Andrea Camilleri – Die Passion des stillen Rächers. Commissario Montalbano stößt an seine Grenzen (Lesung)

Unvorhersehbar: Eine Entführung, an der etwas oberfaul ist

„Commissario Montalbano stößt an seine Grenzen“ lautet der Untertitel von Montalbanos neuestem Fall. Eigentlich ist er ja zum Zuarbeiter degradiert worden, aber auf seine unnachahmliche Art und dank einer Kaskade von Geistesblitzen löst er den Fall – und wird schließlich sogar zum Richter.

Salvo Montalbano erhält aus seinem Kommissariat einen Anruf: Auf einer einsamen Landstraße hat man den Motorroller von Susanna Mistretta, einer jungen Studentin, gefunden, die mit ihren Eltern in einem kleinen Dorf nahe der Fundstelle lebt. Der Vater, der unverzüglich eine Vermisstenanzeige aufgegeben hat, ist sich ganz sicher: Susanna ist entführt worden. Doch Commissario Montalbano findet bald heraus, dass es sich bei der Entführung um die Tarnung für eine weitaus vielschichtigere Angelegenheit handelt: Zu viel passt einfach nicht zusammen. Doch das Netz der Verwirrungen scheint undurchdringbar und der stille Rächer geduldig genug abzuwarten, bis sein Opfer in die verhängnisvolle Falle tappt ? (Amazon.de)

Der Autor

Andrea Camilleri (1925-2019) ist kein Autor, sondern eine Institution: das Gewissen Italiens. Der 1925 in dem sizilianischen Küstenstädtchen Porto Empedocle geborene, in Rom lebende Camilleri ist Autor von Kriminalromanen und -erzählungen, Essayist, Drehbuchautor und Regisseur.

Die Hauptfigur in vielen seiner Romane, Commissario Salvo Montalbano, gilt inzwischen als Inbegriff für sizilianische Lebensart, einfallsreiche Aufklärungsmethoden und südländischen Charme und Humor. Allerdings ist der Commissario nicht der Liebling aller Frauen: Zu oft hindert ihn sein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein daran, dringende Termine mit seiner Freundin Livia wahrzunehmen.

Der Sprecher

Gerd Wameling, geboren 1948 in Paderborn, ging 1974 an die Schaubühne in Berlin, deren Ensemble er fast 20 Jahre lang angehörte. Seit 1992 ist er freier Schauspieler und Sprecher und spielte in diversen TV-Filmen und -Serien mit sowie u. a. in Wim Wenders‘ Kinofilm „In weiter Ferne so nah“. Wameling ist nach Verlagsangaben einer der bekanntesten deutschen Rundfunk- und Hörbuch-Sprecher.

Regie führte Rolf Würth, die Musik steuerten Dennis Kassel und Horst-Günter Hank bei, die Aufnahmetechnik im Berliner DaCapo-Studio steuerte Klaus Trapp. Wameling liest eine von Katja Semprich gekürzte Fassung.

Das Titelbild zeigt das Gemälde „Still Life on a Half-Moon Table“ aus dem Jahr 1946, das Renato Guttuso (1912-87) malte.

Handlung

Salvo Montalbano wacht pünktlich um 3:27:40 Uhr auf, also mitten in der Nacht. In seinem Hirn hat etwas Klick gemacht – wie all die 19 Nächte zuvor, seit er jene vermaledeite Schussverletzung von dem Menschenhändler Jamil Zarziz erhalten hat. Montalbano tröstet der Umstand, dass seine Freundin Livia ihren Urlaub für ihn geopfert hat und neben ihm im Bett liegt. In erotischer Hinsicht läuft allerdings nichts, denn sie fürchtet um seine Gesundheit. Der Fensterladen quietscht die ganze Nacht hindurch, nicht die Bettfedern.

Morgens um sechs ruft aus dem Kommissariat der geistig etwas zurückgebliebene, aber herzensgute Catarella an: Eine junge Frau werde vermisst und Inspektor Fazio ermittle bereits. Von Fazio ist zu erfahren, dass das Mädchen Susanna Mistretta entführt worden sei. Nach dem Kaffee ermittelt Montalbano vor Ort. Das mit der Entführung scheint zu stimmen, denn man hat Susannas Motorroller 200 Meter vor der Villa ihres Vaters gefunden. Montalbano fällt sofort auf, dass der Roller auf der falschen Straßenseite liegt und in die falsche Richtung weist.

