Connelly, Michael – Echo Park

_Der Steppenwolf jagt Reinecke Fuchs_

Im Jahr 1993 verschwand Marie Gesto, nachdem sie einen Supermarkt verlassen hatte. Kriminalinspektor Harry Bosch und seine Partner Jerry Edgar bearbeiteten den Fall, konnten aber keine Beweise gegen ihren Hauptverdächtigen Anthony Garland erbringen, und so gelang es ihnen nie, die 22-jährige leidenschaftliche Reiterin zu finden.

Jetzt, 13 Jahre später, während die Gesto-Akte wie so oft auf seinem Schreibtisch liegt, bekommt Bosch einen Anruf von einem anderen Ermittler und vom Bezirksstaatsanwalt. Ein Mann, dem zwei brutale Morde zur Last gelegt werden, sei bereit, auch andere Morde einzugestehen, darunter den an Gesto, sofern ihm dafür die Todesstrafe erlassen werde.

Das Geständnis dieses Serienmörders zu ertragen, ist für Bosch schon schwer genug, aber dann auch noch unter die Nase gerieben zu bekommen, dass er vor 13 Jahren dem Anruf dieses Mannes nicht nachgegangen sei, belastet Boschs Gewissen aufs äußerste, denn er hätte sonst wohl neun weitere Morde verhindern können.

_Der Autor_

Michael Connelly war jahrelang Polizeireporter in Los Angeles und lernte das Polizeigewerbe von außen kennen. Bekannt wurde er mit seinen Romanen um die Gesetzeshüter Harry Bosch und Terry McCaleb, zuletzt besonders aufgrund der Verfilmung von „Das zweite Herz / Blood Work“ durch Clint Eastwood. Zuletzt erschienen „Der Mandant“, „Vergessene Stimmen“ und „Die Rückkehr des Poeten“.

|Michael Connelly bei Buchwurm.info:|

|Harry Bosch:|
[„Vergessene Stimmen“ 2897
[„Die Rückkehr des Poeten“ 1703
[„Kein Engel so rein“ 334
[„Dunkler als die Nacht“ 1193
[„Schwarze Engel“ 1192
[„Das Comeback“ 2637
[„Schwarzes Eis“ 2572
[„Schwarzes Echo“ 958

[„Unbekannt verzogen“ 803
[„Im Schatten des Mondes“ 1448
[„Der Poet“ 2642

_Handlung_

Marie Gesto, 22, lebte im High Tower Wohnblock von Hollywood, doch jetzt ist ihr Apartment mit dem tollen Blick auf die Stadt Los Angeles leer. Gesto verschwand, nachdem sie einen Supermarkt verlassen hatte, spurlos. Dass ihre Kleider und ihre Einkäufe – Karotten für die Pferde eines Reitstalls, in dem sie arbeitete – fein säuberlich sortiert in ihrem Wagen liegen, irritiert Harry Bosch. Obendrein steht der Wagen nicht irgendwo, wo ihn ein Mörder loswerden wollte, sondern genau da, wo er hingehört: in der Garage des High Tower. Wer wusste, dass sie gerade diese Garage gemietet hatte?

Bosch tippt auf Anthony Garland, dessen Exfreundin einmal in diesem Wohnblock gewohnt hatte. Doch Anthony, Sicherheitschef im Ölkonzern seines schwerreichen Vaters T. Rex Garland, beteuert seine Unschuld und wehrt sich gegen die hartnäckigen Fragen Boschs mit einer gerichtlichen Fernhaltungsanordnung. Bosch darf sich ihm nicht mehr als bis auf eine gewisse Distanz nähern. Doch Bosch geht der Fall Gesto nahe und hat sich Maries Eltern gegenüber moralisch verpflichtet, den Fall zu lösen. Als Garland die gerichtliche Verfügung nicht erneuert, vernimmt er ihn erneut, 13 Jahre später. Und diesmal hat er ein Video, das zeigt, dass Garland zu mörderischem Hass fähig ist …

Bosch arbeitet inzwischen nicht mehr mit Jerry Edgar zusammen, sondern gemeinsam mit Kiz Rider an ungelösten Fällen. Die Gesto-Akte liegt immer auf seinem Schreibtisch, und heimlich hat er sogar eine Kopie davon angefertigt und nach Hause genommen. Dieser Umstand wird später wichtig werden. Denn das Arbeitsexemplar wird von Freddy Olivas, Mordkommission für Northeast L. A., angefordert. Der bearbeitet den Fall Raynard Waits, um den sich der Bezirksstaatsanwalt Rick O’Shea kümmert. O’Shea kämpft gerade um seine Wahl zum Oberstaatsanwalt und will den Fall Waits benutzen, um sich zu profilieren. Wenn Bosch ihm Schützenhilfe gewährt, ist er zu Gegenleistungen bereit, signalisiert er, als Bosch ihn besucht. Und Gesto, Boschs Fall? Gesto befindet sich unter den Opfern des Serienmörders Raynard Waits.

