Andrea Camilleri – Die Spur des Fuchses (Commissario Montalbano 12)

Mysteriös-erotisch: Montalbano und die Herrenreiterin

„Commissario Montalbano lässt den Blick in die Ferne schweifen“ lautet der Untertitel des neuesten Romans um den sizilianischen Ermittler mit der lebhaften Neigung zu gutem Essen und schönen Frauen.

Hat Montalbano seherische Fähigkeiten? Kaum ist er aus einem bizarren Traum von einem Pferd erwacht, als er beim morgendlichen Blick aus dem Fenster tatsächlich ein Pferd am Strand liegen sieht, das dort offenbar qualvoll verendet ist. Kurz darauf ist es spurlos verschwunden. Wenig später meldet Rachele Esterman, eine erfolgreiche Rennreiterin, ihr Pferd vermisst, will aber keine Anzeige erstatten. Es war bei dem mächtigen Züchter Lo Duca untergebracht, der immerhin Schutz von „höchster Stelle“ genießt.

Lo Duca hat einiges zu verbergen, stellt sich heraus, nicht zuletzt den ungeklärten Tod eines seiner Stallburschen. Doch zunächst gilt es herauszufinden, welche Rolle die sphinxhafte Rachele in dem mörderischen Verwirrspiel hat …

Commissario Montalbano Reihe:

01 [„Die Form des Wassers“ 306
02 [„Der Hund aus Terrakotta“ 315
03 [„Der Dieb der süßen Dinge“ 3534
04 [„Die Stimme der Violine“ 321
05 [„Das Spiel des Patriarchen“ 312
06 [„Der Kavalier der späten Stunde“ 670
07 [„Das kalte Lächeln des Meeres“ 594
08 „Die Passion des stillen Rächers“
09 [„Die dunkle Wahrheit des Mondes“ 4302
10 [„Die schwarze Seele des Sommers“ 5474
11 [„Die Flügel der Sphinx“ 5875
12 _“Die Spur des Fuchses“_
13 „Il campo del vasaio“ (bislang nicht auf Deutsch erschienen)
14 „L’età del dubbio“ (bislang nicht auf Deutsch erschienen)
15 „La danza del gabbiano“ (bislang nicht auf Deutsch erschienen)
16 „La caccia al tesoro“ (bislang nicht auf Deutsch erschienen)

„Die Nacht des einsamen Träumers – Kurzkrimis“

Handlung

Montalbano rafft sich aus unruhigen, bizarren Träumen auf und lehnt sich über das Geländer seiner Veranda, um den frischen Morgen zu genießen und sich von der Nacht zu erholen. Doch daraus wird nichts, denn sein Blick fällt entsetzt auf den Kadaver eines Pferdes, das auf dem Sand vor seiner Veranda qualvoll verendet ist. Als er es näher in Augenschein nimmt, entdeckt er die zahllosen Hiebwunden und Verletzungen, die sein Körper aufweist. Maßlose Wut packt ihn und treibt ihn an, die Bastarde, die dies dem unschuldigen Wesen angetan haben, zu erwischen.

Er folgt der Spur des Pferdes bis zu einer Stelle, an der der Sand aufgewühlt ist. Er identifiziert sechs Fußspuren: vier der Männer malträtierten das Pferd, während zwei ruhig zuschauten. Nachdem er seine Männer herbeigerufen hat, lässt er hier sämtliche Spuren sichern: ein Seil, mehrere Zigarrettenkippen, die Eisenstangen usw., um sie im Labor auf DNA-Spuren und Fingerabdrücke untersuchen zu lassen. Keine halben Sachen, sagt sich der Commissario.

Deshalb trifft es ihn wie ein Schlag ins Gesicht, als er entdeckt, dass das Pferd verschwunden ist. Er war mit Fazio in der Küche, um einen Espresso zu trinken, da nutzten die Diebe die Gunst des Augenblicks, um den Kadaver fortzuschaffen. Leute aus dem Asylantenheim, vermutet Fazio. Doch nein, erkennt Montalbano, der der Schleifspur folgt: Der Transporter stand auf der Provinzialstraße bereit – Profiarbeit. Aber wessen Profis?

