Camilleri, Andrea – Pension Eva, Die (Lesung)

_Sinnlich: das Bordell als Schule des Lebens_

Die |Pension Eva| ist das Bordell in der sizilianischen Stadt Vigàta. Hier verbringt der junge Nenè viele Stunden. Aber nicht, um mit den Frauen zu schlafen, sondern um sich ihre Geschichten erzählen zu lassen. Denn sie lehren ihn, das Leben zu verstehen. Im Sizilien der vierziger Jahre herrscht Krieg. Was für Nenè auf geheimnisvolle Weise beginnt – die Sexualität, die Hingabe zur Literatur, das Leben selbst – droht unter den Trümmern zu ersticken. Und doch gibt es eine Kraft, die sich wie ein Hauch über die zerbombte Stadt legt und alles verzaubert …

_Der Autor_

Andrea Camilleri ist kein Autor, sondern eine Institution: das Gewissen Italiens. Der 1925 in dem sizilianischen Küstenstädtchen Porto Empedocle geborene, aber in Rom lebende Camilleri ist Autor von Kriminalromanen und -erzählungen, Essayist, Drehbuchautor und Regisseur. Er hat dem italienischen Krimi die Tore geöffnet.

Die Hauptfigur in vielen seiner Romane, Commissario Salvo Montalbano, gilt inzwischen als Inbegriff für sizilianische Lebensart, einfallsreiche Aufklärungsmethoden und südländischen Charme und Humor. Er ermittelt in komplett erfundenen, aber „echt“ erscheinenden Orten wie Vigàta und Monte Lusa.

Die Commissario-Montalbano-Krimis:

– [Die Form des Wassers 306
– [Der Hund aus Terrakotta 315
– [Der Dieb der süßen Dinge 3534
– [Die Stimme der Violine 321
– Das Paradies der kleinen Sünder (Kurzkrimis)
– Die Nacht des einsamen Träumers (Kurzkrimis)
– [Das Spiel des Patriarchen 312
– [Der Kavalier der späten Stunde 670
– [Die Rache des schönen Geschlechts 659 (Kurzkrimis)
– [Das kalte Lächeln des Meeres 594
– [Der falsche Liebreiz der Vergeltung 1812 (Kurzkrimis)
– [Die Passion des stillen Rächers 3138
– [Die dunkle Wahrheit des Mondes 4302

_Der Sprecher_

Gerd Wameling, geboren 1948 in Paderborn, ging 1974 an die Schaubühne in Berlin, deren Ensemble er fast 20 Jahre lang angehörte. Seit 1992 ist er freier Schauspieler und Sprecher und spielte in diversen TV-Filmen und -Serien mit sowie unter anderem in Wim Wenders‘ Kinofilm „In weiter Ferne so nah“. Wameling ist nach Verlagsangaben einer der bekanntesten deutschen Rundfunk- und Hörbuch-Sprecher. Wameling liest eine ungekürzte Fassung.

Das Hörbuch ist eine Produktion des Hessischen Rundfunks. Regie führte Burkhardt Schmidt, die Technik steuerte Patrick Ehrlich.

_Handlung_

Die fünf Kapitel tragen die Titel:

1) Gradus ad Parnassum
2) Die Einschiffung nach Kythera
3) Im Schatten junger Mädchenblüte
4) Zeichen und Wunder
5) Eine Zeit in der Hölle

Schon seit Jahren hat sich der zwölfjährige Nenè Cangialosi gefragt, was es mit der |Pension Eva| auf sich hat. Das langgestreckte Haus steht in der Nähe des Hafens, so dass Seeleute es leicht finden können. Ein Pension ist etwas zwischen Gasthaus und Hotel, aber warum sind dann kaum jemals Gäste zu sehen? Wohnen hier wohl helfende Feen? Als er acht war, erschnupperte er hier einen guten Duft, bis ihn ein Seemann wegschickte, der zu den Frauen hineinging.

In der vierten Klasse erfuhr er alles über das Haus: Es sei ein Bordell und die Frauen, die dort arbeiten, seien Nutten. Aha. Doch was sein Vater sagt, verwirrt ihn noch mehr: Männer gingen hinein, um die Frauen anzusehen. Seltsam. Was soll daran besonders sein?