Raynard Waits will sich aber nur zu dem Mord an Gesto bekennen, wenn ihm O’Shea die Todesstrafe erlässt und das Urteil in „Lebenslänglich“ umwandelt. Doch wer sagt ihnen, dass Waits die Wahrheit spricht? Man braucht jemanden, der Waits auf den Zahl fühlt. Das ist Boschs Rolle. Wenn sich die Gesto-Sache als wasserdicht erweist, dann steigt die Glaubwürdigkeit Waits‘ an, genau wie Waits‘ Anwalt Swann behauptet.

Bosch fühlt sich dem Mordopfer Marie Gesto ebenso moralisch verpflichtet wie ihren Eltern. Jetzt soll er auf einmal einen politischen Deal mit ihr deichseln, und das stinkt ihm gewaltig. Aber sein Hass auf den Killer Gestos verblendet ihn und macht ihn unvorsichtig. Er willigt ein, um an Waits heranzukommen. Einen Tag vor der Begegnung ruft ihn Olivas an: Was denn der Eintrag im Logbuch zu bedeuten habe, der einen Anruf von Robert Saxon – dem früheren Pseudonym Waits‘ – vor 13 Jahren verzeichnet, will Olivas wissen. Bosch fällt aus allen Wolken. Aber wenn es stimmt, was Olivas sagt, dann ist Bosch an den weiteren neun Morden, die Waits danach beging, moralisch mitschuldig.

Konnten Bosch und Edgar damals wirklich diesen Anruf eines Zeugen, des heutigen Raynard Waits, übersehen oder nicht nachverfolgt haben? Bosch ist erschüttert und setzt alle Hebel in Bewegung, um das Desaster, das seine berufliche Integrität wie auch seinen Job bedroht, abzuwehren. Er nimmt sogar Kontakt zu der FBI-Agentin Rachel Walling auf, mit der er einmal zusammengearbeitet (In „Der Poet“ und „Die Rückkehr des Poeten“) und geschlafen hat. Sie bringt ihn auf eine neue Spur: „Raynard Waits“ ist nur das Pseudonym eines Tricksters und bedeutet eigentlich „Reineke Fuchs wartet“. Reineke Fuchs alias Reynard alias „rénard“ ist der mänliche Jungsfuchs, der in französischen Fabeln als Verführer und Schurke auftaucht, häufig versteckt in seinem Schloss, wohin er seine Opfer verschleppt. Das passt hundertprozentig auf Raynard Waits alias Robert Saxon. Ob Saxon sein wirklicher Name ist, bezweifelt Rachel ebenfalls, denn Waits und Saxon haben verschiedene Geburtsjahre.

Das entscheidende Verhör überführt Waits aka Saxon zwar der Lüge bezüglich der Geburtsjahre, aber das bringt Bosch noch nicht weiter. Waits bietet an, ihn, den Staatsanwalt und ein Spurensicherungsteam zu der Stelle zu führen, wo er Marie Gesto vor 13 Jahren vergraben hat: im Beachwood Canyon, unweit des Reitstalls, wo Marie arbeitete. Bosch kann sein Temperament gerade noch zügeln, aber er ist einverstanden. Wäre er etwas ruhiger und weniger hasserfüllt, würde er die Falle riechen.

Die Exkursion in den regendurchweichten Wald von Beachwood Canyon beginnt ganz harmlos. Natürlich hat Staatsanwalt O’Shea als gewiefter Politiker einen Helikopter des Fernsehens sowie einen Kameramann bestellt. Bosch kann nichts dagegen tun. Andererseits: Wenn etwas schiefgeht, müsste alles auf Band sein, nicht wahr? (Wieder ein Irrtum Boschs.) Waits führt sie zu der Stelle, wo ein Skelett verborgen sein soll. Aber wie kann er es ohne Schwierigkeiten nach 13 Jahren finden?

Die Exkursion mündet in eine katastrophale Schießerei. Der Angeklagte entkommt. Der Fall ist wieder ganz am Anfang und Staatsanwalt O’Shea braucht einen Prügelknaben, um sich selbst reinzuwaschen: Bosch. Doch da gerät er an den Falschen.

_Mein Eindruck_

Ich habe diesen erstklassigen Krimi in nur zwei Tagen gelesen, denn ich musste unbedingt erfahren, was und wer sich hinter der Intrige verbirgt, deren Opfer Harry Bosch werden soll. Wie Bosch, durch dessen Augen wir das Geschehen beobachten, glaubte auch ich felsenfest an eine Intrige, hinter der Olivas und O’Shea stecken müssen. Wie Bosch musste auch mich eines Besseren belehren lassen. Man kann durchaus ein und dasselbe Geschehen aus zwei verschiedenen Blickwinkeln betrachten und genauso plausibel erklären. Man muss nur weit genug Indizien sammeln und darf sich nicht von Autoritäten wie etwa einem Vorgesetzten täuschen lassen.