Salvatore Mistretta ist Geologe, an die 60, seine Frau Giulia liegt im Sterben und wird von seinem Bruder Carlo, einem Arzt, behandelt. Er beteuert, er habe kein Geld, nur eine mickrige Pension. Erpressung habe also keinen Sinn. Von den Kidnappern gebe es bislang keine Nachricht. Susanna hat einen Freund, Francesco Lipari, der sie ebenfalls vermisst. Er hat ein schlaues Köpfchen und will Polizist werden. Vor ihrem Verschwinden verhielt sie sich ungewöhnlich: Nicht er musste in der Liebe wie sonst die Initiative ergreifen, sondern sie tat das von sich aus. Außerdem fuhr sie einen anderen Weg als sonst. Was hat das zu bedeuten?

Der Polizeipräsident entscheidet, dass Montalbano dem Commissario Minutolo zuarbeiten soll. Montalbano kennt „Fifi“, wie er mit Spitznamen heißt, gut und hält ihn für intelligent. Aber ob Intelligenz in diesem Fall ausreicht, um ihn zu lösen? Minutolo geht nach dem Lehrbuch vor: Er lässt die Entführte suchen und wartet auf eine Nachricht von den Kidnappern.

Als Montalbano Fernsehen schaut, regt er sich tierisch auf. Minutolo hat zugelassen, dass sich Mistretta direkt an die Entführer wendet. Natürlich beteuert er, er habe kein Geld und sie sollten seine Tochter freilassen – was sonst? In den folgenden Tagen werden Fernseh- und Radiosender zur Schlüsselstelle in der Kommunikation mit den Entführern. Diese stellen eine, wie Montalbano findet, seltsame Geldforderung: Sie wollen sechs Milliarden. Sechs Milliarden was? Alte Lire wohl, nicht neue Euros. Ist der Entführer etwa von gestern? Etwas stimmt hier überhaupt nicht. Durch eine kleine Intrige legt Montalbano die Berichterstattung von Televigata über die Entführung lahm. Dafür kocht die Gerüchteküche über.

Francesco Lipari vermisst Susannas Helm, anders als die Polizei. Sie trug ihn immer, wie die Vorschrift es verlangt. Durch puren Zufall stößt Montalbano auf das gesuchte Stück: in einem Busch, auf den er gerade pissen wollte. Es ist eine Ausweichhaltestelle, genauer gesagt: eine Abzweigung zu einem Bauernhof, der Eier zum Verkauf anbietet. Neugierig, wie er nun mal ist, erkundigt sich Montalbano bei der erstaunlich elegant gekleideten Frau um die 30, die ihn begrüßt. Sie gehen hinein, und sie fragt ihn, ob er Eier kaufen wolle oder …? Oder was, fragt sich der Kommissar. Er wählt das „oder“ und die Frau setzt sich aufs Bett, um sich sodann die Bluse aufzuknöpfen …

Da schau her, fährt es ihm durch den Kopf, als er endlich kapiert. Die Frau ist eine Hobbyprostituierte. Sie brauche das Geld, sagt sie, um ihren kranken Mann von Dottore Mistretta behandeln zu lassen. Ist der Dottore etwa auch ihr Freier? Montalbano ahnt Schlimmes. Hintergeht ihn der ehrenwerte Arzt etwa? Nein, sagt sie, erwähnt aber, sie habe in der Entführungsnacht ein relativ dunkles Auto gesehen. Und dessen unbekannter Fahrer habe dann wohl den Helm an der Einfahrt abgelegt, schlussfolgert der Kommissar.

Nun wird Montalbano einiges klar. Roller und Helm sind falsche Fährten, die von dem wahren Sachverhalt ablenken sollen. Aber was steckt dann dahinter? Zwei neue Anrufe bringen ihn auf die richtige Spur, aber die Wahrheit überrascht ihn dann doch etwas.

