Cain, Chelsea – Gretchen

Das „Böse“ ist faszinierend. Doch warum ist es das? Das psychologische Profil von Serienmördern ist für Psychologen und Profiler der Ermittlungsbehörden ein packendes Thema. Man sagt, Genie und Wahnsinn lägen nahe beieinander, und vielleicht ist durchaus etwas Wahres an dieser These. Um einen Serienmörder aufzuspüren, muss man ihn psychologisch und gedanklich analysieren, um seine Taten zumindest verstehen zu können. Doch diese Methodik kann auch eine Gefahr für den Psychologen darstellen, denn wer begibt sich schon gerne in die seelischen Abgründe von Sadisten und Mördern? Kann hier eine Abhängigkeit entstehen oder noch schlimmer eine Sympathie, ein Verstehen für solch mörderisches Gedankengut?

Die Autorin hat mit ihrer Protagonistin Gretchen Lowell eine teuflisch, raffinierte Serienmörderin erschaffen, die schon in „Furie“ und „Grazie“ ihre Leser faszinierte.

Gretchen Lowell ist eine Psychopathin, die in den Medien als die „Beauty-Killerin“ bezeichnet wird. Sie hinterlässt auf ihren Opfern in Fleisch geschnitzte Herzen, eine makabere Visitenkarte. Ihr psychologisches Profil ist nicht transparent genug für die Ermittler. Die Mörderin hinterließ zahlreiche Hinweise, aber welche, das entschied nur sie selbst. Sie spielt nicht nur mit ihren Opfern, bevor sie diese grausam tötet, sondern auch ein gefährliches Spiel mit der Polizei, aber sie fungiert dabei als Spielleiterin und manipuliert ihre Gegner in jedem Zug.

Gretchen Lowell ist eine schöne, bezaubernde Frau. Sie ist hochintelligent und versteht es, fremden Menschen ihren Willen aufzuzwingen, bevor sie selbst wissen, was ihnen überhaupt geschieht.

Mit „Gretchen“ hat die Autorin Chelsea Cain ihre Serienmörderin wieder auf die Bühne geschickt. Und der dritte Teil verspricht genauso viel Spannung und Verführung wie die ersten beiden.

_Inhalt_

Detective Archie Sheridan war mal Leiter einer Sondereinheit, die nach einem berühmt-berüchtigten Serienmörder in Portland fahndete. Archie verlor damals alles, seine Familie, seinen Verstand, seine Milz, die ihm Gretchen Lowell ohne Anästhesie aus dem Körper schnitt. Jahrelang hat Archie die Serienmörderin gejagt, obwohl sie praktisch jeden Tag mit ihm als Psychologin zusammenarbeitete. Für und mit Gretchen hat Archie seine Frau betrogen. Ganz im Bann der attraktiven Serienmörderin, körperlich wie auch seelisch, war er ihr ausgeliefert. Archie wurde von ihr betäubt, gefangen und über mehrere Tage hinweg gefoltert, bis er so weit war, den Tod herbeizusehnen, doch Gretchen liebt es, verführerisch und zugleich morbide zu sein. Zwischen Archie und Gretchen entwickelt sich eine besondere Zuneigung, eine Abhängigkeit, eine Liebesaffäre, die nicht greifbar ist. Auch Gretchen hat Gefühle für Archie und rettet ihm das Leben, als sie sich selbst den Behörden stellt und damit ihrem Lover Archie das Leben rettet.

Selbst im Gefängnis hat Gretchen nichts von ihrer Bösartigkeit und ihrer Attraktivität verloren. Ihr liegt nicht die Rolle der passiven Inhaftierten, und sie spielt weiterhin mit Archie, der auf eine krankhafte Art Gretchen verfallen ist. Doch Archie, der seelisch und körperlich gebrochen ist, ist seit einigen Monaten zu Gast in einer psychiatrischen Klinik. Abhängig von Medikamenten und noch immer ein Opfer von Angst- und Panikzuständen, verkriecht sich der ehemals erfolgreiche Ermittler und sondert sich von der kranken Gesellschaft ab.

Die Medien sind fasziniert von der Person Gretchen Lowell und idealisieren ihre Taten. Inzwischen gibt es Fanclubs, und sogar die Mode setzt auf den Gretchen-Trend. Seit dem Tag, als Gretchen aus dem Gefängnis geflohen ist, wird jeder weitere Tag gefeiert, den die Serienmörderin auf freien Fuß ist.

Eine neue Serie von Morden erschüttert Archies Kollegen, denn die Opfer tragen als Zeichen das blutige Herz von Gretchen. Ist die untergetauchte Mörderin wieder aktiv und fordert erneut Archie auf, mit ihr zu spielen? Oder sind es gar Trittbrettfahrer, die auf den medialen Zug aufspringen, um sich ebenfalls einen unsterblichen Namen zu machen? Auch wenn es so aussieht, als würde Gretchen ihr erneutes Comeback feiern, so passen die Details nicht ins Gesamtbild. Die Taskforce benötigt dringend die Hilfe von Archie, denn keiner kennt Gretchen so gut wie er, niemand ist ihr jemals so nahe gekommen wie er, niemand hat eine schicksalhafte Begegnung mit ihr überlebt. Außer Archie, und um die Serienmörder auszuschalten, die Gretchen kopieren oder in ihrem Auftrag töten, muss er sich wieder seinen tiefsten Ängsten stellen, doch Gretchen ist ihm immer einen Schritt voraus …

_Kritik_

„Gretchen“ von Chelsea Cain ist eine ganz andere Art von Thriller. Bisweilen erkennt man Parallelen zur Figur eines Hannibal Lecters. Doch Gretchen Lowell ist vielseitiger und impulsiver, ihr Auftreten mysteriös und unnahbar, zugleich aber kalt und analytisch. Sie tötet um der Macht willen, sie manipuliert, verführt und erschreckt ihre Opfer, und das bereitet ihr teuflisches Vergnügen.

