Orson Scott Card – Die verlorene Erde (Homecoming 1)

Exodus vom Planeten der Frauen

Vor vierzig Millionen Jahren wurde der Planet Hamonie von Menschen besiedelt. Seitdem wacht der gigantische Computer Überseele über die Kolonie. Überseele soll den Planeten vor den Gefahren schützen, die einst die Erde zerstörten. Doch nun ist der Computer selbst in Gefahr; seine Systeme drohen zusammenzubrechen. Um der Vernichtung zu entgehen, muß Überseele auf die Erde zurückkehren, denn nur dort kann der Master Computer repariert werden. ..

Der Autor der erfolgreichen „Ender“-Saga und des Alvin-Maker-Zyklus erzählt in seiner fünfbändigen „Homecoming“-Saga von einem fernen Planeten und wie dessen Bewohner wieder zurück zur verlassenen Erde gebracht werden. Bibelfeste Leser werden sich schon bald an das Alte Testament („Buch Mose“) erinnert fühlen.

Der Autor

Orson Scott Card wurde 1951 in Richland, Washington, geboren. Er erlangte einen legendären Ruf im Science-Fiction-Genre, als er mit den ersten beiden Bänden der ENDER-Serie zweimal hintereinander den Hugo- und den Nebula-Award gewann.

Er hat bislang über 60 Romane geschrieben, etliche Kurzgeschichten, ein Dutzend Theaterstücke, ein Musical, hunderte von Hörspielen und mehrere Drehbücher für Videospiele. Sein umfangreiches Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, er selbst kommt des öfteren zu Conventions in Europa. Und er hat, wie man hört, es geschafft, dass Andreas Eschbachs Roman „Die Haarteppichknüpfer“ im April 2005 in den USA erscheint – im Hardcover.

Er ist Vater von sechs Kindern , von denen eines an Zerebralparese starb. Heute lebt er mit seiner Frau Kristine und seiner jüngsten Tochter in Greensboro, North Carolina. Zwischenzeitlich stand er der „Kirche der Heiligen der letzten Tage“ (vulgo: Mormonen) nahe, hat sich aber inzwischen von ihr abgewandt. Aber es erklärt, warum er sich mit allen, selbst den obskursten Büchern der Bibel (Neues und Altes Testament sowie die Apokryphen) hervorragend auskennt.

Handlung

Vor 40 Millionen Jahren wurde der Planet Harmonie von Menschen der Erde besiedelt, die dem von Atomkrieg und Umweltzerstörung zugrunde gerichteten Planeten entflohen, um eine bessere Welt zu gründen. Um das Gedeihen ihrer Kolonie sicher zu stellen, installierten sie den gigantischen Computer Überseele, um über die Friedlichkeit der Kolonie zu wachen. Mit seinen Satelliten im Orbit vermag er bewusstseinsverändernde Strahlen in entsprechend genmanipulierte Gehirne zu schicken. Diese Gehirne sollen nie auf den Gedanken kommen, Wagen und Waffen zu erfinden, Dinge, die die Erde zerstören halfen. Und die Bewohner von Harmonie haben eine Kultur errichtet, in der ihnen wie selbstverständlich Träume, Visionen und Eingebungen geschickt werden. Alles in Butter also.

Denkste! Nun sieht sich der Computer Überseele selbst in Gefahr; seine Systeme drohen zusammenzubrechen, und die Zahl seiner Satelliten ist auf ein Viertel ihrer Sollstärke gesunken. Revolutionäre, gewalttätige Gedanken entstehen und greifen um sich. Um der Vernichtung seiner selbst und seiner Schützlinge zu entgehen, muss Überseele auf die Erde zurückkehren, denn nur dort kann der Master Computer repariert werden. Und nur dort gibt es den Hüter der Erde …

Überseele hat keine andere Wahl, als die ahnungslosen Menschen seines Planeten langsam an die Geheimnisse der Raumfahrt heranzuführen. Doch zuallererst müssen sie natürlich einen Grund sehen, überhaupt Harmonie verlassen zu wollen. Allerdings scheint sich Überseele einen sehr unbedeutenden und nutzlosen Knecht als Werkzeug für seine Pläne ausgesucht zu haben: Nafai ist gerade mal 14 Jahre alt und träumt davon, mal Schauspieler zu werden wie sein Bruder Mebbekew.

Doch Nafai ist ein aufgeweckter und rebellischer Geist, der etwas von Computer und Datenbanken versteht, genau wie sein behinderter Bruder Issib, der alle Sprachen ausforscht. Issib, so findet Nafai verblüfft heraus, hat sich inzwischen immun gegen die Strahlen von Überseele gemacht und kann Dinge denken, die Nafai vor Schmerz aufschreien lassen. Und Issib vergisst nicht alles gleich wieder.

