Jonathan Carroll – Die Stimme unseres Schattens

Die Kindheit holt dich ein

Nach „Land des Lachens“ ist dies Carolls zweiter Roman (1983). Er steht in einer Reihe mit „Land des Lachens“ und „Laute Träume“. Der Autor hat viel praktische Erfahrung mit dem Tod, und auch diesmal geht es darum. Allerdings porträtiert hier Caroll mit der Figur Ross einen wirklich existenten Kumpel und Mörder, den er mit zwölf Jahren, als er selbst „ein jugendlicher Krimineller“ war, kennen lernte – und ihn bewunderte. Man darf dann wohl annehmen, das Joe Lennox gewisse Züge von Carroll selbst aufweist. Welche das sind, möge der Leser selbst herausfinden.

Handlung

Dem Aussehen nach ist Joseph Lennox ein ganz gewöhnlicher junger Mann. Er wuchs in einem New Yorker Vorort auf und bringt sich nun ganz ordentlich als Schriftsteller durch. Für ihn hat Wien eine besondere Anziehungskraft, denn hier ist auch der Zufluchtsort vor einer Jugendtragödie, der Joes älterer Bruder zum Opfer fiel, als sie an der Eisenbahnlinie spielten.

Wien

In dieser Stadt schließt Joe die verhängnisvolle Freundschaft mit dem eigenartigen Ehepaar India und Paul Tate. Die Bekanntschaft mit India nimmt schon bald unverkennbar erotische Züge an. Doch die Vergangenheit droht Joe einzuholen und zu verschlingen. Denn der kleine Joe war seinem älteren Bruder Ross in anbetungsvoller Hassliebe verbunden. Ross hatte Joe stets zusammen mit seinem Kumpan Bobby terrorisiert. In einem Anfall von Panik hatte Joe Ross dann vor einen Zug gestoßen: Fratrizid! Die Mutter landete in der Nervenklinik, die Familie zerfiel. Joe verarbeitete dieses Erlebnis als sein Theaterstück „Die Stimme unseres Schattens“, das erfolgreich aufgeführt wurde.

Nun, nach Wien übersiedelt, erkennt ihn India Tate als Autor dieses Stückes – Joe ist hingerissen und schenkt ihr und Paul all seine Zuneigung. Pauls Idee fasziniert ihn, dass jeder Mensch im Laufe seines Lebens verschiedene Persönlichkeiten besitzt, die einander sowohl in den einzelnen Lebensabschnitten ablösen als auch gleichzeitig nebeneinander existieren können. Joe: „Wenn doch nur der Joe Lennox, der seinen Bruder tötete, endgültig verschwunden wäre!“

Verdächtig: Paul scheint über die Umstände von Ross‘ Tod mehr zu wissen als wahrscheinlich wäre. Als India Paul mit Joe (der sie nicht wirklich liebt) betrügt, bedient sich Paul eines Alter Egos: Little Boy. Dieser ist im Gegensatz zu Paul ein aggressiver, sadistischer Kasperle-Charakter und stellt Joe wegen dessen Verhältnis zu India zur Rede. Zufall oder absichtliche Ironie: India hatte Little Boy erfunden.

Pauls plötzlicher Tod lässt das heimliche Paar mit Schuldgefühlen zurück. Hier könnte die Story ihr friedliches Ende finden, wenn nicht Little Boy in fünffacher Ausfertigung auftauchen würde: offenbar wandelt Paul post mortem auf dem Kriegspfad. Um India die Chance zu geben, mit Paul ins Reine zu kommen, geht Joe nach Amerika zurück.

New York

In New York rettet er die patente Karen vor einer Vergewaltigung, verliebt sich Hals über Kopf in sie, eine glückliche Zeit bricht an – zu schön, um wahr zu sein. Seltsam: Karen hat wie India eine Vorliebe für zitronengelbe Blusen und alptraumhafte Bilder. Als Joe von India um die Rückkehr nach Wien gebeten wird, muss er sich entscheiden zwischen Pflichterfüllung oder seiner Liebe zu Karen, die er zu verlieren droht.

Wien

In Wien gelingt es ihm und India, den rachedurstigen Paul zu besänftigen, doch danach distanziert sich India von Joe – er raube anderen die emotionale Energie. Endlich ist Joe, das am Boden zerstörte Opfer, reif für den Showdown: India und Paul geben sich als Reinkarnationen von Ross und Bobby (der inzwischen ebenfalls gestorben war) zu erkennen, die einst Joe terrorisierten. Die Toten haben mit dem Lebenden lediglich gespielt.

Gibt es mit der verlassenen Karen noch eine allerletzte Chance für Joe Lennox? Doch als Joe in New York Karens Stimme hört und sich umdreht, sieht er sich Ross (= India) gegenüber! Ihm bleibt lediglich das Exil auf einer einsamen griechischen Insel, wo er seine Tage als Eremit fristet, denn „er kann nichts und niemandem mehr trauen.“

Mein Eindruck

Eine nicht sehr erbauliche Geschichte also, die der Wucht einer antiken griechischen Tragödie nahe kommt. Der Fluch der bösen Tat in Joes Kindheit wirkt durch sein ganzes Leben nach. Er schafft sich seine Erinnyen selbst: die Rachegeister heißen India und Paul, Reinkarnationen für Ross und Bobby. Dass Joe mit India schläft, läuft auf einen ziemlich bizarren Fall von Inzest hinaus. Das liegt aber daran, dass Joe seine Vergangenheit, den Mord an seinem Bruder, nicht als Teil von sich akzeptieren kann, sondern diesen Teil dissoziiert: als Geister und Reinkarnationen. Allerdings hat sich diese(r) Ross/India/Karen nicht weiterentwickelt, sondern ist immer noch so grausam wie zum Zeitpunkt seines Todes. Joe denkt zwar, er sei mit 25 Jahren endlich ein erwachsener Mensch, aber Ross/India belehrt ihn schnell eines Besseren.

Ein sicheres Gefühl für Menschen und das Ambiente eines geografischen Ortes – hier Carrolls zweite Heimatstadt Wien – zeichnen das Buch aus. Die Rückblicke in Joes Kindheit und Jugend erzählen seinen Werdegang sehr plastisch und glaubwürdig. Nur einmal greift Carroll zum uralten Mittel der Allegorie, um Joes Entscheidung zwischen Karen und India zu verdeutlichen. Er erzählt eine von Joes Erinnerungen, in der erst das eine Nachbarhaus abbrennt, dann das andere. Dazwischen lebt Joe in fortwährender Todesangst: Welches Haus brennt als nächstes – sein eigenes? – Insofern ist „Die Stimme unseres Schattens“ nicht nur ein wunderbar erzählter phantastischer Roman, sondern auch der pure Horror.

Carrolls Romane zu lesen, ist häufig eine existenzielle Erfahrung. Da macht „Stimme unseres Schattens“ keine Ausnahme. Jeder schlage das Buch auf eigene Gefahr auf.

Originaltitel: Voice of our shadow, 1983
Aus dem US-Englischen übertragen von Rudolf Hermstein

https://www.suhrkamp.de

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