Der Name des Pferdebesitzers wird schneller bekannt als er erwartet hat. Signora Rachele Esterman, eine adlige Rennreiterin, meldet in seinem Kommissariat ihr Pferd als vermisst. Es handle sich um einen Fuchs, also ein Pferd mit rötlich braunem Fell. Sie bedauert, dass es getötet wurde. Das Rennpferd war beim Züchter Saverio Lo Duca untergestellt, ihrem guten Freund. Oh ja, den kennt Montalbano bestens. Lo Duca hat sich gebrüstet, er werde sogar von der Mafia respektiert. Auch Signora Esterman will natürlich keine Anzeige gegen Lo Duca erstatten. Womit Montalbano der ganze Fall eigentlich gar nichts mehr anginge. Er lässt weiterermitteln. Sollen sich doch die Kollegen aus Montelusa selbst melden – er wisse von nichts.

Gut, dass Rachele, eine wahre blonde Walküre, auch eine gute Freundin von Ingrid Sjoström ist, welche wiederum eine gute „Freundin“ Montalbanos ist. Ingrid lädt sich gleich selbst ein, sie trinken viel Whisky und verbringen die Nacht miteinander, doch er erfährt von ihr fast alles über Signora Esterman. Und Ingrid beobachtet zwei Einbrecher in seiner Wohnung, vor denen sie sich versteckt, während er weiteren feuchten Proviant besorgt. Sie stahlen ihm die goldene Taschenuhr seines Vaters, ein Erbstück – jetzt wird die Sache aber persönlich.

Das Rennen, dessentwegen Rachele auf Sizilien weilt, findet geheim und illegal statt, wie so viele Rennen auf Sizilien, erfährt Montalbano von Fazio. Natürlich hat die Mafia ihre Finger in diesem Geschäft. Wie lukrativ dieses Geschäft in Wahrheit ist, will der Commissario herausfinden, indem er die Einladung Racheles annimmt und mit Ingrid hinfährt.

Die Rennen finden stets bei Nacht statt, so dass ein Polizeihubschrauber oder Satellit nichts davon sieht. Und das Rennen von Fiacca, auf dem Rachele auf einem fremden Pferd antritt, stellt sich als Treffpunkt von Adligen, Kaufleuten und eher zwielichtigen Gestalten heraus. Es ist in jeder Hinsicht denkwürdig, aber die Kontakte, die Montalbano hier knüpft, sind Gold wert, so etwa zu Saverio Lo Duca, dem alten Schlitzohr.

Der Stallbesitzer erzählt dem Commissario, einer seiner Stallknechte müsse der Pferdemörder sein. Erstens sei Gurreri nicht ganz richtig im Kopf und zweitens habe er sich an Lo Duca rächen wollen, für eine alte Geschichte. Ob ihm Montalbano diese Story abnimmt, erfahren wir vorerst nicht, aber er verfällt noch auf eine andere dringende Angelegenheit. Er soll nämlich bei einem Prozess gegen die Mafia aussagen – wurde deshalb zweimal bei ihm eingebrochen, um ihm zu bedeuten: „Wir haben dich im Visier!“?

Erst nach einer Woche der Hektik kommt dem Commissario, wieder einmal, der Zufall zu Hilfe – und alle Puzzlesteinchen fallen an ihren Platz. Doch erst einmal muss Montalbano über eine Leiche gehen …

Mein Eindruck

Nach der Lektüre von etwa einem Dutzend „Montalbano“-Krimis kenne ich inzwischen die Masche, wie der Autor jedes Garn erzählt. Man nehme ein rätselhaftes Verbrechen, verübt von unbekannten Hintermännern. Sodann muss eine noch rätselhaftere Frau auftreten, die dem Commissario, der ja immer noch, trotz seiner 56 Jahre, Single ist, den Kopf verdreht. Doch dies ist noch nicht genug der Ablenkung, daher kommt noch mindestens ein weiteres Verbrechen hinzu, bevor Kommissar Zufall hilft, dem Commissario das erste Verbrechen zu lösen. Nicht ohne die erotischen Verwicklungen mit der Lady Nr. 1 zu einem – mehr oder weniger befriedigenden – Abschluss zu bringen.