Daher ist Nafai der ideale Agent, um für den Hauptcomputer die wichtigste Datenbank schlechthin zu besorgen: den Palwaschantu-Index. Dumm nur, dass der Index im Besitz des Todfeindes von Nafais Familie ist. Wär ja auch sonst zu einfach gewesen.

Mein Eindruck

Die Stadt, in der sich das Geschehen dieses Bandes abspielt, ist Basilika (die Bezeichnung für eine Kirche). Basilika liegt zwischen Wüste, Bergen und dem „Pfadlosen Wald“. In ihr regieren die Frauen, und in ihren mittelalterlichen Mauern darf ein Mann nur wohnen, wenn er mit einer Frau verheiratet ist. Um ein wenig Abwechslung in die Gesellschaft zu bringen, können sich Frauen schon nach einem Jahr von ihrem Mann scheiden lassen und einen Ehevertrag mit einem anderen schließen. Heiraten können sie schon mit 15 Jahren. Will sich ein Mann die Hörner abstoßen, hält er sich an die „Wilden Frauen“.

Und die Frauen haben sogar noch mehr Macht über die Männer, weil nur sie am Spaltsee leben dürfen, der in der Mitte der Stadt liegt. Sein Anblick ist den Männern verboten, und dort empfangen die Frauen die Visionen und Eingebungen der Überseele: das spirituelle Zentrum Basilikas. Kein Wunder, dass die Stadt so friedlich ist. Sie widmet sich den Künsten, dem Handwerk und dem Handel.

Es ist erstaunlich, wie durchdacht die Struktur und die Gesellschaft Basilikas sind. Dies trägt erheblich zur Glaubhaftigkeit des Geschehens bei, in das zahlreiche Bewohner der Stadt verwickelt werden. Schließlich werden so dem Leser die psychologischen Motive für die seltsamen Handlungen klar, die hier vor sich gehen.

Es ist aber auffällig, wie stark manche Figuren und ihre Motive denjenigen im Alten Testament der Bibel ähneln – da wird ständig um Erbschaft und Vorherrschaft und Rangfolge der Söhne gestritten. Das rührt natürlich daher, dass Card das „Buch Mormon“ in neuem Gewand erzählt. Das Buch Mormon, die Bibel der „Heiligen der Letzten Tage“, erzählt vom Exodus der Heiligen aus Israel, von ihrer Aufspaltung und Konfrontation und ihrer letztlichen Ankunft auf dem amerikanischen Kontinent. Diesmal führt der von der Überseele veranlasste Exodus allerdings „heim“ zur Erde – zumindest in den folgenden vier Bänden.

Unterm Strich

„Die verlorene Erde“ ist durchaus spannend und glaubhaft erzählt. Lediglich solche Leser, die absolut nichts mit Träumen, Visionen, Propheten und der „Überseele“ anfangen können bzw. wollen, werden vom Geschehen nicht gefesselt sein. Denn Card erzählt Nafais Geschichte keineswegs wie ein Evangelist, sondern so, als sei er dabei gewesen, als sich Nafai mit seinen Brüdern und Nichten in den Haaren lag und sie einander schier die Haare ausrissen.

Natürlich kommen auch romantische Liebesmomente vor und eine Exkursion über den verbotenen Spaltsee. Doch vor allem ist es der Umstand, dass sich dem Leser immer wieder neue Geheimnisse offenbaren, der dazu beiträgt, dass er weiterliest.

Natürlich ist Nafai eine Moses- oder Jesus-Gestalt – warum auch nicht? Vermutlich waren diese Figuren auch einmal Menschen. Und als sie ihrer Berufung folgten, da hatten sie ebenso wie Nafai schreckliche Gewissensbisse, als sie Taten begehen mussten, die sie sonst nie begangen hätten. Card macht es äußerst deutlich, dass und warum Nafai keine Schuld trifft, als er im Auftrag der Überseele einen Mord begeht, um Millionen weitere Tote zu verhindern.

Card ist keineswegs ein selbstgerechter Evangelist, sondern vielmehr ein aufmerksamer Beobachter der conditio humana. Sein Erfolg kommt nicht von ungefähr, und wir dürfen noch etliche gute Romane erwarten. Zudem hat er die Vorgeschichte von „Ender“ erzählt („Enders Schatten“ und „Shadow of the Hegemon“). Aber seine Fantasy ist ebenfalls vom Feinsten, beispielsweise „Enchantment„.

Taschenbuch: 349 Seiten.
Originaltitel: The Memory of Earth, 1992
Aus dem US-Englischen übertragen von Uwe Anton.
ISBN-13: 978-3404241675

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