nehmen usw. Das ist Fotografie alter Schule, die möglicherweise gar nicht mehr gelehrt bzw. gelernt wird.

Sehr willkommen ist die Abwesenheit jeder Art von Spezialeffekten, wie etwa Strahler, Speziallinsen, Filter oder gar Überblendungen. Das Ergebnis ist pure Fotografie im Sinne eines Capra oder Bresson, den großen Vorbildern Burnetts: verité. Man kann sich sehr gut Burnetts Bilder vom Vietnamkrieg vorstellen (sein Kollege nahm das bekannteste Foto dieses Kriegs auf: das schreiende nackte Mädchen, das vor einem Napalmangriff flieht). Wenn Marley jemals ein Heiliger war, dann holen ihn diese Fotos wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Auch Jesus war zuerst und vor allem ein Mensch.

|Die Übersetzung|

Bis auf ein oder zwei vergessene Buchstaben („senen“ statt „seinen“) konnte ich keine Fehler finden. Die Übersetzung hält sich, dem Sprachstil nach zu urteilen, häufig eng an das Original. Das ist zum einen gut, wegen der Worttreue, zum anderen wirkt aber der Stil im Deutschen dann nicht mehr so flüssig. Ich lege mehr Wert auf die Worttreue.

_Unterm Strich_

Das Titelbild zeigt einen Mann mit einer Klampfe – einer ganz speziellen: sie trägt (verdeckt) das Foto des Kaisers Haile Selassie, was den Mann als einen Rastafarian ausweist. Dieser „Soul Rebel“ hat also nicht nur Musik zu geben, sondern ist erfüllt von einer Religion und einer Botschaft, ein Mann auf einer Mission. Die Botschaft lautet Freiheit, Liebe, Versöhnung, kurzum: Erlösung. Songs wie „I shot the sheriff“, „Get up stand up“ und „Redemption Song“ (eben der „Erlösungs-Song“) lösten die Mission ein und trugen sie rund um die Welt. Marley hat in manchen Kreisen, wen wundert’s, den Status eines Gurus und Heiligen.

Daher war ein Bildband wie der vorliegende, der ihn vom Sockel holt, durchaus notwendig. Auch wenn Marleys Familienleben komplett ausgeblendet ist (es sei denn, man rechnet die Tourneebus-Crew dazu), erscheint er nun nur wie der logische Exponent einer Bewegung, die schon in Burning Spear, Peter Tosh, Jimmy Cliff und Johnny Nash wichtige Vertreter hervorgebracht hatte, bevor er in den Vordergrund trat. In diesem Band ist er wieder der Mann mit der Klampfe, teils Protestler in Bob-Dylan-Manier, teils Prediger einer besseren Welt.

Als Bilddokumentation erfüllt dieser Band seine Aufgabe ausgezeichnet und kann sogar als Posterfundus dienen. Die Begleittexte machen neugierig auf den Menschen Marley und auf die Insel, auf der der Reggae erfunden wurde. Burnett nimmt uns quasi mit auf eine Expedition in den unbekannten Kontinent des Reggae, wo die Dreadlocks-tragenden Rastafari in letzten Exemplaren vorkommen sollen, die sicherlich kurz vor dem Aussterben stehen. Zum Glück stießen Burnett und seine schreibenden Kollegen nicht auf das „Herz der Finsternis“ (außer in Kingston), sondern auf ein neues Licht, das von einer befreienden Botschaft und einer wichtigen neuen Stimme verbreitet wurde: Bob Marley. So, jetzt hab ich mein Scherflein zur Heiligenlegende beigetragen.

Dass der Erwerb eines solchen Bildbandes nicht ganz billig ist, dürfte wohl einleuchten, aber gebrauchte Exemplare wird es nicht so schnell geben: Es ist einfach ein Sammlerstück. Und wenn die Papierqualität stimmt (siehe oben), will es wohl kein Sammler so schnell wieder hergeben.

|Originalausgabe 2009 bei Insight Editions, San Rafael, CA, USA
Aus dem US-Englischen von Madeleine Lampe
Vorwort von Chris Salewicz
Einleitung von Chris Murra
144 Seiten Großformat, mit zahlreichen Farb- und Schwarzweißfotos und 4 Ausklapptafeln
ISBN-13: 978-3-89602-873-0|
http://www.schwarzkopf-schwarzkopf.de