Carroll, Steven – Gabe der Geschwindigkeit, Die

Mit seinem Roman [„Die Kunst des Lokomotivführens“ 2853 gelang dem Australier Steven Carroll eine beachtenswerte Momentaufnahme um Liebe, Lebensträume und enttäuschte Hoffnungen. Nun liegt mit „Die Gabe der Geschwindigkeit“ der Nachfolgeband vor.

Gleiche Figuren, gleicher Ort, aber eine andere Zeit. Spielte der Vorgängerroman noch Anfang der fünfziger Jahre in einem verschlafenen Vorort von Melbourne, so sind seitdem knapp zehn Jahre vergangen. Vic, der ehemalige Lokomotivführer ist mittlerweile den ganzen Tag zu Hause und träumt von einem besseren Leben weit weg. Seine Frau Rita dagegen träumt von schicken französischen Fenstertüren und zeigt damit wieder einmal, dass ihr Geschmack, ihr Stil eigentlich ein bisschen zu gut für diesen Vorort ist.

Sohn Michael interessiert das alles herzlich wenig, denn die Welt des Sechszehnjährigen dreht sich in erster Linie um einen kleinen roten Ball. Von morgens bis abends übt er das Werfen und träumt von der großen Kricketkarriere. Eines Tages muss sie sich ihm doch offenbaren, die Gabe der Geschwindigkeit, und dann könnte ihr Schwung ihn aus der Einöde dieses Vorortes hinauskatapultieren. Bis es so weit ist, übt Michael Werfen, tagein, tagaus.

Doch als Michael Kathleen Marsden begegnet, ändert das einiges in seinem sonst so überschaubaren Leben. Kathleen weckt Gefühle in Michael, die er bislang nicht kannte, und die Begegnung mit ihr ist es, die Michael zeigt, dass es noch andere wichtige Dinge im Leben gibt außer Kricket.

So wie „Die Kunst des Lokomotivführens“ eine Momentaufnahme ist, so lässt sich auch „Die Gabe der Geschwindigkeit“ einordnen. Carroll schildert den Moment in Michaels Leben, in dem seine Kindheit unwiederbringlich zu Ende ist. Die gesamte Handlung läuft auf einen bestimmten Moment zu. Dennoch ist der Roman gänzlich anders als sein Vorgänger. Diesmal spielt die Handlung über einen längeren Zeitraum, während der gesamte Vorgängerroman an nur einem einzigen Abend spielt.

Carroll zieht die Handlung etwas auseinander, baut zeitliche und räumliche Sprünge ein und ordnet mehr Figuren in den Gesamtkontext ein. Vics Mutter, die nach einem Unfall in Vics und Ritas Haus untergekommen ist, erlaubt dem Leser Einblicke in Vics Kindheit und in ein Geheimnis, das der Mutter ihr ganzes Leben lang schon auf den Schultern lastet.

Und auch dem Kapitän der westindischen Kricketmannschaft Frank Worrell kommt eine Rolle zu. Die Handlung des Romans beginnt und endet mit einem Kricketturnier, zu dem Worrell mit seiner Mannschaft anreist. Dem Leser offenbart Carroll Worrells Gedanken während des Turniers ebenso wie die Einsamkeit, in die ihn die Kapitänsbürde zwingt.

Und dann wäre da noch der einsame Fabrikbesitzer Webster, der in seinen schlaflosen Nächten in einem schicken Sportwagen durch die Vororte braust und damit eine geheime Leidenschaft auslebt, von der nicht einmal seine Frau weiß.

Diese Vielfalt an Figuren, die neben Rita, Vic und Michael genauer betrachtet werden, zieht die Handlung etwas in die Länge. Insbesondere in der ersten Hälfte des Romans wirkt die Handlung schnappschussartig. Carroll schaut mal hierhin, schaut mal dorthin, und so ganz weiß man als Leser während dieser Zeit noch nicht, in welche Richtung das überhaupt abzielen soll. Das war in „Die Kunst des Lokomotivführens“ zwar ähnlich, durch eine stärkere räumliche und zeitliche Konzentration der Handlung aber wesentlich greifbarer.

