Buschheuer, Else – Masserberg

_Elses Zauberberg_

„Masserberg“ ist sowohl ein erotischer „Zauberberg“ als auch ein spannender Stasi-Roman. Die Autorin von [„Ruf! Mich! An!“ 1338 kehrt sich hier ab von ihrem erotischen Szene-Thriller und wendet sich weitaus ernsteren Themen zu, weiß diese aber auch in ernst zu nehmender Form zu präsentieren. Die Themen sind sowohl höchst intim und privat, doch selbst das Privateste war der Stasi ja auch eminent politisch. Vielleicht hilft dieses Buch, die Bewohner des ehemaligen anderen deutschen Staates besser zu verstehen.

_Handlung_

Die 17-jährige Melanie Tauber tritt im Frühjahr 1984 einen Klinikaufenthalt in Thüringen an, um ihre Augenkrankheit, eine „Iridozyklitis“, behandeln zu lassen. Die Klinik auf dem Lerchenberg ist so etwas wie der „Zauberberg“, nur eben für die DDR-Gesellschaft, fünf Jahre vor dem Fall der Mauer. „Einmal Masserberg, immer Masserberg“ wird sie von den halb blinden Omas auf ihrem Zimmer begrüßt.

Na toll, denkt sie sich und macht sich sofort daran, ihren diversen Verehrern daheim zu schreiben. Die besorgen ihr schöne Sachen zum Anziehen und zum Schminken, so dass Mel in der Einheitsarchitektur der Klinik aussieht wie ein kecker Paradiesvogel – und entsprechend viel Neid, Missgunst und Geilheit weckt. Ihre Weigerung, sich lebendig begraben und reglementieren zu lassen, ruft diverse Ordnungs- und Überwachungskräfte auf den Plan, allen voran „der Marxist-Leninist“, der sich durch sein Sächseln lächerlich macht. Aber auch der kubanische Arzt Carlo Sanchez hat ein Auge auf Mel geworfen – in jeder Hinsicht …

Einige von Mels fernen Verehrern sind mit den Vorbereitungen der Flucht in den Westen beschäftigt. Die Stasi, so zeigt sich, hat ein Auge auf die Verbindung zu Mel und aktiviert daher ihren „Inoffiziellen Mitarbeiter“ (IM) „Skalpell“, um mehr darüber herauszufinden. IM Skalpell heißt mit bürgerlichem Namen Carlo Sanchez. Wegen einer dummen Geschichte, die mit der Beleidigung eines Honecker-Porträts zu tun hat, geriet er in die Klauen der Stasi: „Entweder Sie arbeiten für uns und wir bezahlen Sie, oder Sie gehen zurück nach Kuba.“ Sanchez‘ Leben ist fortan eine einzige Lüge.

Was Sanchez nicht vorhersehen kann: Er, der verheiratete Ehemann, verliebt sich bis über beide Ohren in die freche neue Patientin, besonders nachdem er sie bei ihren frühmorgendlichen Sprechproben gesehen hat. Sie probt klassische Gedichte, und zwar trägt sie diese mit einer solchen Inbrunst vor, dass selbst ein IM beeindruckt ist.

Es kommt, wie’s kommen muss. Auch Mel verguckt sich in den Arzt, der so ganz anders aussieht und sich verhält als der Rest der Belegschaft. Sie treffen sich zu Stelldicheins im Wald, und es ist eine Freude mitzuerleben, wie Mel, die zusehends schwächer wird und schon Schlaftabletten für ihren Selbstmord hortet, wieder aufbüht. Nach angemessener Zeit merkt sie, dass sie schwanger ist und will „ihren“ Arzt am 18. Geburtstag heiraten. Doch Sanchez ist durch die Stasi-Forderungen in einen Gewissens-, nein, in einen Herzenskonflikt geraten: Er soll Mel verraten und ihr Tagebuch besorgen. Es kommt, wie’s kommen muss: nämlich zu einer Katastrophe.

_Beobachtungen_

„Masserberg“, das weiß die Autorin auch, ist zu einem Gutteil „Zauberberg“ von Thomas Mann, also ein Brennglas der damaligen Gesellschaft, verarbeitet aber auch zahlreiche eigene Erfahrungen und Erlebnisse der Autorin. So tauchen darin nicht nur Todkranke auf, sondern auch quicklebendige Originale, deren Dialekt (Itzgründisch etc.) schon fast ausgestorben ist.

Buschheuer wurde 1965 in Eilenburg bei Leipzig geboren, war Thälmann-Pionier, FDJlerin, Mitglied des Rundfunk-Kinderchores Leipzig, dann aber auch Punk, Ehefrau (ein neuer Beruf?), Kartenabreißerin, Marktverkäuferin, Bibliothekarin, Buchhändlerin, Klatschkolumnistin, Reporterin, Redakteurin, Autorin und Fernsehansagerin. Heute ist sie bekannt als Autorin und Wetterfee bei Pro Sieben und N24. Dass sie selbst einmal Patientin in Masserberg war – „für einige sehr prägende Wochen“ sagt sie im Interview – hat sicher viel zum realistischen Eindruck beigetragen, den ihre Schilderung dieses Ortes vermittelt.

Nach dem Lesen des Buches konnte ich mir eine genauere Vorstellung von diesem fremden Land und seiner noch fremderen Gesellschaft machen. Ich erinnerte mich an eigene Bekannte in Magdeburg und Thüringen, die ich etwa zehn Jahre nach der Masserberg-Zeit kennen lernte. Die DDR-typischen Produkte waren bereits verschwunden, doch die baufälligen Häuser und Kirchen erinnerten noch an den allgemeinen Zerfall dieses Landes. Die Autorin gibt die Zustände genau wieder, wichtiger sind aber die psychische Verfassung der Behördenvertreter (Stasi usw.) und noch viel mehr die der davon Unterdrückten.

Für meinen Geschmack musste ich ein wenig zu lange auf den Beginn der Liebesaffäre zwischen Mel und Sanchez warten – sie beginnt erst nach Seite 100 – und so steckte ich eine Zeit lang in der Mitte fest. Nach einem neuen Anlauf aber zeigte sich, dass sich von hier an die Handlung erheblich beschleunigte und besonders durch die Enttarnung des Stasi-Hintergrundes von Sanchez eine Spannung aufbaute. Da war klar, dass diese Story in eine Katastrophe münden würde, aber es war nicht klar, ob Mel, die ich schon lieb gewonnen hatte, überleben würde.

_Fazit_

Für „Masserberg“ sollte man Geduld mitbringen. Es ist ganz anders als ihr erster Bestseller. Es gibt zwar auch komische Szenen und viel Ironie, aber die ernsten, realistischen Szenen überwiegen bei weitem.

Denn ebenso wie „Zauberberg“ ist ihr Buch ein Buch über Leiden. Es ist die Passion eines DDR-Teenagers, der stellvertretend für die junge Generation eines totalitären Staates steht. Insofern verkörpert Mel die Zukunft dieses Landes. Doch die Verhältnisse, sie erlauben diese Zukunft nicht. Und so bangt der Leser von Anfang an um Mel und ihre Gesundheit, aber auch um ihre Freiheit. Dies auf integre Weise vermittelt zu haben, ist keine geringe Leistung.