Mein Eindruck

Camilleri greift in dieser Geschichte die in Italien, zumal in Sizilien, die verbreitete Industrie des Kidnappings auf. Doch Susannas Entführung verläuft ganz und gar nicht nach Lehrbuch. Oh ja: Es gibt eine exorbitante Geldforderung, doch nicht der Vater der Entführten zahlt, sondern jemand anderer. Soll man zumindest meinen, doch als sich der Commissario mal kurz am Übergabeort umschaut, findet er keineswegs das erwartete Geld, sondern etwas ganz anderes. An der ganzen Geschichte ist etwas oberfaul, so als sei sie gar keine richtige Entführung, sondern diene einem anderen Zweck. Und wenn er an die Gerüchte denkt, dann sieht es eher nach einer Art Racheaktion aus.

Bloß gut, dass nicht nur Catarella in jedem Kuhdorf auf Sizilien einen hilfsbereiten Verwandten hat, sondern auch Montalbano keine Schwierigkeiten hat, auch rabiate Gesetzesvertreter zur Räson zu bringen. Mit einer kleinen Intrige hier und da ist auch der Verlauf der Publicity zu steuern. Und als das nicht reicht, helfen ihm in regelmäßigen Abständen unerwartete Geistesblitze. Wenn die brave Livia ihres Freundes in diesem Zustand ansichtig wird, wird ihr immer angst und bange. Er guckt dann nämlich völlig entgeistert, seine Gliedmaßen sind wie erstarrt – kurzum ein Fall für die Irrenanstalt.

Seine bessere Hälfte

Obwohl Livia in den Augen des kulinarisch verwöhnten Kommissars bestenfalls eine durchschnittliche Köchin ist, so hat sie doch das Herz auf dem rechten Fleck und die Sensibilität einer Frau. Fühlt sie sich von ihm hintergangen, in ihren Gefühlen oder ihrer Würde verletzt, zahlt sie ihm es schon mal mit Aussperrung heim. Dass er der Patenonkel eines Verbrecherkindes sein wolle, kann sie ebenfalls nicht hinnehmen – die Gute spinnt eine eigene kleine Intrige, um ihn zum Ausgleich zum Paten eines Polizistenkindes zu machen.

Eine Entführung ruft automatisch Aufsehen und öffentliches Interesse hervor, sorgt also für Publicity. Diese lässt sich, so Camilleris implizite Aussage, auch als Instrument für private Zwecke missbrauchen. In der Geschichte ist es die Rache an einem Übeltäter aus der nächsten Verwandtschaft. Allerdings fiel mein Verdacht schon recht früh auf den richtigen Mann. Das ist nicht die Schuld des Autors, sondern meine Erfahrenheit mit seinen Geschichten.

Montalbano, der Richter

Jedenfalls sind solche Zwecke nicht auf dem Radarschirm gewöhnlicher Polizisten, wie der Dottore Minutolo beweist. Er lässt immer noch die Landschaft abgrasen, als Montalbano schon auf der richtigen Spur ist. Dennoch wird nicht der unfähige Lehrbuchpolizist Minutolo im Fernsehen kritisiert, sondern Montalbano, der ob seiner unorthodoxen Methoden als schier unzurechnungsfähig hingestellt wird. In der Folge sieht sich Montalbano berechtigt, die Gerechtigkeit in seine eigenen Hände zu nehmen. Er folgt seinem eigenen moralischen Kompass, und der hat wenig mit den Dienstvorschriften zu tun. Hauptsache, er hat gegenüber seiner Livia ein reines Gewissen, die sich über den Fall der Susanna Mistretta minutiös berichten lässt. Sie ist seine oberste Richterin, da gibt’s kein Vertun.

Symbole

Zunehmend bewundere ich Camilleris Verwendung von symbolischen Bildern. Diese sind keine gemalten Schilde wie auf Wappen oder so. Sie sind nicht kodiert, sondern frei erfunden. Der Fachmann spricht von objektiven Korrelativen. Nehmen wir mal das Spinnennetz, das Montalbano auf dem Busch neben seiner Veranda entdeckt. Es ist feingesponnen und er bewundert die Kunstfertigkeit der Spinne, die nicht zu sehen ist. Er wirft ein, zwei Köder in die Mitte des Radnetzes, und unter einem Blatt kommt blitzschnell eine graue Spinne hervorgeschossen, die sofort wieder verschwindet.

