Cross, Wilbur – Tragödie am Pol

Die Fakten: Im Frühjahr des Jahres 1928 macht sich das Luftschiff „Italia“ unter dem Kommando des Generals Umberto Nobile auf den Weg zum Nordpol, den es zum Nutzen der Wissenschaft sowie zum Ruhme Italiens und des faschistischen Mussolini-Regimes anfliegen soll, um dort womöglich sogar zu landen. Allen technischen Problemen zum Trotz gelingt immerhin Ersteres, doch das auch im polaren „Frühling“ unberechenbare Wetter bringt auf dem Rückflug die Katastrophe: In einem schweren Sturm stürzt die „Italia“ am 25. Mai 1928 im Niemandsland der Treibeiszone nördlich von Spitzbergen ab. Die Hälfte der Besatzung kommt um, Nobile wird schwer verletzt. Fast ohne Ausrüstung und Verpflegung sehen die Überlebenden im „Roten Zelt“ einem schrecklichen Ende entgegen, wenn es nicht gelingt, über das wundersam gerettete Funkgerät Hilfe herbei zu rufen. Der Versuch, das Festland zu Fuß zu erreichen, endet für drei Männer der Expedition in einem grausigen Desaster. Nach qualvollen Wochen werden Nobile und seine Gefährten endlich gefunden. Zahlreiche Rettungsversuche zu Wasser, zu Lande und durch die Luft scheitern oder fordern sogar neue Opfer, zu denen auch Roald Amundsen, der legendäre Bezwinger des Südpols, gehört; nur ein Flugzeug kommt durch, das den geschwächten Nobile ausfliegt. Die übrigen Männer können nach weiteren Wochen der Angst und Ungewissheit vom russischen Eisbrecher „Krassin“ geborgen werden.

Der Mythos: Umberto Nobile war ein von Stolz und Ehrgeiz zerfressener Mann, der es nicht ertrug, den Ruhm einer früheren, von Zank und Hader bestimmten, aber immerhin geglückten Luftschiff-Expedition zum Nordpol (deren Leiter ironischerweise Roald Amundsen war) teilen zu müssen. Er erzwang eine Wiederholung, dieses Mal unter eigenem Kommando, überschätzte sein Schiff und seine Fähigkeiten, brachte Tod und Verderben über seine unglücklichen Begleiter, gab im Notlager auf dem Polareis eine denkbar unglückliche Figur ab und ließ sich dort bei der ersten Gelegenheit in Sicherheit bringen, während er seine Freunde feige ihrem Schicksal überließ, vor dem sie erst ein Wunder in Gestalt der gar nicht so satanischen Sowjets retten konnte.

Die Wahrheit: Selten ist ein Mann nach Ansicht von Wilbur Cross so erfolgreich das Opfer politischer Intrigen geworden wie Umberto Nobile. Der angebliche Feigling war tatsächlich ein Mann von beträchtlichem Mut und Durchsetzungsvermögen, der nicht nur einer der fähigsten Luftschiff-Konstrukteure der Welt war, sondern dem auch das Kunststück gelang, als ausgewiesener Pazifist ein hohes militärisches Amt zu bekleiden, und sich nach 1922 – dem Jahr, in dem die Faschisten in Italien die Macht ergriffen – als ausgesprochen unbequemer Zeitgenosse erwies, der das „Italia“-Unternehmen quasi gegen den Willen Mussolinis und seiner Vasallen realisierte. Das Scheitern der „Italia“ war vor allem Pech, Nobiles Rettung eine notwendige, mit seinen Gefährten abgesprochene Aktion, die später von den Gegnern des Generals publizistisch ausgeschlachtet wurde, um diesen endgültig kaltzustellen.

Die Höllenfahrt der „Italia“ gehört zu den berühmtesten Episoden der an Sensationen nicht gerade armen Geschichte der Nordpol-Entdeckung. Der war zwar schon zwanzig Jahre zuvor über das Eis und ganz klassisch per Hundeschlitten erreicht worden, aber die Nobile-Tragödie schuf einen gar zu schönen Epilog. Ebenso klar waren die Rollen in diesem Drama verteilt: Nobile = Feigling, Amundsen = tragischer Held, Nobiles Männer = Hintergrundchor der Tapferen und Irregeleiteten, Besatzung der „Krassin“ = Personifikation des Völkerverständnisses, das sogar im freien Westen gewürdigt werden durfte, ohne dass man Gefahr lief, als Kommunisten-Knecht angeprangert zu werden.