Als er zwölf ist, bekommt er die Erlaubnis, auf den Speicher seines Elternhauses zu gehen, und zusammen mit seiner Cousine Angela erkundet er die Vergangenheit. Als sie auf die Arzttasche von Onkel Tonio stoßen, spielen sie Doktor und Patient. Ohne falsche Scham zieht sich Angela aus, und Nenè sich auch. Doch eines Tages küssen sie einander auch, und aus dem Spiel wird Leidenschaft.

Nenè erfreut sich dessen, bis er Pater Niccolò fragt, ob körperliche Liebe erlaubt sei. Der Padre erzählt ihm vom Gebot gegen die Unkeuschheit. Angela entgegnet darauf nur, dass ihr Spiel garantiert keine Sünde sei. Als er sie auffordert, ihm zu zeigen, wie „Liebemachen“ geht, lacht sie nur, sein Piepmatz sei noch zu klein. Das trifft Nenè schwer. Na, er muss halt wachsen, muntert sie ihn auf. Er kann es kaum erwarten, die Wahrheit über die Pension Eva zu erfahren. Aber dafür muss man mindestens 18 sein – eine Ewigkeit!

Die Trennung von Angela, die an Tuberkulose erkrankt, ist schwer zu ertragen, und als sie als junge erwachsene Frau zurückkehrt, muss er erfahren, dass sie verlobt ist. Inzwischen hat er sich mit Buchillustrationen aus dem „Rasenden Roland“, einem Ritterroman, getröstet: Viele nackte junge Damen müssen darin gerettet werden. Doch eines Morgens, als die anderen schon in die Kirche gegangen sind und Nenè erstmals einen Männeranzug tragen darf, trifft er Angela in der Küche an. Wow, sie trägt nur ein Unterkleid, durch das er ihre weiblichen Formen sehen kann. Die „Unzucht“, die sie miteinander treiben, ist schöner denn je – und ein Abschied.

Weitere Nachhilfestunden in Liebe gibt die Witwe Bianca Aghirò. Wie Nenè später erfährt, wird sie „das Schulschiff“ genannt, weil sie bereits viele Jünglinge in die Mysterien der Liebe eingeweiht hat. Fortan will Nenè nicht mehr hin, weil er das als Verrat an seinem Freund Mateo empfindet. Dafür ist er umso stärker an der Pension Eva interessiert. Ein glücklicher Zufall spielt ihm in die Hände.

Der Vater seines Schulfreundes Giacolino wird zum Leiter der Pension ernannt, dank einiger Mauscheleien mit den faschistischen Machthabern Monte Lusas. Don Stefano lässt das Haus renovieren und eröffnet es am Neujahrstag 1942. Das Regiment führt die Patrona Donna Flora, und jeweils sechs Mädchen arbeiten in Schichten von 14 Tagen Dauer hier. Dann werden sie durch die nächste Gruppe abgelöst. Die Huren touren durchs ganze Land.

Unter strengen Auflagen dürfen Nenè und sein Freund Ciccio die Pension besuchen – ein großer Tag! Nenè ist erst sechzehneinhalb Jahre alt, als er mit Lebensmitteln beladen die Pension betritt. Donna Flora führt die Jungs durchs Haus und zu den sechs Mädchen. Die Stimmung ist ernst beim Essen, doch sobald Flora sich verabschiedet hat, wirken die Mädels wie ausgewechselt: heiter und aufgekratzt. Schließlich ist der Wein nicht übel. Während eines Fliegeralarms erklärt Grazia, dass sie Angst hat, was Nenè Gelegenheit gibt, sie erstmals zu umarmen.

Die nächste Gelegenheit ergibt sich, nachdem die Mädchen erzählt haben, wie sie das deutsche Kriegsschiff mit den Verletzten aus Afrika besucht haben. Nenè kommen die Mädchen ungeheuer tapfer vor, und sie haben sogar geschafft, was die Bürgerinnen de Stadt sich nicht trauten: Sie trösteten auch die Schwerverletzten. In dieser Nacht kommt Nenè endlich mit Grazia zusammen. Ihr Zungenkuss haut ihn einfach um.

