Cornwell, Patricia – Defekt

_Mysteriös und tödlich: Projekt „Bestie“_

Hand of God – so nennt sich der mysteriöse Anrufer, der dem Ermittler Pete Marino mitten in der Nacht mit Bibelzitaten droht, Andeutungen über einen ungeklärten Todesfall macht und Scarpettas Nichte, dieser „lesbischen Schlampe“, droht. Der Privatdetektiv Marino ist der gute Kumpel von Dr. Kay Scarpetta. Sie ist alarmiert. Es wäre nicht das erste Mal, dass Lucy in Schwierigkeiten wäre. Sie macht sich auf, diesem Psychopathen das Handwerk zu legen.

_Die Autorin_

Patricia Cornwell, 1956 in Miami geboren, war Polizeireporterin und Computerspezialistin am Gerichtsmedizinischen Institut von Virginia, bevor sie zu schreiben begann. Mit den Thrillern um ihr literarisches Alter Ego, die Gerichtsmedizinerin Kay Scarpetta, wurde sie zur „erfolgreichsten Thrillerautorin der Welt“ (|Der Spiegel|). Cornwell lebt allein in Richmond / Virginia und in Malibu, Kalifornien. (Verlagsinfo)

_Die Sprecherin_

Franziska Pigulla war Moderatorin bei |n-tv|, |SAT.1| und bei der |BBC| in London. Als eine der bekanntesten Sprecherinnen synchronisiert sie Gillian Anderson aus „Akte X“, Demi Moore, Fanny Ardant und Sharon Stone. Auch als Erzählerin bei „Galileo“-Dokumentationen ist sie regelmäßig im Off zu hören. Für |Hoffmann & Campe| hat Pigulla bereits mehrere Romane vorgetragen:

– „Blinder Passagier“
– „Das letzte Revier“
– „Das fünfte Paar“
– „Brandherd“
– „Die Dämonen ruhen nicht“

Weitere Cornwell-Hörbücher: „Wer war Jack the Ripper? – Portrait eines Killers“; „Die Tote ohne Namen“.

Der Text wurde von Rainer Scheer gekürzt. Regie führte Vlatko Kucan, die Aufnahme fand im TrueMuze Rec Studio, Hamburg, statt.

_Handlung_

In der Wirklichkeit geschehen die meisten Dinge, die zusammenhängen, gleichzeitig, und in Dr. Kay Scarpettas Leben ist das nicht anders. Nur dass sie von den Zusammenhängen – noch – keine Ahnung hat …

|Bestie|

Obwohl sie in Miami lebt, arbeitet Scarpetta mit ihrem FBI-Freund Benson Westley, einem rechtsmedizinischen Psychologen, an einem supergeheimen Projekt namens „Bestie“ zusammen. Im Rahmen dieses Projekts, das an einer Klinik im nördlich gelegenen Massachusetts stattfindet, sollen die Gehirne von Gewaltverbrechern mit Magnetresonanztomographen (MRT) untersucht werden. Man will herausfinden, wie Gewaltbereitschaft und Hirnstruktur zusammenhängen. Was macht einen Menschen zur Bestie? Paradebeispiel ist der Serienmörder Basil Genrette, den Scarpetta und Westley aus Louisiana eingeflogen haben.

|Abgehört|

Kay und Benson kommunizieren über das sichere VPN-Netzwerk ihrer Nichte Lucy, doch sie wissen ebenso wenig wie Lucy, dass Kays Kollege Dr. Jay Amos Lucys Passwörter geklaut hat. Sie hatte ihren PDA liegen gelassen, und er nutzte die gute Gelegenheit, um alle Dateien auf dem Gerät zu kopieren. Nun kann er in zahlreichen sicherheitsrelevanten Netzwerken manipulieren, abhören und falsche Botschaften schicken. Auch an Scarpettas Arbeitsplatz der Akademie für forensische Medizin in Miami. Er hört auch Pete Marino ab, den Privatdetektiv, den Scarpetta hin und wieder als Ermittler einsetzt. Doch Marino wird allmählich misstrauisch, wie es zu den Falschmeldungen, die er bekommt, kommen kann …

|HOG|

Marino berichtet ihr von zwei Dingen: 1) Er habe einen seltsamen anonymen Anruf von einem durchgeknallten Typen bekommen, der sich „Hand of God“, kurz: HOG, nennt. Und 2) Was wisse sie über den angeblichen Selbstmord von Dr. Johnny Swift, der in Boston an einer Klinik arbeitete und von seinem Zwillingsbruder Laurel gefunden wurde, der nun in Miami wohnt? Diesen „Selbstmord“ habe HOG nämlich erwähnt. Und ebenso nannte der Typ den Namen Christine Christian – und Lucy, Scarpettas Nichte, beschimpfte er als „lesbische Schlampe“. Kay testet, wie sich Johnny Swift mit einem Schrotgewehr erschossen haben soll. Es geht nicht. Der Verdacht auf Mord erhärtet sich.

