Connelly, Michael – Spur der toten Mädchen

_Vorhersehbar und unoriginell: Ermittlung plus Gerichtsverfahren_

Strafverteidiger Mickey Haller wird vom Bezirksstaatsanwalt von Los Angeles County eingeladen, an dessen Stelle einen freigelassenen Kindermörder erneut vor Gericht zu stellen. Obwohl Mickey riecht, dass er hier (wieder mal) übern Tisch gezogen werden soll, nimmt er die Herausforderung an. Jason Jessup tötete offenbar vor 24 Jahren die zwölfjährige Melissa Landy. Doch eine DBS-Probe entlastet ihn nun, er wird freigelassen.

Mickey und sein Hauptermittler Harry Bosch sind überzeugt, dass Jessup erneut töten würde. Also müssen Haller und sein Halbbruder, der LAPD-Veteran Harry Bosch, den Fall unbedingt gewinnen. Doch ohne es zu wollen, bringt Mickey damit seine eigene und auch Harrys Tochter in tödliche Gefahr …

_Der Autor_

Michael Connelly war jahrelang Polizeireporter in Los Angeles und lernte das Polizeigewerbe von außen kennen. Bekannt wurde er mit seinen Romanen um die Gesetzeshüter Harry Bosch und Terry McCaleb, zuletzt besonders aufgrund der Verfilmung von „Das zweite Herz / Bloodwork“ durch Clint Eastwood. Auch „Der Mandant“, der erste Mickey-Haller-Roman soll hochkarätig verfilmt werden, doch es gibt „künstlerische Differenzen“, und so wurde der Regisseur ebenso gefeuert wie der Star Matthew „Hochzeitsplaner“ McConnaughey.

Zuletzt erschienen „So wahr uns Gott helfe“, „The Overlook / Kalter Tod“, „The Scarecrow/Sein letzter Fall“ (siehe meine Berichte) und „Nine Dragons/Neun Drachen“.

Weitere wichtige Romane:

„Schwarze Engel“ (1998)
„Der Poet“ (1996)
Schwarzes Echo (1991)
„Kein Engel so rein“ (City of Bones, 2002)
„Unbekannt verzogen“ (Chasing the dime)
„Letzte Warnung“ (Lost light)
„Die Rückkehr des Poeten“ (The narrows)
The Overlook (2008)

_Handlung_

|Das Angebot |

Bei einem teuren Mittagessen bekommt Rechtsanwalt Mickey Haller vom Bezirksstaatsanwalt von Los Angeles County, Gabriel Williams, ein ungewöhnliches Angebot, das er fast nicht ablehnen kann. Haller soll diesmal an Williams‘ Stelle treten und die Staatsanwaltschaft gegen Jason Jessup vertreten. Das bedeutet, die Seiten von der Verteidigungs- zur Anklagebank zu wechseln.

Dafür braucht Mickey einen echt guten Grund. Null Problemo: Jason Jessup wurde vor 24 Jahren für den Mord an einer Zwölfjährigen zu Lebenslang verurteilt, allerdings nur aufgrund von wenigen Indizien, darunter einer DNS-Spur. Diese DNS-Spur wurde kürzlich von einem bürgerlichen Überprüfungsinitiative, dem GJP (Genetic Justice Project), als nicht zu Jessup gehörig identifiziert. Daher hat der Oberste Gerichtshof Jessup freigesprochen. Gleich darauf erhob die Staatsanwaltschaft erneut Anklage, denn nicht nur die DNS-Spur hat seinerzeit zu Jessups Verurteilung geführt. Leider ist die Staatsanwaltschaft mit dem Makel behaftet, sie habe Beweise manipuliert. Folglich bracuht sie einen Juristen besten Rudes, einen wie Mickey Haller.

|Harry Bosch|

Mickey will nicht, dass der Mörder erneut frei herumläuft, denn er hat selbst eine Tochter im Teenageralter. Doch natürlich stellt er Bedingungen. Harry Bosch, ein Cop, soll sein Ermittler sein und Margaret McPherson, Mickeys Exfrau, soll seine rechte Hand sein und nach Zentral-L.A. ziehen dürfen. Williams willigt ein, denn er bangt um seine Karriere als Bezirksstaatsanwalt. Doch schon bei der ersten Pressekonferenz muss er Mickey zurechtweisen. Mickey nimmts gelassen: Williams‘ könne ihn nicht mehr entlassen, sonst würde er unglaubwürdiger wirken, als er es eh schon ist.

|Die Ermittlung|

Mit seinen beiden Helfern macht sich Mickey ans Werk. Bosch hat den Verbrecher ins Gerichtsgebäude überstellt und die Beweise und Akten besorgt. Maggie hat die Geschichte des Falls aufgerollt. Melissa Landy lebte bis zu ihrem Tod in einer wohlhabenden Gemeinde von L. A., die unweit einer beliebten Kirche lag. Um die Kirche kurvten sonntags Abschleppwagen, um unrechtmäßig abgestellte Autos der Kirchgänger abzuschleppen und so ein gutes Geschäft zu machen. Jason Jessup war so ein Fahrer. Er wurde von Melissas Schwester Sarah identifiziert: Er habe Melissa entführt. Deren Leiche wurde in einem Müllcontainer gefunden, wenigstens wurde sie nicht vergewaltigt.