Als er in der Stadtbücherei entdeckt, dass auf dem Platz der Pension Eva ein griechischer und ein römischer Tempel und danach eine christliche Kirche gestanden haben, ist ihm klar, dass die Pension ein heiliger Ort sein muss. Und tatsächlich geschehen dort Zeichen und Wunder, und es erscheint ein wahrhaftiger Engel vom Himmel …

_Mein Eindruck_

Was als Erstes auffällt, ist die Unverklemmtheit, mit der uns der Autor von den Erlebnissen seines Helden erzählt. Wenn hier vom „Vögeln“ die Rede ist, dann wird dies ausdiskutieren, ebenso wie „Unzucht“ und „die Sünden des Fleisches“. Schließlich passieren all diese amourösen Abenteuer in einer höchst katholischen Gesellschaft. Doch der Autor stellt sich nicht auf die Seite der Moralwächter, sondern berichtet unvoreingenommen, wie alles ganz natürlich vonstatten geht. Und wie auch die Frauen Einfälle haben, um auf ihre erotischen Kosten zu kommen. Die unverblümten Beschreibungen betreffen nicht den banalen Akt, sondern stets das allzu menschliche Drumherum.

In dieses Bild passt, dass Nenè ein Beobachter und Erlebender ist, der kein Werturteil über die Huren in der Pension Eva fällt, sondern die wechselnden Mädchen als Arbeiterinnen und Lehrerinnen betrachtet, von denen er einige wichtige Lektionen über das Leben lernen kann. Immer wieder beobachtet er, wie aus dem Sex die Liebe erwächst und bis zur bedingungslosen Aufopferung umkämpft wird. Wie aber auch der Eros eine Spielwiese sein kann, auf dem das menschliche Tier in aller Unschuld zu sich selbst zu finden vermag.

|Der Fall des Engels|

Auch die Religion spielt hier selbstverständlich eine Rolle – wie könnte es in einer so erzkatholischen Gegend anders sein? Religiosität im Puff, warum auch nicht? Ambra ist eine so fromme Hure, dass sie einen ganzen Koffer voller Devotionalien mitgebracht hat: Rosenkränze, Kreuze und Heiligenbilder, ja, sogar geweihtes Wasser. Nach vollbrachtem Tagwerk betet sie inbrünstig. Als eines Tages ein Mann vom Himmel fällt, den sie für einen Engel hält – es ist ein abgeschossener US-Pilot an einem Fallschirm, und ja: er heißt Angelo – erfüllt sich für sie der Traum ihrer sehnsüchtigen Gebete. Selbstverständlich versteckt sie den unbekleideten Mann, versorgt ihn mit Lebensmitteln und Bekleidung. Natürlich auch mit ihrer überquellenden Liebe. Doch dies kann nicht ewig so weitergehen, und dann zeigt sich, dass auch ein Engel einen Retter braucht, der etwas von den weltlichen Dingen versteht. Merke: Frömmigkeit ist okay, solange sie im Rahmen bleibt.

|Ein Kriegsroman|

Ganz nebenbei ist dies auch ein Buch über den Krieg. Lazarettschiffe kündigen die Verluste unter den Soldaten in Übersee an (siehe oben). Fast zwei Jahre lang liegt die Stadt Vigàta im Bombenhagel der britischen und amerikanischen Bombergeschwader. Kurz vor der Invasion der Amis liegt kein Stein mehr auf dem anderen, die Bürger sind zu Höhlenbewohnern in Luftschutzbunkern geworden, die Züge und Schiffe verkehren nicht mehr, es gibt weder Post noch genügend Lebensmittel.

Wird es unter den Amis besser sein? Wohl nicht. Am Tag, als Nenè von der schiffslosen Marine desertiert, erlebt er wie in einem Albtraum oder in einer Fantasmagorie den Untergang seiner Heimat. Die Pension Eva ist ein Schutthaufen, wenn auch die Mädchen in Sicherheit gebracht wurden, wie Ciccio erzählt. Doch unter den Bäumen am Straßenrand wird das uralte Bedürfnis befriedigt: eine apathische junge Frau wird von den GIs benutzt, und ein weiterer GI kassiert für die Benutzung. Im Vergleich damit bewies die käufliche Liebe in der Pension Eva doch wesentlich mehr Kultiviertheit und Humanität. Dort wurden die Frauen wenigstens nicht wie ein Stück Fleisch behandelt, sondern wie menschliche Wesen, die einen Anspruch auf Würde haben.

|Der Sprecher|

Gerd Wameling ist ein ähnliches Stimmwunder wie Rufus Beck und Philipp Schepmann, aber seine Interpretation von Frauenstimmen ist doch etwas gewöhnungsbedürftig. Die weiblichen Figuren klingen natürlich merklich höher als Männerstimmen, und alle klingen ziemlich ähnlich. Eine Ausnahme bildet die resolute Donna Flora, die Vorsteherin im Bordell, die nur dem Leiter Don Stefano verantwortlich ist. Die Männerstimmen gehören entweder neugierigen Jungs wie Nenè oder so erfahrenen Kerlen wie Don Stefano. Die Jungs klingen natürlich frecher und freundlicher als die der Männer, die stets sehr tief und angespannt interpretiert werden.