Zwar fügt Carroll die Handlungsstränge am Ende zu einem stimmigen Gesamtbild zusammen, zwar schafft er es dabei auch, zum Ende hin eine gewisse Spannung aufzubauen, dennoch ist mir die Atmosphäre aus dem Vorgängerroman als wesentlich dichter in Erinnerung. Man spürt, dass alles auf einen unausweichlichen Augenblick hinausläuft, der alles verändern wird, und dass die Protagonisten danach nicht mehr dieselben sein werden wie vorher. Auch „Die Gabe der Geschwindigkeit“ steuert auf so einen Punkt zu, allerdings vor allem in der ersten Hälfte wesentlich weniger konzentriert und zielstrebig.

Lebte „Die Kunst des Lokomotivführens“ von dem tiefen Einblick in die Figuren und von der greifbaren Spannung des Augenblicks, so zieht sich der Nachfolger in den ersten Kapiteln etwas zähflüssig und langsam dahin. Carroll ist kein Mann für temporeiche Plots, keiner, der viel Wirbel um seine Handlung macht und seine Geschichte mit Effekten und Actioneinlagen aufbläht. Er ist ein Autor der leisen Töne, der zurückhaltenden Beobachtung und der ausgefeilten Persönlichkeitsskizzierung. Bei „Die Kunst des Lokomotivführens“ sind das die Zutaten, in denen man sich als Leser verlieren kann. Der Roman entwickelt eine ganz eigene Spannung, und genau die lässt in den ersten Kapiteln von „Die Gabe der Geschwindigkeit“ auf sich warten.

Zum Teil liegt das auch an den sprachlichen Mitteln. Carroll beschreibt stets sehr genau, mit einem Blick für kleine Details und den tieferen Sinn der Dinge. Das lässt sich auch im aktuellen Roman nicht leugnen. Dennoch entwickelt er einen Zug, der mit fortschreitender Seitenzahl stets ein bisschen mehr nervt: Er neigt zu Wiederholungen. Bestimmte Formulierungen schleichen sich wieder ein, nachdem sie ein paar Zeilen zuvor schon aufgetaucht waren, und das lässt Carrolls Stil hie und da überausführlich erscheinen.

Und so dauert es diesmal, bis sich das Spannungsfeld der Figuren, das Besondere des Augenblicks überhaupt richtig entfalten kann. Erst ab etwa der Hälfte fängt die Geschichte an, den Leser gefangen zu nehmen. Michaels Leben steuert auf den Punkt zu, an dem er erwachsen wird. Alles läuft in einem Augenblick zusammen, und man kann sich der aufkommenden Spannung kaum entziehen.

Aber bis dahin hat man erst einmal eine einige Kapitel andauernde Durststrecke zu überwinden. „Die Gabe der Geschwindigkeit“ ist ein literarisches Kleinod, das es dem Leser nicht leicht macht. Nur wer ausreichendes Durchhaltevermögen beweist, wird am Ende belohnt. Aber diese Belohnung reicht leider nicht ganz aus, um den etwas faden Beigeschmack der langatmigen ersten Buchhälfte vergessen zu machen.

Bleibt unterm Strich also ein durchwachsener Eindruck zurück. Einerseits wunderbar tiefe und vielschichtige Charakterskizzierungen, andererseits aber eine etwas zähe und langatmige Lektüre in der ersten Buchhälfte. Man braucht schon einen Sinn für die feinen Töne in Carrolls Buch, ansonsten reicht am Ende das Durchhaltevermögen nicht. Im Vergleich dazu ist [„Die Kunst des Lokomotivführens“ 2853 dichter und kompakter erzählt und damit eben auch um einiges besser.

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