Aber Bosch hat mit Jessup kurz gesprochen. Er stellt Mickey eine unangenehme Frage: Was, wenn es nicht Jessup um seine Haftentschädigung gehe, sondern auch der Staatsanwaltschaft darum, eine millionenschwere Entschädigungszahlung zu umgehen? Was, wenn keiner Jessup verurteilt haben wolle, sondern es in Wahrheit nur um Geld ginge? Mickey ist jedoch überzeugt, dass es Williams ernst meinte, als er Mickey auf Jessup ansetzte. Wirklich?

Bosch gelingt es, die wichtigste Zeugin selbst nach 24 Jahren ausfindig zu machen: Sarah, Melissas Schwester, lebt nahe Seattle. Als er mit der Staatsanwältin Maggie dort eintrifft, findet er Sarah bei einer ehrlichen Arbeit vor: Sie ist künstlerische Glasbläserin. Und endlich runter von den Drogen, die ihr Leben zerstört haben. Zum Glück erkennt sie Jessup auf dem Foto sofort. Und sie hat eine Erklärung für die DNS ihres Stiefvaters auf ihrem Kleid, das an jenem Tag von Melissa getragen wurde …

|Mulholland Drive|

Der Special Investigation Service des LAPD sorgt für eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung von Jessup. Bosch liest die Protokolle und stößt auf eine Besonderheit. Während sich Jessup in der ganzen Stadt seiner neuen Freiheit erfreut, treibt er sich nachts im Rotlichtviertel herum – und in den Parks am Mulholland Drive, hoch über dem Lichtermeer der Stadt. Was hat er dort zu suchen, wundert sich Bosch. Die Überwacher sagen ihm, Jessup sitze bloß da. Mitten in der Nacht? Soll das wirklich alles sein? Bosch beschließt, der Sache selbst vor Ort auf den grund zu gehen.

Im Park findet Bosch eine Stelle am Fuße eines großen Baums, an der eine Kerze angezündet wurde. Aus welchem Grund, fragt er sich, und entgegen der Vorschrift, im Park kein offenes Feuer zu entzünden. Er trifft Rachel Walling, die FBI-Agentin, der er seine Unterlagen zum Durchlesen gegeben hat. Sie eröffnet ihm, dass der Fall Jessup von Anfang an falsch interpretiert worden sei. Und dass Jason Jessup ein Wiederholungstäter ist, der wieder anfangen könnte, Kinder zu ermorden …

_Mein Eindruck_

Im Roman führt der Autor die zwei Erzählfäden um Mickey Haller auf der einen Seiten und Harry Bosch auf der anderen annähernd parallel. Das ist gar nicht mal so langweilig. Denn was Bosch, der paranoide Schnüffler, herausfindet, läuft so ziemlich dem zuwider, was Mickey Haller vor Gericht beweisen möchte: Dass Jessup vor 24 Jahren Gelegenheit und Motiv hatte, um ein zwölfjähriges Mädchen zu töten – was es nun neu zu verhandeln gilt.

Bosch findet jedoch heraus, dass Jessup eine ganze Reihe von Mädchenmorden auf dem Gewissen haben könnte. Und was macht die Verteidigung? Jessups Anwalt mag zwar aus England kommen, ist aber mit allen Wassern gewaschen. Er will die Schuld von seinem Mandanten – logisch! – abwälzen und beschuldigt seinerseits die Kronzeugin, es mit ihrem Stiefvater getrieben zu haben. Dieser vielmehr habe ihre Schwester auf dem Gewissen, nicht etwa Jessup.

Vor Gott und vor Gericht sind die Menschen bekanntlich wehrlos. Und so ist einfach alles möglich. Das ist ebenfalls spannend zu lesen – falls man auf Gerichtsverfahren steht, deren Ausgang schon meilenweit im Voraus abzusehen ist. Und das ist hier leider der Fall, guter Mickey. Dass Jessups Verteidiger es ausgerechnet mit der Richterin des Verfahrens verdirbt, ist zwar schön für Mickey, aber schlecht für die Spannung der Story: Das Pendel schwingt viel zu früh auf die eine von zwei Seiten.