Nach dem Desaster im Beachwood Canyon wird Bosch erst einmal von seiner Dienststelle beurlaubt, während die Dienstaufsicht ihre Hausaufgaben macht: Wer hat warum auf wen geschossen usw. Doch Bosch ist bekanntlich nicht der Typ, der die Hände in den Schoß legt und auf den Nikolaus wartet. Ganz im Gegenteil: Er legt jetzt erst richtig los, denn er hat eine Stinkwut auf Raynard Waits – oder wie auch immer er mit richtigem Namen heißt – im Bauch.

Anders als in seiner frühen Steppenwolf-Zeit (z. B. in „Der letzte Coyote“ oder „Schwarzes Eis“), ist Bosch nun auf Teamarbeit eingestellt. Kiz Rider und Rachel Walling liefern ihm ebenso wertvolle Hinweise wie sein früherer Partner Jerry Edgar. Sogar dessen Cousin Jason Edgar, ein Sicherheitsmanager, hilft ihm ohne weiteres. Auf diese Weise kommt Boschs private und verbotene Ermittlung gegen den Entflohenen rasch voran. Als sich Waits ein weiteres Opfer schnappt, weiß Bosch, dass seine Ermittlung a) völlig gerechtfertigt und b) superdringend geworden ist.

Der Showdown mit Waits ist aber noch keineswegs das Ende des Falles Marie Gesto. Hätte Bosch ein wenig mehr aufgepasst, wäre ihm die Bitte von O’Shea und Olivas oberfaul vorgekommen, einen überführten Serienmörder vor der Giftspritze zu bewahren, nur weil der noch einen weiteren Mord gesteht – den an Marie Gesto. Dass sie nicht auf das Konto von Waits geht, erfährt er von diesem selbst. Doch wer ist dann der Mörder? Und wer hat die ganze Intrige in wessen Auftrag in Gang gesetzt?

Eins dürfte klar sein: Waits wird nicht der letzte Tote im Fall Marie Gesto gewesen sein. Die Frage ist nur: Wird der Arm der „Gerechtigkeit“ den Richtigen treffen? Und wird Boschs neue Freundin Rachel Walling sein Verhalten akzeptieren?

_Unterm Strich_

Dieser Krimi liest sich wie ein klassischer Raymond Chandler („The big sleep“). Die Handlung hat den gleichen Drive, die harte Action, den knallharten Hauptdarsteller und jede Menge überraschende Wendungen. Im titelgebenden Echo Park steht eine Statue, die als „Lady of the Lake“ bezeichnet wird. Wenn ich mich nicht täusche, heißt so auch ein Krimi von Chandler himself. Deutlicher kann man eine Hommage kaum noch kennzeichnen.

Es gibt Sentimentalität, wo sie angebracht ist, etwa im Fall der angeschossenen Kiz Rider und im Fall von Rachel Walling, die Bosch zur Seite steht. Dieses Mitgefühl steht in deutlichem Kontrast zu den knallharten Verhandlungen, Verhören und Verfolgungsjagden (Bosch fährt einen Mustang wie Steve McQueen in „Bullitt“) sowie mehreren Showdowns. Und ein harter Bursche wie Bosch verfügt auch über einen entsprechend trockenen, eisgekühlten Humor. Das wird deutlich, als er Waits‘ Anwalt Maury Swann zur Rede stellt. Die Szene ist köstlich, wenn man schwarzen Humor mag.

Mit diesem Krimi beweist Connelly wieder einmal, dass ein Autor nicht zu viel erreichen oder beweisen will und doch einen äußerst zufriedenstellenden Roman abliefern kann. Hier gibt’s keinen Hokuspokus wie bei Jeffery Deaver und keine Familienverwicklungen wie zurzeit bei Patricia Cornwell. Die Hexenmeister von der Crime Scene Investigation Unit (CSI) tun ihre Arbeit wie gewohnt, doch es ist Bosch, der eins und eins zusammenzuzählen hat – und weiter ist als alle anderen, die nur ihre Hausaufgaben machen und abends um vier oder fünf nach Hause gehen, um der Rush Hour zu entgehen.

Bosch nennt sich selbst einen „true detective“, einen, der die menschlichen Schicksale, die ihm begegnen, an sich heranlässt (er klingt einmal wie ein Zen-Meister, spöttelt Rachel Walling), doch diese Selbstverpflichtung hat einen hohen Preis: das Mit-Leiden. Deshalb ist ihm der Fall Marie Gesto so wichtig. Ich wünschte, es gäbe mehr solche Detectives wie Bosch, aber seinesgleichen ist nur allzu selten geworden. Allenfalls noch Alex Cross von Patterson und Inspektor Rebus von Ian Rankin können ihm das Wasser reichen.