Wer also aufmerksam ist und dem Autor und seinem Text NICHT vertraut, der könnte im Prinzip den Fall schon auf den ersten 20 Seiten lösen. Aber wer würde sich dann schon das Vergnügen nehmen, die Verwicklungen im restlichen Roman miterleben zu wollen? Keiner natürlich, und aus genau diesem Grund wird stets weitergelesen. Es ist ja auch kein sonderlich erhebendes Gefühl, schlauer zu sein als Montalbano himself.

Vehikel

Diese Masche ist ja eigentlich nur ein Vehikel. Was dieses Vehikel transportiert, ist viel wichtiger. Diesmal geht es also um illegale Pferderennen der Schickeria und die obligatorischen Machenschaften der Mafia, die damit zu tun haben. Camilleri macht sich einen wirklich bösen Spaß daraus, die Szene des nächtlichen Pferderennens zu einem bizarren Maskenball – allerdings ohne Masken – auszumalen. Die schrägen Gestalten der italienischen Oberen Zehntausend werden derartig durch den Kakao gezogen, dass dem Leser entweder das Grinsen im Gesicht klebt oder das Lachen im Halse steckenbleibt.

Damen und Erotik

Einzige Ausnahme sind selbstredend die beiden Herzensdamen Rachele und Ingrid. Auf die Ladies lässt Camilleri nix kommen – solange sie anständig zu seinem Commissario sind. Und Rachele ist sogar derart „anständig“, dass sie es mit dem Besagten im Heustadel treibt. Das wäre an sich nichts Besonderes, denn Salvo M. ist ja beileibe kein Kostverächter. Bizarr wird die Szene für ihn jedoch, weil sich dadurch jener prophetische Albtraum bewahrheitet, der ihn ganz zu Anfang so unsanft aus dem Schlaf reißt und auf den verunstalteten Strand blicken lässt. In diesem Traum wird er, Salvo M., von einer wilden Frau geritten, als sei er ein Pferd, und gerät dabei immer tiefer in Sand. Und Rachele Esterman hat alle Charakterzüge einer echten Walküre. Scheinen hier Minderwertigkeitsgefühle des sizilianischen Südens gegenüber dem industrialisierten Nordens durch? Freud, hilf!

Finale

Nach diversen Verwicklungen und dem Eingreifen von Kommissar Zufall gelangt die Geschichte endlich auf die Zielgerade. Es guibt nur ein winziges Problem: Montalbano hat überhaupt keinen offiziellen Auftrag, irgendeinen Fall abzuschließen! Es liegt ihm ja keine Anzeige vor, und das Amt in Montelusa hat ihn ja auch nicht beauftragt. Dieses winzige Detail ficht Montalbano jedoch nicht an. Er will und muss der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen – allein schon um jenes grausige Bild von dem erschlagenen Rennpferd aus seiner Erinnerung verbannen zu können.

Deshalb inszeniert er mit Hilfe seines tausendfach bewährten Teams von Polizisten – Fazio, Gallo, Galuuzzo, Mimi Augello und (nein, bloß nicht Catarella!) – eine Serie Befragungen im Kommissariat von Vigata, die minutiös geplant und wie ein Uhrwerk ablaufen müssen, um zum gewünschten psychologischen Erfolg zu führen. Das wiederum ist ebenfalls ein pures Vergnügen. Und wir können es Salvo M. nicht verdenken, wenn er es danach gerade noch rechtzeitig zu seinem Zuhause schaffgt, um Ingrid und Rachele zu bewirten. Darauf ein doppelten Whisky, Salvo!

Bleibt noch zu erwähnen, dass sich der Autor den Fall des erschlagenen Pferdes keineswegs aus den Fingern gesogen hat, sondern sich auf eine Zeitungsmeldung stützte.