|Hands of God|

Benson Westley wird zu einem neuen Mord gerufen. Die weibliche Leiche wurde in Massachusetts gefunden, der Täter hatte ihr eine Schrotflinte in den Mund gesteckt und abgedrückt, und entsprechend verheerend sieht ihr Kopf aus. Was Benson aber als Erstes auffällt, sind die knallroten Handabdrücke an ihren Brüsten und Oberschenkeln. Sind die aufgemalt? Nur wenig später lernt Kays Nichte Lucy in einer Bostoner Bar eine hübsche Lesbe kennen, die sich Stevie nennt. Zusammen verbringen sie eine Liebesnacht in Lucys gemietetem Häuschen. Was Lucy an Stevies Haut als erstes auffällt, sind die knallroten Handabdrücke auf ihren Brüsten und Oberschenkeln …

|Verschwunden|

Scarpetta sucht in Hollywood, Florida, nach der Familie Christian. Sie scheint vor etwa 15 Tagen verschwunden zu sein, und dies wurde erst dadurch bemerkt, dass die beiden Schwestern Christine und Ev (für Evelyn) Christian sehr aktiv in einer Sekte waren, der andere Nachbarn ebenfalls angehören. Die Schwestern hatten zwei elternlose Jungen, David und Tony, aus Südafrika adoptiert. Alle vier sind spurlos verschwunden, doch die zuständige Mordinspektorin Reba Wagner macht sich dennoch keine Sorgen. Sie konnte bislang keine Spuren eines Verbrechens entdecken, und man könne den Leuten ja nicht verbieten, in den Urlaub zu fahren, oder? Aber warum steht dann dieser Lieferwagen mit den verdreckten Reifen in der Einfahrt der Christians, will Scarpetta wissen, und wieso war die Herdplatte noch eingeschaltet, als die Nachbar das Haus betrat? Darauf hat Detective Wagner keine Antwort. Aber Marino hat eine: Weil Reba (seine Ex) dumm wie Bohnenstroh ist, darum.

|Mrs. Simister|

Marino selbst verfolgt einen Telefonanruf von einer gewissen Mrs. Simister, die eine Nachbarin der Christians ist, gerade mal auf der anderen Seite eines Abzugskanals. Die Stimme, die er in seinem Büro hörte, ist aber eine ganz andere als die, die er jetzt am Telefon hört. Die erste klang heiser und gebrechlich, doch die jetzige ist kräftig und weist einen starken ausländischen Akzent auf (sie stammt aus Polen). Diesem Widerspruch will Marino auf den Grund gehen. Doch als er nach mehrmaligen Klopfen und Rufen das Haus betritt – nicht ohne Scarpetta Bescheid zu geben -, findet er nur noch die Leiche der Bewohnerin vor. Mrs. Simister liegt auf dem Bett. Der Killer hat ihre eine Schrotflinte in den Mund gesteckt und abgedrückt. (Kommt uns das irgendwie bekannt vor? Nicht? Sollte es aber – bitte noch mal von vorne lesen.)

|Falscher Fuffziger|

Scarpetta eilt mit Reba Wagner herbei. Sie haben zusammen einen Knall gehört, aber Reba hielt es für eine Fehlzündung (was Marinos Vorurteil gegen sie bestätigt). Aber wichtiger noch: Sie haben in der Nähe einen einzelnen Kontrolleur für Zitrusbaumpest gesehen. Das ist ungewöhnlich, denn erstens kommen diese Landwirtschaftskontrolleure immer zu zweit, zweitens war er ohne Erlaubnis auf dem Nachbargrundstück und drittens arbeitete er mit einem Pflückstab, den er auseinandernahm und in eine große schwarze Tasche steckte – darin konnte er auch eine abgesägte Schrotflinte verstecken. Und viertens markierte er Bäume mit einer roten Sprühfarbe, so als ob sie infiziert wären. Diese Markierungsmethode, erfahren Marino & Co. später, ist bereits völlig veraltet.