Die wirkliche – und so ziemlich einzige – Überraschung folgt NACH dem Schuldspruch, jedoch vor dem Urteil, das eine Jury aus Schöffen zu fällen hat. Und mehr soll darüber nicht verraten werden, um nicht die Spannung zu verderben.

_Die Übersetzung _

Der Veteran Sepp Leeb hat auch diesen Connelly-Titel bestens übertragen, so dass sich der Text flüssig liest und der Jargon natürlich klingt. Druckfehler, die ja besonders im Taschenbuch verbreitet sind, konnte ich erstaunlicherweise keine entdecken.

_Unterm Strich_

Mickey Hallers ungewöhnlicher neuer Fall findet ihn diesmal auf der anderen Seite des Gerichtssaales. Es ist eine Erfahrung, die er allerdings nicht wiederholen möchte. Das Gerichtsverfahren und die es begleitende Ermittlung durch Harry Bosch liefern Wendung auf Wendung, doch das Ziel ist von vornherein ebenso klar wie der Ausgang den Erwartungen entsprechend.

Die eigentliche Überraschung erfolgt bei diesem nur mäßig spannenden Verlauf erst NACH dem Schuldspruch. Doch wer hofft, nun käme Bosch endlich zu seinem Recht, irrt leider auch hier, und der Showdown ist viel zu kurz. Der Autor ist eben ein grundsolider Polizeireporter, aber als Thrillerautor hätte er hier noch ein oder zwei Schippen Spannungsmomente drauflegen sollen. Irgendwie fehlte mir hier der ersehnte Adrenalinschub.

|Der arme Staatsanwalt?|

Gut möglich, dass Hallers Schöpfer, der hochgelobte und folglich einflussreiche Thriller-Autor Michael Connelly, in seinem Gerichtsroman diesmal der anderen Seite Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte. Ach, wie schwer ist doch das Werk des Staatsanwalts! So soll wohl der erwünschte Stoßseufzer des mitleidigen Lesers klingen.

Leider verfehlte die Story diese Wirkung bei mir völlig. Staatsanwälte werden nämlich in den USA gewählt, ähnlich wie Sheriffs oder Bürgermeister. Das ist OK. Das ist Demokratie, also Volksherrschaft. Weniger OK ist, dass sie ihre politische Karriere, die sie durchaus zum Amt des Gouverneurs führen kann (nicht jeder Gouverneur muss ein Filmstar wie Reagan oder Schwarzenegger sein), von entsprechenden Lobbyisten bezahlen lassen und natürlich nicht vermeiden können, sich diesen Lobbys gefällig zu erweisen.

Der einzige Pfiff an diesem Thema besteht also darin, im Roman den Staatsanwalt wg. Befangenheit außen vor zu lassen und stattdessen einen Verteidiger diese Position einnehmen zu lassen. Zwar unterlaufen Mickey Haller ein paar Schnitzer, weil er manchmal die Seiten verwechselt, aber mit Hilfe seiner tüchtigen Sekundantin MacPherson kriegt er den Ball doch noch ins Tor. Man fragt sich daher: Wann macht es Michael Connelly endlich wie der selige Robert P. Parker und schreibt einen Roman über eine weibliche Anwältin oder Detektivin?

Ich jedenfalls hatte das Gefühl, für mein Geld nicht die erhoffte Unterhaltung geboten bekommen zu haben. Connelly hat inzwischen schon den nächsten Mickey-Haller-Roman veröffentlicht: „The Fifth Witness“.

Fazit: vier von fünf Sternen.

|Taschenbuch: 493 Seiten
Originaltitel: The Reversal (2010)
Übersetzung: Sepp Leeb
ISBN-13: 978-3426507902|
[www.droemer-knaur.de]http://www.droemer-knaur.de
[www.michaelconnelly.com]http://www.michaelconnelly.com

_Michael Connelly auf Buchwurm.info (in Veröffentlichungsreihenfolge):_
|Harry Bosch:|
[„Schwarzes Echo“ 958
[„Schwarzes Eis“ 2572
[„Die Frau im Beton“ 3950
[„Das Comeback“ 2637
[„Schwarze Engel“ 1192
[„Dunkler als die Nacht“ 4086
[„Kein Engel so rein“ 334
[„Die Rückkehr des Poeten“ 1703
[„Vergessene Stimmen“ 2897
[„Kalter Tod“ 5282 (Buchausgabe)
[„Kalter Tod“ 5362 (Hörbuch)

[„Das zweite Herz“ 5290
[„Der Poet“ 2642
[„Im Schatten des Mondes“ 1448
[„Unbekannt verzogen“ 803
[„Der Mandant“ 4068
[„L.A. Crime Report“ 4418
[„So wahr uns Gott helfe“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6291
[„Sein letzter Auftrag“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7088