Cortés, Enrique – 26. Stock, Der

Der Debütroman des Spaniers Enrique Cortés, „Der 26. Stock“, spielt sich hauptsächlich in einem riesigen Hochhaus ab, in dem die Büros eines namenlosen mächtigen Konzerns untergebracht sind. Das Hochhaus wird die Geschichte nicht überleben – und ist damit quasi die literarische Vorlage für den Brand eines Madrider Büroturms im Jahr 2005. Allerdings dürfte der Windsor-Turm aus weit harmloseren Gründen abgebrannt sein, als der Turm in Cortés‘ Geschichte …

_Isabel Alvarado ist_ Personalverantwortliche in einem riesengroßen Konzern, der diverse Produkte herstellt. Welche das sind, weiß sie selbst nicht so genau. Ihre Aufgabe ist es, vielversprechende Bewerber einzuladen, Vorstellungsgespräche mit ihnen zu führen und sie anschließend zu bewerten. Die Arbeit mit den Menschen macht ihr Spaß, sie fühlt sich in ihrer Firma wohl.

Doch eines Tages verändert sich ihr Arbeitsalltag plötzlich. Ein neues Sicherheitssystem wird im Hochhaus installiert, Kollegen werden scheinbar grundlos befördert, ihr Vorgesetzter und seine Sekretärin verschwinden spurlos und ihr neuer Chef enthält ihr Informationen vor. Als sie sich mit ihrem Kollegen Carlos anfreundet, stellt sie fest, dass sie nicht die Einzige ist, die das Gefühl hat, dass da etwas nicht stimmt. Der Verdacht erhärtet sich, als Carlos eines Tages beinahe tot geprügelt wird und ihr daraufhin geheime Informationen von einem seiner Freunde zugesendet werden. Diese bestehen aus Personaldaten von Angestellten, die erst befördert wurden und dann verschwanden. Eines ist ihnen allen gemein: Sie sind alle in den 26. Stock des Firmenhochhauses, also in die Führungsetage, aufgestiegen. Um heraus zu finden, was hier vor sich geht, lässt sich Isabel in den 26. Stock versetzen …

_Mit über 600_ Seiten ist das Buch nicht gerade dünn. Die meisten Krimis und Thriller haben einen deutlich geringeren Umfang. Langweilig wird die Geschichte trotzdem nicht. Cortés schildert ausführlich und in nüchternem Tonfall die Ereignisse in dem Hochhaus. Dabei schreibt er so trocken, beinahe emotionslos, dass die Geschichte häufig wie ein Tatsachenbericht wirkt. Hinzu kommt, dass aus unterschiedlichen Perspektiven berichtet wird, so dass man einen guten Überblick über die Geschehnisse hat. Trotz der Länge und des eher unspannenden – deshalb aber nicht schlechten – Schreibstils ist das Buch unglaublich fesselnd. Der Autor schafft es, nach und nach Spannung aufzubauen. Besonders gegen Ende entwickelt die Handlung, die gut aufgebaut ist, eine ziemlich starke Sogwirkung. Sie ist geradezu nervenaufreibend. Nur bedingt gelungen ist allerdings der Übergang vom Psychothriller zum Horrorthriller. Er kommt sehr überraschend. Zuerst ist man unsicher, ob man das Gelesene glauben soll oder ob die Personen sich es nur einbilden. Gegen Ende verzettelt sich Cortés bei den Gruselelementen. Was durchaus authentisch begonnen hat, wird zu einer wilden Mischung aus übersinnlichen Wesen und Intrigen.

Die Personen sind hingegen sehr gut gelungen. Auch hier wahrt der Autor eine gewisse Distanz. Dafür beschreibt er die Charaktere umso genauer. Jede Person hat bestimmte Eigenschaften und eine eigene Geschichte, die sie von den anderen abhebt. Fast allen Figuren ist gemein, dass sie bestimmte Schicksalsschläge in ihrem Leben hatten, zum Beispiel den Tod der Eltern oder die Trennung von Ehefrau und Tochter. Isabelle, die auf weiten Strecken im Mittelpunkt steht, ist zum Beispiel Waise und muss darüber hinaus für ihren behinderten Bruder sorgen. Sie ist dadurch stark eingeschränkt und hat wenig Freunde. Umso mehr freut sie sich, als Carlos Interesse an ihr zeigt, auch wenn Enrique Cortés den beiden nur wenig romantische Gefühle einräumt. Die Figuren wachsen dem Leser ans Herz dadurch, dass er sie so gut kennen lernt und sie ihm stets Gründe für Mitgefühl liefern. Umso schlimmer (und nervenaufreibender) ist es da, dass Cortés dazu neigt, auch die freundlichsten Charaktere in scheinbar aussichtslose Situationen zu manövrieren oder in große Gefahr zu bringen.

_“Der 26. Stock“_ ist ein gut geschriebener Psychothriller mit einer fesselnden Handlung und Charakteren, die dem Leser ans Herz wachsen und um deren Wohlergehen man bis zum Ende bangen muss. Die überraschende Hinwendung zum Horrorgenre ist jedoch nur teilweise gelungen. Abgesehen davon, dass die ansonsten sauber konstruierte Handlung an dieser Stelle etwas wirr wird, ist es für viele, die das Buch als realistischen Thriller lesen, sicherlich zu weit her geholt. Besser wäre es gewesen, wenn das Buch in einem Genre geblieben wäre, anstatt plötzlich ein zweites zu bedienen.

|Broschiert: 608 Seiten
Originaltitel: La Torre
Deutsch von Luis Ruby
ISBN-13: 978-3423247610|
http://www.dtv.de

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