|Gefängnis|

Doch dieser Kontrolleur ist nirgends aufzutreiben. Kein Wunder: Er hat sich in sein Versteck zurückgezogen, einem Häuschen in den Sümpfen. Hier hält er Ev Christian gefangen. Sie ist nach zwei Wochen Gefangenschaft bereits sehr geschwächt. Hand of God beugt sich über seine halbnackte Beute und verlangt von ihr immer wieder, sie solle sich entschuldigen. Sie fleht ihn an – nicht etwa um Gnade, sondern er solle Gott um Vergebung bitten, so wie sie ihm ebenfalls vergebe. Diese Hartnäckigkeit widert Hand of God an. Und dass sie den Namen Gottes in den Mund nimmt, macht ihn wütend. Er weiß, wer Gott ist. Sie ist eine schöne Frau, hat einen IQ von 150 und darum dient er ihr treu ergeben von ganzem Herzen. Und als er gerade seine Lieblingsspinne, eine giftige Tarantel, auf Evs Hals setzt, pfeift Gott ihn zurück. Es gebe wieder was zu erledigen. Basil Genrette, dem Verbündeten, müsse geholfen werden. Sofort …

|Nach Norden|

Scarpetta hat in Hollywood, Florida, getan, was sie konnte und sich mit Benton darüber den Kopf zerbrochen. Die Erkenntnisse sind im (keineswegs sicheren) Netzwerk gespeichert. Nun freut sie sich darauf, Benton in Boston besuchen zu können. Bei der Gelegenheit will sie auch einen Blick auf ihr gemeinsames Forschungsobjekt werfen: Basil Genrette, die „Bestie“ in Menschengestalt.

Auch Basil freut sich auf dieses Treffen. Er wurde per Kassiber informiert, dass seine Flucht vorbereitet worden ist. Er beginnt, ein Seil zu knüpfen …

_Mein Eindruck_

Wieder einmal spielt die Autorin va banque und setzt auf volles Risiko, dass sie ihren Leser in die Irre führt und er nicht mehr das Licht am Ende des Tunnels sieht. Auf mehreren Schauplätzen beginnt die verzweigte Handlung, so dass der ahnungslose die Zusammenhänge nirgendwo sieht. (Ich habe in meinem Inhaltsabriss sogar noch einen Schauplatz weggelassen, um das Chaos nicht zu vergrößern.)

Doch allmählich erkennt der aufmerksame Leser eine Reihe von Koinzidenzen: abgesägte Schrotflinten als Tatwaffen, Frauen mit roten Handabdrücken auf dem Körper, Kupferspuren an Tatorten und noch einiges mehr. Doch selbst dann noch, als die Ermittler – Scarpetta, Lucy, Benton, Marino, Reba – gute Chancen hätten, das Puzzle zusammenzusetzen, führt die Autorin mehrere Störfaktoren ein. Den Guten soll ihre Aufgabe ja nicht zu einfach gemacht werden. Da ist zunächst das abgehörte und manipulierte Daten- und Kommunikationsnetz. Merke: Feind hört mit und legt falsche Fährten. Und was von den Hinweisen eines geisteskranken Serienkillers wie Basil Genrette zu halten ist, dürfen wir uns mit Fug und Recht ebenfalls fragen.

|VORSICHT, SPOILER|

Doch den absoluten Coup, sozusagen den Royal Flush, landet die Autorin mit der Einführung eines Killers mit multipler Persönlichkeit. Er/sie/es leidet unter dissoziativer Persönlichkeitsspaltung, dem DIS-Syndrom. Jonathan Nasaw verwendet diesen Tätertyp bereits in [„Die Geduld der Spinne“ 82 ein, und der Thriller „Identität“ setzt gar auf einen gefesselten Mörder, der unter DIS leidet. Ich werde nun aber nicht verraten, für wie viele Figuren dieser Täter mit seinen Persönlichkeiten herhalten muss. Und die Handlung ist auch keineswegs, wie im Film, imaginär, sondern für seine Opfer höchst real (so weit die Fiktion des Romans es eben zulässt).

Ein solcher Schurke im Stück stellt den Autor vor mehrere Probleme, die früher oder später auch den Leser betreffen. Erstens darf er als Joker erst ganz zum Schluss enthüllt werden, sonst ginge sämtliche Spannung flöten. Zweitens könnte die Anzahl und Charakteristik der multiplen Persönlichkeiten beliebig erscheinen – upps, schon wieder ein Karnickel aus dem Hut! Dieser Effekt darf niemals eintreten, denn sonst verliert die gesamte Handlung ihren Sinn und ihre Stringenz.