Dabei sagen die Fakten ganz anderes aus, und sie liegen schon lange offen; tatsächlich war es niemals gelungen, sie wirklich zu unterdrücken, obwohl es Mussolinis Schwarzhemden mit aller Macht versucht hatten. In gewisser Weise sind sie erfolgreich geblieben: Die Mär vom feigen Nobile hat sich bis auf den heutigen Tag gehalten (falls sich überhaupt noch jemand an die Geschichte der „Italia“ erinnert). Eine gewisse ausgleichende Gerechtigkeit liegt freilich in der Tatsache, dass dies auch so ziemlich der einzige Triumph blieb, den die italienischen Faschisten feiern konnten.

Immerhin war dasselbe Schicksal, das ihn so viele Jahre in die Schurkenrolle drängte, gnädig genug, Nobile durch eine bemerkenswerte Lebensspanne zu entschädigen: Er starb erst 1978 im Alter von 93 Jahren, überlebte alle Feinde und erlebte noch die Genugtuung, weitgehend rehabilitiert zu werden, wobei das Pendel jedoch nicht vollständig zurückschlug oder zurückschlagen konnte: Unzweifelhaft ist – dies stellt auch Cross deutlich heraus – Nobiles Führungsschwäche, sein Beharren darauf, auch in Krisensituationen Entscheidungen zur Diskussion zu stellen, statt sie zu treffen, an sich ein liebenswerter Wesenszug, der Nobile jedoch den Weg in die Entdecker-Elite versperrte: Wahre Helden kennen keine Zweifel oder zeigen sie nicht, und sie achten vor allem sorgfältig darauf, dass sich niemand zwischen sie und die Geschichtsbücher drängt. Nobiles Konkurrent Amundsen kannte und beherzigte diese Faustregeln.

Vor allem aber stand Umberto Nobile noch der modernen Geschichtsschreibung als Zeuge zur Verfügung. Auch Wilbur Cross, der das hier vorgestellte „Italia“-Buch verfasst hat, konnte aus dieser Quelle schöpfen. Nach eigener Auskunft hat er viele Jahre recherchiert, bevor er es im Jahre 2000 endlich schrieb, und dabei nicht nur Nobile, sondern auch die meisten anderen Überlebenden des Absturzes befragt.

Wenn dies so geschehen ist, dann wundert man sich bei der Lektüre allerdings etwas darüber, dass „Tragödie am Pol“ als Sachbuch nicht wirklich eine Offenbarung ist. Echte Überraschungen bleiben aus; im Grunde wird längst Bekanntes noch einmal aufbereitet. Einzige Ausnahme scheint die Geschichte von Nobiles Niedergang als Folge faschistischer Intrigen zu sein, während auf dem Eis die historischen Korrekturen marginal bleiben. Sehr viel hat Cross wirklich nicht gemacht aus seinem Privileg, Zugang zu den Zeitzeugen und den Primärquellen erhalten zu haben.

In diesem Zusammenhang muss man wissen, dass Cross ein Profi des historischen Sachbuchs ist: Fast fünfzig hat er davon in den letzten Jahrzehnten geschrieben, was ihm nicht übermäßig viel Zeit für die Pro-Band-Recherche lässt. Das schlägt sich im Endprodukt durchaus nieder. Knapp 300 recht großzügig bedruckte Seiten sind nicht gerade üppig. Echte Schnitzer unterstreichen den Eindruck des mit der recht heißen Nadel gestrickten Werkes. So bricht Roald Amundsen Ende August 1928 zur Suche nach Nobile auf – und verschwindet nicht nur aus der Geschichte, sondern auch aus diesem Buch. Als Cross dann später beschreibt, wie Nobile und seine Gefährten nach ihrer Rettung in Skandinavien von der um ihren Helden Amundsen trauernden Bevölkerung geschnitten und beschimpft werden, ist man verwirrt: Dass Amundsen inzwischen tot und wie es dazu gekommen ist, hat Cross mit keiner Silbe erwähnt!

Deshalb ist „Tragödie am Pol“ eine zwar spannende, aber keineswegs tiefgründige Lektüre. Die deutsche Ausgabe ist angenehm lesbar übersetzt, der Mittelteil birgt eine Strecke historischer Fotos, die indes bis auf die zwar schon oft gezeigten, aber immer wieder sehenswerten Bilder aus dem „Roten Zelt“ recht beliebig wirken.

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