Carlotto, Massimo – dunkle Unermesslichkeit des Todes, Die

Silvano Contin ist der Vater eines ermordeten Kindes und der Ehemann einer ermordeten Frau. 15 Jahre nach dem Verbrechen erhält er einen Brief aus dem Gefängnis, mit der Bitte des Mörders, Raffaello Beggiato, sein Gnadengesuch zu unterstützen. Bei einem schlecht geplanten Raubüberfall erschossen Beggiato und sein Komplize im Koksrausch den achtjährigen Jungen und seine Mutter. Während der zweite Täter unerkannt mit der Beute fliehen konnte, musste Beggiato als Raubmörder lebenslänglich hinter Gitter. Nun, da bei ihm eine tödliche Krankheit diagnostiziert wurde, lässt er nichts unversucht, um zumindest in Freiheit zu sterben. Nur bedarf es dazu einer Stellungnahme Silvano Contins.

Contins Leben hat sich nach dem Tod seiner Familie drastisch geändert. Er hat seinen Beruf aufgegeben, alle sozialen Kontakte abgebrochen und lebt seit 15 Jahren mit der Erinnerung an seine Liebsten in „der dunklen Unermesslichkeit des Todes.“ An Verzeihen ist freilich nicht zu denken, doch mit der Freilassung des ohnehin todgeweihten Mörders bietet sich Silvano Contin endlich die Chance, auch den zweiten Täter zu finden und ihn einer gerechten Strafe zuzuführen.

Mit „Die dunkle Unermesslichkeit des Todes“ hat Massimo Carlotto keinen gewöhnlichen Krimi geschrieben. Nicht das Verbrechen, sondern dessen Auswirkungen auf den Täter und die Hinterbliebenen der Opfer stehen im Mittelpunkt des Romans. Die eigentliche Handlung des Buches plätschert gemächlich vor sich hin und nimmt erst in der zweiten Hälfte etwas Fahrt auf. Das Entscheidende jedoch passiert in den Köpfen der beiden Gegenspieler. Kapitelweise lässt uns der Autor abwechselnd in die Gedanken- und Gefühlswelt von Contin und Beggiato blicken. Obwohl von Seiten des Mörders oft wenig zu berichten ist – was den Aufbau zuweilen etwas künstlich wirken lässt -, hat Massimo Carlotto damit die richtige Form für sein Thema gefunden.

Spannend, kalt und mitunter in derber Sprache schafft er es, den Leser an beide Personen heranzuführen. Das Opfer Silvano Contin ist gefangen in den Erinnerungen an seine ermordete Familie. Er lebt verzweifelt und jedes schönen Gefühls beraubt vor sich hin. Erst die Aussicht auf Rache und Gerechtigkeit lässt ihn seinen täglichen Trott abschütteln. Nicht viel besser geht es dem nach 15 Jahren Knast zermürbten Täter, Raffaello Beggiato. Von Krebs zerfressen und von der Erinnerung an seine Tat gequält, bleibt ihm nur noch die Hoffnung, wenigstens noch die ihm verbleibende Zeit in Freiheit zu verbringen.

Wem die Sympathie der Leser gehört und wer hier Opfer und wer Täter ist, scheint zu Beginn des Buches noch sehr klar. Doch diese Kategorien werden nach und nach aufgelöst. Dabei geht der Roman weit über die persönlichen Schicksale seiner Akteure hinaus. Teils implizit und beiläufig, teils direkt fragt Carlotto nach dem Verhältnis von Mörder und Opfer in unserer Gesellschaft. Kann oder darf man mit Mördern Mitleid empfinden? Kann Rache gerecht sein? Oder kann sie wenigstens dem Opfer Gerechtigkeit verschaffen? In düsterer Atmosphäre wird diesen Gedanken nachgegangen, wobei 200 Seiten wohl leider etwas zu knapp sind, um ein solches Thema anzugehen.

Eine besondere Erwähnung verdient schließlich noch die beeindruckende Beschreibung des Gefängnisalltags. Massimo Carlotto, Jahrgang 1956, wurde in den 70ern selbst wegen eines Mordes, den er nicht begangen hatte, zu 18 Jahren Haft verurteilt und erst 1993 wieder freigelassen, woraufhin er sich der Schriftstellerei zuwandte. Radikal und bedrückend schildert er das Essen, den Drogenkonsum und die Sprache im Gefängnis, vor allem aber, wie Beggiato krampfhaft versucht, seinen Tag zu strukturieren, damit er nicht völlig den Verstand verliert.

„Die dunkle Unermesslichkeit des Todes“ ist in vielerlei Hinsicht ein ungewöhnliches Buch. Es hat eine ungewöhnliche Geschichte, ungewöhnliche Charaktere und ist überdies ungewöhnlich spannend. Wer einen Kriminalroman erwartet, wird nicht unbedingt enttäuscht sein. Und doch ist dies viel mehr als nur ein einfacher Krimi. Carlotto schreibt nicht über irgendein Verbrechen, er schreibt über das Verbrechen an sich.

|Originaltitel: L’oscura immensita della morte
Übersetzung: Hinrich Schmidt-Henkel
188 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-608-50200-8|
http://www.klett-cotta.de/tropen.html

_Wolfgang Roidl_

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