Zuletzt aber, und das ist vielleicht am wichtigsten, ist der Täter mit DIS selbst ein Opfer. DIS wird in der Regel, so die Schulweisheit, durch ein tiefes traumatisches Erlebnis ausgelöst. Die Psyche des Opfers versucht mit verschiedenen Strategien, dieses Trauma zu verarbeiten, um zu überleben. DIS besteht in der Schaffung verschiedener Rollen, die Strategien verkörpern, um mit verschiedenen Problemen und Konfliktsituationen des Lebens fertigzuwerden: Begegnungen mit Sexualpartnern beiderlei Geschlechts, Ausübung von Gewalt, Ausleben von tabuisierten Phantasien, das Verhältnis zu Gott, wenn der Verursacher des Traumas den Missbrauch im Namen eines religiös begründeten Prinzip („Gott“) begangen hat, und so weiter.

Man kann sich demnach vielleicht vorstellen, welch eine Fülle von Persönlichkeiten ein DIS-Opfer entwickeln kann: Dutzende sind keine Seltenheit. Der Leser wird überrascht sein, welche Bandbreite an Figuren sich damit schaffen lässt. Als eine Übereinstimmung zwischen zwei untersuchten „Menschen“ festgestellt wird, könnte die Überraschung für die Wissenschaftler nicht größer sein. Es ist ungefähr so, als hätte man die DNS eineiiger Zwillinge vor sich, nur dass es sich diesmal um ein und denselben Menschen handelt.

|ENDE SPOILER|

Hat es sich die Autorin mit dieser Täterfigur zu einfach gemacht? Der Verdacht könnte aufkommen. Doch sie führt das Konzept konsequent durch, und da es seit Jahren Fallstudien von DIS-Opfern gibt, kann man ihr zu große Fantasie oder fiktionale Freiheit nicht vorwerfen. Es ist der Leser, der umdenken sollte. Außerdem will die Autorin etwas beweisen. Sie will darstellen, wie sich die Vorstellung einer „Bestie“, eines Raubtiers (= „Predator“ im Originaltitel) auf Menschen anwenden lässt.

Benton und Scarpetta untersuchen in ihrem Geheimprojekt „Bestie“ genau diese Frage. Ab wann ist ein Mensch eine Bestie – ist das überhaupt eine objektiv qualifizierbare Kategorie oder nur moralischer Subjektivismus? Die Autorin als gewiefte Fallenstellerin zeigt in einer höchst ironischen Weise, wie sehr sich die beiden Wissenschaftler – beide sind ja Rechtsmediziner – irren und hereinlegen lassen. Ihre Methoden für die Probandenbeschaffung sind ebenso naiv wie die für ihre Untersuchungen. Ja, diese Untersuchung selbst wird von Basil Genrette benutzt, um ihnen zu entkommen (einer der Höhepunkte des Buches).

Hinter dieser Ironisierung verbirgt sich die geharnischte, ernst gemeinte Kritik der Autorin an diesen Methoden, an den Wissenschaftlern, die sie anwenden, und noch viel mehr an den falschen Konzeptionen und Ideen, die die Wissenschaftler leiten. „Bestie“, so der zu ziehende Schluss, ist also keine objektive Größe, sondern etwas, das in den Untersuchungsgegenstand, den Killer Hineingedachtes, mithin also etwa völlig Unwissenschaftliches.

|Identität, Realität, Wahrheit|

Der Prüfstein für diese Haltung der Autorin muss der DIS-leidende Killer sein. Er begeht reihenweise Morde in Florida und Massachusetts, und wer weiß, wie lange schon. (Und wer sich fragt, wie er an die Daten von Scarpetta & Co. herankommt, der denke einmal über Joe Amos‘ Freundin Jan Hamilton nach.) Unversehens wird aus dem Killer ein Opfer, und als die ursprüngliche Identität bekannt wird, solche man als Ermittler und Leser Mitgefühl verspüren: für das missbrauchte zwölfjährige Mädchen.