Wie man sieht, gelingt es dem Sprecher sowohl die wichtigsten Figuren zu charakterisieren als auch eine Szene emotional angemessen darzustellen. Das ist sicherlich das grundlegende Können eines erfolgreichen Sprechers, doch Wameling absolviert die Aufgabe bravourös, nur dass die Charakterisierung der männlichen Nebenfiguren stets gleichförmig ausfällt.

Da das Hörbuch weder Geräusche noch Musik aufweist, brauche ich darüber kein Wort zu verlieren.

_Unterm Strich_

„Die Pension Eva“ ist nicht nur, wie das Thema nahelegt, ein sinnliches Lese- oder Hörvergnügen, sondern auch ein höchst interessantes und humorvolles. Die Einteilung des Buches entspricht dem des klassischen Bildungsromans: Unwissenheit und Neugier, erste Erfahrungen in der Lehrzeit, unbeschwerte Gesellenzeit, weisere Zeit als Meister, schließlich die Läuterung durch „eine Zeit in der Hölle“ des Krieges. Ein Bordell als „Parnass“ zu titulieren, also als Musentempel mit heiligmäßigem Nimbus, ist schon eine Unverfrorenheit, die ihresgleichen sucht. Aber es passt zu der unterschwelligen These, das Bordell als die wahre Lehranstalt für das Leben hinzustellen – in der Schule wird eh nur gebüffelt.

Aber daraus folgt nicht, dass die Bewohnerinnen dieses Musentempels als Hetären auf den Sockel gestellt werden. Es sind häufig einfache Mädchen vom Lande, und da sie nur zwei Wochen in der Stadt sind, entstehen kaum feste Bindungen. (Das ändert sich erst, als es zu gefährlich geworden ist, über Land zu fahren: Die Mädchen werden sesshaft.) Die Mädchen sprechen alle möglichen Dialekte, arbeiten insgeheim mitunter für die verbotenen Kommunisten, haben Verwandte, die im Knast sitzen, oder sind so fromm, dass sie wie Ambra einem religiösen Wahn zu erliegen drohen. Kurzum: Sie sind Menschen wie du und ich.

Dadurch wird die Begegnung der Männer mit ihnen unverkrampft. Für Nenè sind die Begegnungen mehr als Transaktionen, sondern eine Lehrstunde. Dass er einmal erleben darf, wie seine Fantasien aus dem „Rasenden Roland“ in lebendiges Spiel umgesetzt werden, bestätigt ihm einerseits, wie relevant diese Geschichten noch heute in der Sphäre der Liebe sind, andererseits aber auch, wie übertrieben die Ritterlichkeit in diesen epischen Darstellungen ist. In der Pension Eva dürfen auch mal die weiblichen „Pferde“ oben sein und den „Ritter“ reiten. Gleichberechtigung gibt es also an den unwahrscheinlichsten Orten. Und nicht zuletzt diese ungezwungene Darstellung machte mir das Buch so sympathisch.

Auf den letzten Seiten finden sich zahlreiche ergreifende Szenen und Informationen, die von einer großen Tragödie künden, aber auch die Wiederauferstehung eines Totgeglaubten und einer Verschwundenen. Das Leben geht weiter, für manche besser, für manche schlechter. Es ist ein gelungen ernstes Finale für einen ansonsten in heiterem Dur erzählten Roman.

|Das Hörbuch|

Der Sprecher Gerd Wameling sorgt mit seiner Stimmenvielfalt für eine Menge Abwechslung. Wenn eine Frau oder ein Mann spricht, so ist der Unterschied sofort zu bemerken. Zwischen ganz hoch und ganz tief lässt der Sprecher eine Reihe von Abstufungen durch, so etwa für die tief sprechende Donna Flora und für die relativ hoch sprechenden Jünglinge. Auch entsprechende Emotionen weiß der Sprecher ungefiltert zu vermitteln, so etwa ungehemmtes Schluchzen oder auch Lachen. Die Pension Eva ist kein Parnass, sondern das Leben selbst.

|Originaltitel: La pensione Eva, 2006
Aus dem Italienischen übersetzt von Moshe Kahn
226 Minuten auf 4 CDs|
http://www.argon-verlag.de

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