Die Übersetzung

Die Übersetzung von Moshe Kahn ist so flüssig zu lesen wie stets und klingt genau so, wie umgangssprachliches Deutsch klingt. Nur wenn die Originalfiguren mal Dialekt sprechen, dann bleibt auch Dialekt stehen und wird direkt übersetzt. Im Sizilianischen wird das italienische „O“ regelmäßig durch ein „U“ ersetzt, und wie in vielen Dialekten werden Wörter zusammengezogen. Ich brauche nur ans Schwäbische zu denken, und mir fallen gleich ein Dutzend Beispiele dazu ein.

Stilistische Fehler gibts also keine, und die Druckfehler aufgrund von Flüchtigkeit halten sich in sehr erträglichen Grenzen. Die früher abgedruckten Beschreibungen von Rezepten fehlen seit einigen Ausgaben, was aber kein Nachteil ist: Der Text liest sich dadurch flüssiger. Fußnoten gibts keine mehr.

Unterm Strich

Diesen flotten Krimi an einem Nachmittag und Abend zu verschlingen, ist leicht möglich und zudem keine Schande. Alle Zutaten, die ich an Camilleri-Krimis so mag, sind auch diesmal vorhanden: der allzu menschliche Commissario, seine Frauenbekanntschaften, ein rätselhafter Fall, jede Menge sizilianischer Verhältnisse – und natürlich schmackhaftestes Essen, dass einem das Wasser im Mund zusammenläuft. Es gibt nur eine Szene, die Montalbano wirklich den Appetit verdirbt, und das ist das „Abendessen“ nach dem illegalen Rennen. Ich sage nur: Salzsäure und verdorbener Fisch – brrr!

Neben illegalen Pferderennen greift der Autor wie stets die mafiösen Machenschaften dahinter auf. Opfer sind nicht nur erschlagene Pferde, sondern auch Stallknechte – und ab und zu auch mal ein Stallbesitzer. An die eigentlichen Drahtzieher kommen die Cops allerdings selten heran, und der Mafioso, auf den es Montalbano abgesehen hat, lacht ihm erst einmal höhnisch ins Gesicht, als der ihn verhaften will. Das Lachen wird ihm aber schon noch vergehen, dürfen wir annehmen. Denn nicht umsonst gehören die kritischen schwedischen Krimiautoren Sjöwall/Wahlöö zu seinen bevorzugten Ideenlieferanten und Kommissar Beck zu seinem Lieblingskommissar.

Ein Wermutstropfen waren für mich lediglich die immer gleichen Zutaten der „Montalbano“-Krimis, die die Handlung ein klein wenig vorhersehbar machten. Der schwache Eindruck des Krimis kann aber auch daran liegen, dass ich durch eine Reise nach Freiburg ziemlich von der Lektüre abgelenkt war.

Der Autor

Andrea Camilleri ist kein Autor, sondern eine Institution: das Gewissen Italiens. Der 1925 in dem sizilianischen Küstenstädtchen Porto Empedocle geborene, aber in Rom lebende Camilleri ist Autor von Kriminalromanen und -erzählungen, Essayist, Drehbuchautor und Regisseur. Er hat dem italienischen Krimi die Tore geöffnet.

Die Hauptfigur in vielen seiner Romane, Commissario Salvo Montalbano, gilt inzwischen als Inbegriff für sizialianische Lebensart, einfallsreiche Aufklärungsmethoden und südländischen Charme und Humor. Er ermittelt in „echt“ erscheinenden Orten wie Vigàta und Monte Lusa.

Allerdings ist der Commissario nicht der Liebling aller Frauen: Zu oft hindert ihn sein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein daran, dringende Termine mit seiner festen Freundin Livia wahrzunehmen, mit der er seit sechs Jahren liiert ist, die aber in Genua lebt, also aus „dem Norden“ kommt. (Auch Camilleris Frau stammt von dort, aus Mailand.)

Gebunden: 267 Seiten
Originaltitel: La Pista di Sabbia (2007)
Aus dem Italienischen von Moshe Kahn
ISBN-13: 978-3-7857-2395-1

www.luebbe.de

Der Autor vergibt: (5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Andrea Camilleri bei |Buchwurm.info|:

[„Der zweite Kuss des Judas“
[„Die Rache des schönen Geschlechts“
[„Der falsche Liebreiz der Vergeltung“
[„Von der Hand des Künstlers“
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