Dass der Killer mehrere Persönlichkeiten hat, stellt die Ermittler vor ein weiteres Problem: Was ist die Natur der Wirklichkeit, und kann es so etwas wie Wahrheit geben? Wenn Wirklichkeit darin besteht, was die Daten uns sagen, so sind wir verloren. Das findet Marino heraus, ein John McClane auf einer Harley Davidson. Eine weitere Schicht der Realität enthüllen Chemikalien wie Luminol: Es zeigt Blutspuren an, aber auch „falsche Positive“ – Kupfer beispielsweise. Merke: Die Realität ist so irreführend und flirrend wie die Wahrheit. Wir machen sie uns alle selbst. Genau wie unsere „Bestien“.

|Die Sprecherin|

Wieder einmal macht Franziska Pigulla aus einem mittelmäßigen Buch der Cornwell ein Hörerlebnis, an das man sich noch gerne erinnert. Dabei ragen mehrere Figuren, die sie ausgezeichnet charakterisiert, heraus. Am meisten im Gedächtnis ist mir Pete Marino geblieben. Er redet mit einer tiefen grollenden Stimme, bei der man sich fragt, wie die Pigulla sie wohl hinkriegt. Er ist auch der Einzige, der so etwas wie Humor in die Handlung einbringt.

Marinos Macho-Stil steht im Gegensatz zu Angebertypen wie Joe Amos, dem hinterlistigen Basil Genrette und dem distinguierten Benton Westley. Es gibt aber einen Typen, der wesentlich furchteinflößender als Marino und Genrette zusammen wirkt: Hand of God als Gefängniswärter von Ev Christian. Er klingt mit seiner tiefen Tonlage gehässig und boshaft, insgesamt also bedrohlich.

Aber auch auf der weiblichen Seite der Figurenliste lassen sich schöne Unterschiede feststellen. Das Gegenstück zu Marino ist seine Ex, die Polizistin Reba Wagner. Sie ist aber eine ehrliche Haut, im Gegensatz zu Stevie, Lucys One-Night-Stand, und zu Jan Hamilton, Joe Amos‘ Freundin. Diese beide Herrschaften setzen mit voller Absicht verführerische Untertöne in ihrer Stimme ein, denen weder Mann noch Frau lange widerstehen können. Es gibt aber auch eine befehlende Frau im Reigen: Gott höchstpersönlich, so wie Hand-of-God sie sieht.

Schließlich sind da noch die ganz schwachen Frauen. Mrs. Simister tritt gleich zweimal auf, einmal heiser und gebrechlich wie ein altes Großmütterchen, dann aber auch als grantige Nachbarin der Familie Christian. Dass sie aus Polen stammt, versucht die Sprecherin mit einem Akzent darzustellen, der mich stark ans Jiddische erinnert hat. Die Allerschwächste ist hingegen die gefangene Ev Christian. Sie haucht, fleht und keucht zum Steinerweichen. Aber „Gott“ zeigt ihr einen Ausweg aus ihrem Martyrium.

Es gibt bei dieser Hörbuchproduktion weder Geräusche noch Musik, nicht einmal Intro und Outro, so dass ich darüber keine Worte verlieren muss. Aber man fragt sich doch, warum dann die sechs CDs so teuer sind (bei |amazon.de| übrigens um satte zehn €uro billiger zu bekommen).

_Unterm Strich_

Der Thriller ist von bei Cornwell gewohnter Güte und lässt den Leser lange Zeit rätseln, wie all die Morde und anderen seltsamen Ereignisse miteinander zusammenhängen. Sie führen schließlich zu einer recht brenzligen Situation, die potentiell tödlich für Scarpetta und Benton ist. Doch meine Enttäuschung war groß, als die Autorin es besser fand, auf die Darstellung der zwangsläufig folgenden Actionszene zu verzichten. Vordergründige Action will sie nicht, sondern vielmehr tiefschürfende Ermittlungen, die zielführend sind, sonst nichts. Dies also kein Roman für Freunde von „Stirb langsam“. Vielmehr sind Leser von Val McDermid und Karin Slaughter angesprochen.

Die Sprecherin Franziska Pigulla ist der entscheidende Faktor, der aus dem weitverzweigten, möglicherweise etwas verwirrenden Plot so etwas wie ein reales Szenario schafft, indem sie die meisten Figuren zum Leben erweckt. Seltsamerweise gelingt ihr dies mit Kay Scarpetta nicht, so dass es keine echte Hauptfigur gibt. Auch Benton Westley taugt nicht zum Helden – das ist noch am ehesten Pete Marino, der Privatschnüffler auf der Harley Davidson. Er ist auch der einzige, der für etwas Humor in der Geschichte beiträgt, und das weiß die Sprecherin sehr gut hervorzuheben.

|Schwächen:| Ein Tippfehler im Klappentext des Hörbuchs: Es muss statt „Pete Marion“ besser „Pete Marino“ heißen.

|Originalttel: Predator, 2005
Aus dem US-Englischen übersetzt von Karin Dufner
406 Minuten auf 6 CDs|
http://www.hoffmann-und-campe.de