Solch eine Spinne scheint ihm im übertragenen Sinn auch ihre Fäden im Hintergrund der Entführung von Susanna Mistretta zu spinnen. Mit geschickten Manövern steuert jemand die öffentliche Meinung, um das wahre Ziel der Entführung zu erpressen und zugrunde zu richten. Doch wer könnte es sein? An ihren Fäden will Montalbano diese Spinne erkennen. Und wenn er sich das reale Spinnennetz ganz genau anschaut (er hat keine Lupe im Haus, kann also kein „richtiger“ Polizist sein), so entdeckt er ein oder zwei Webfehler im Radnetz. Nicht einmal die beste Spinne ist perfekt. Er wird den Hintermann erwischen.

Eine etwas abgedroschenere Metapher setzt Camilleri schon ziemlich früh in der Story ein. Montalbano überrumpelt und verführt seine Livia in der Küche … Wir erfahren nichts über das, was die beiden des Weiteren treiben, aber der Kaffee auf dem Herd kocht und kocht und sprudelt über, ohne dass sich jemand um ihn kümmert. Der Kaffee ist das objektive Korrelativ zu den Leidenschaften, die Salvo und Livia gerade erfüllen.

Der Sprecher

Gerd Wameling ist ein ähnliches Stimmwunder wie Rufus Beck und Philipp Schepmann, aber seine Interpretation von Frauenstimmen ist doch etwas gewöhnungsbedürftig. Sie klingen natürlich wesentlich höher als Männerstimmen. Livia, Susanna, Susannas Freundin Tina, die „Eierverkäuferin“, die Zugehfrau Adelina – sie alle sprechen mit hohen, wenn nicht sogar höchsten Stimmlagen. Ich habe mich immer wieder gewundert, wie der Sprecher das schafft.

Dafür hat er aber eine breite Palette von Männerstimmen im Repertoire: mal höher wie der stets aufgeregt klingende Catarella oder hochnäsige Avvocato Luna, oder tiefer und knurrig wie Dr. Carlo Mistretta. Die Stimme des Kidnappers, die vom Band kommen soll, ist derartig tief, dass hier offensichtlich mit einem Filter nachgeholfen wurde. Ein Fuhrmann, den Montalbano anhält, ruft seinen Pferden „Brr!“ und „Hü!“ zu, ein Fensterladen quietscht stilecht.

Nur am Anfang und am Schluss gibt es etwas Musik. Als Hintergrund würde sie auch zu sehr von den spannenden Story ablenken. Das ist also okay so.

Unterm Strich

Wie sich die Entführung einer jungen Frau zu ganz anderen, eher privaten Zwecken missbrauchen lässt, demonstriert der Autor am Fall der Susanna Mistretta. Schlüsselfaktor ist die öffentliche Meinung. Wer diese steuert, kann die richtige Wirkung erzielen. Das Fernsehen lässt sich dazu mit größter Profitgier benutzen: Unter dem Vorwand der Informationspflicht werden simple Details dramatisiert und aufgebauscht, um Quote zu machen.

Aber der Autor zeigt auch, welche verhängnisvollen Auswirkungen solche Manipulationen auf Unschuldige haben kann. Da wird beispielsweise eine relativ Unbeteiligte von drei rabiaten Sizilianerinnen angegriffen und landet mit Prellungen und Kratzern im Krankenhaus. Welche Folgen diese Publicity für das Entführungsopfer haben könnte, malt Montalbano in den schwärzesten Farben. Indirekt ruft Camilleri das Gewissen der Italiener wach, mit solchen Fällen verantwortungsbewusst umzugehen und sich mit vorlauten Äußerungen von Egomanen und profitgeilen TV-Sendern zurückzuhalten. Er geißelt den entsprechenden verantwortungslosen Redakteur von Televigata als „Hühnerarschgesicht“. Ja, Camilleri kann recht drastisch sein. Das liebe ich an ihm.

Die wandlungsfähige Stimme des Schauspielers Gerd Wameling macht die Lesung – ohne Musik und Geräusche – recht abwechslungsreich. Auch das Tempo versteht er einfühlsam zu regulieren, so dass auch der Hörer mitbekommt, wann eine Rückblende beginnt. Die gut vier Stunden vergingen wie im Fluge und ich hätte schon wieder Lust auf das nächste Abenteuer des Commissario Montalbano.

CD: 258 Minuten auf 4 CDs
Originaltitel: La pazienza del ragno, 2006

http://www.luebbe.de/luebbe-audio

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