In „Gretchen“ tritt die Serienmörderin zunächst in den Hintergrund. Die Geschichte konzentriert sich auf die Ereignisse in der Vergangenheit, auf die Bedeutung einer Serienmörderin in unserer Gesellschaft. Gerade was den medialen, informativen Charakter angeht, interpretiert die Autorin sehr gekonnt. Blut und Tränen, Angst und Verlust gibt es schon seit jeher, nur war die ‚Vermarktung‘ und die Aufarbeitung auch immer ein Spiegelbild unserer Zivilisation.

Immer wieder kommt es zu Rückblenden, in denen die alten Taten von Gretchen an die Oberfläche kommen. Zwar sind diese inhaltlich spannend, doch stören sie manchmal die Handlung. Obwohl der Roman den Titel „Gretchen“ trägt, taucht die attraktive Serienmörderin erst spät auf, allerdings zeigt sie dann dem Leser auch gleich, dass sie nichts verlernt hat oder ruhiger geworden wäre. Was sie allerdings antreibt, wird in „Gretchen“ nicht erklärt. Vielleicht ist das ihre Art von bewusstem Leben, aber ein erkennbares Muster, warum sie sich gerade diesen oder jenen als Opfer heraussucht, offenbart sich nicht.

Die Handlung stützt sich fast ausschließlich auf Archie Sheridan. Seine Person wechselt oftmals von stark überzeichnet bis absolut realistisch. Dass er sich für unabsehbare Zeit wegschließen lässt und freiwillig in einer psychiatrischen Klinik bleibt, kann man einerseits verstehen, andererseits hingegen denkt man manchmal, dass er es jetzt aber wirklich übertreibt. Sein Verhältnis zu Gretchen ist allerdings spannend aufgearbeitet. Archie ist Gretchen fast hörig, zugleich würde er sie aber am liebsten tot sehen. Sie hat ihn nicht nur körperlich verletzt und ihre Spuren hinterlassen, viel schlimmer ist es für Archie, dass er unheilbare psychische Schäden davongetragen hat. Ein Trauma, das man zwar medikamentös behandeln kann, aber nicht auszulöschen vermag. Gretchen wird immer ein Teil seines Lebens sein. Für ihn selbst ein positiver, wie auch negativer Aspekt ist es, dass sie ihn begehrt, verletzt, gedemütigt, aber ihm auch das Leben gerettet hat. Seine ganz individuelle Hölle heißt einfach schlicht und ergreifend Gretchen Lowell.

Chelsea Cain setzt auf Schockmomente, je mehr, desto besser. Die ersten Opfer wurden mit einer Brutalität getötet, die zwar nicht geschildert wird, aber es reicht schon, wenn man sich die Beschreibung der Opfer vorstellt. Hier wird mit Details nicht gespart und besonders zum Schluss hin erreicht der Ekelfaktor ungeahnte Höhen.

Da „Gretchen“ der dritte Teil aus der Reihe ist, trifft man hier auf einige alte Bekannte aus den beiden Romanen „Furie“ und „Grazie“, Henry Sobol wie auch die Journalistin Susan Ward sind hier beispielsweise auch wieder mit von der Partie. Letztere wird zur Assistentin von Archie, der die Ermittlungen wieder aufnimmt, und zusammen stürzen sie sich in ein Drama, das sie nur mit Mühe kontrollieren können. Allerdings nur als Co-Produzenten, denn Gretchen kann nicht von Archie lassen …

_Fazit_

Chelsea Cains „Gretchen“ ist ein Adrenalinstoß in den Abendstunden. Für sanfte Gemüter ist der Roman sicherlich nicht geeignet. Spannend und abwechslungsreich konfrontiert uns der Roman mit einer Serienmörderin, die eine morbide Faszination ausübt. Es ist jedenfalls empfohlen, dass man vorher die beiden Bücher „Grazie“ und „Furie“ lesen sollte, da man sonst nicht die Abhängigkeit der beiden Hautfiguren im Detail verstehen kann.

Alpträume können einen Namen haben, für Archie wird es immer „Gretchen“ sein. So naiv wie harmlos der Name auch klingen mag – Gretchen hat ihren Hänsel-Archie fest im Griff und wird ihn auch im vierten Teil nicht loslassen. Wer sich in „Gretchens“ Welt flüchtet, wird unweigerlich in ein Universum der Angst und Begierde katapultiert, denn „Gretchen“ hat das Zeug, um sich zur Kultfigur zu entwickeln.

Licht an, lesen und erst aufhören, wenn „Gretchen“ ihre Show beendet hat!

|Originaltitel: Evil at Heart
Originalverlag: St. Martin’s Press, New York 2009
Aus dem Amerikanischen von Fred Kinzel
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 352 Seiten
ISBN-13: 978-3-8090-2535-1|

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