Cunningham, Michael – In die Nacht hinein

_Inhalt_

Peter und Rebecca sind glücklich verheiratet und haben als Galerist bzw. Zeitschriftenherausgeberin Berufe, die sie lieben. Ihre Tochter Bea ist bereits erwachsen und ausgezogen, und eigentlich könnte man das Leben jetzt genießen. Dann kündigt sich jedoch Rebeccas wesentlich jüngerer Bruder Ethan (oder, wie er von allen genannt wird, Missy) für einen Besuch von unbestimmter Länge an. Missy ist reizend und kaputt, attraktiv, hochintelligent und haltlos, er nimmt Drogen und wickelt seine Familie spielend um den Finger.

Die Anwesenheit des exzentrischen jungen Mannes weckt in Peter eine geheime Unruhe. Dieses egoistische, süße, manipulative Geschöpf mit dem Hang zur Selbstzerstörung hat irgendetwas an sich, das er auch möchte. Ist es seine Scheißegal-Attitüde? Ist es die totale, selbstvergessene Konsequenz, mit der der Junge lächelnd sein eigenes Leben vor die Wand fährt? Die Furchtlosigkeit, mit der er sehenden Auges in den Abgrund springt? Die vitale, lässige Attraktivität der Jugend, der nichts heilig ist? Ist es – Himmel! – vielleicht die Kombination aus all dem, ist es Missy selbst?

Die Fassade von Peters heiler Welt bekommt Risse, bricht auf. Er tut Rebecca gegenüber, als sei nichts, während seine Seele langsam aber sicher auf Links gezogen wird. Was will er denn noch? Kann er so weiter machen?

Im Licht von Missys Strahlen betrachtet Peter sein Leben unerbittlich und in jeder Einzelheit eine Bestandsaufnahme, die für ihn, seine Ehe, sein Selbstverständnis und seine Lebensführung zu einer bitteren Bewährungsprobe wird.

_Kritik_

Die Fragen, die Michael Cunningham für Peter aufwirft, gehen ohne Umweg direkt unter die Haut. Wer kennt sie nicht, die alte Geschichte: Wenn ich mich dort anders entschieden hätte? Wenn ich jenen Schritt gewagt hätte? Wenn ich dies unterlassen hätte?

Da Peters Leben in vielerlei Hinsicht gefestigt (langweilig?) ist, ist es ausgesprochen verständlich, dass die Fehler Missys, die Lust an der Unvernunft ihn besonders fesseln. Einmal über die Stränge schlagen, einmal alles auf eine Karte setzen … man möchte immer das, was man nicht darf, lautet schwer vereinfacht eine der Aussagen dieses Romans. Die Gesamtaussagen sind vielschichtiger und in einer Sprache erzählt, die bezaubert und gefangen nimmt. Ein Grundton von Melancholie durchzieht das Buch, selbst in den Passagen, in denen Hoffnung und Aufbruch mitschwingen, weil man weiß, dass es der Aufbruch ins Verderben wäre.

Cunningham hat meisterhaft die Lockung des fatal Sinnwidrigen dargestellt, indem er glaubwürdige Charaktere jeweils in sich schlüssige psychische Entwicklungen durchlaufen lässt. Da es Peters Geschichte ist, die erzählt wird, kommt man ihm als Leser am nächsten, doch auch die anderen Personen treten detailreich gezeichnet ins Licht. Es wirkt nicht so, als seien sie nur Lückenfüller; jede von ihnen hat ihre Sorgen, Wünsche, Ängste. Und dass Peter trotz relativ guter Beobachtungsgabe definitiv nicht alles erahnen kann, was in seinen Mitmenschen vorgeht, stellt sich immer wieder auf überraschende Art und Weise heraus.

Michael Cunningham hat ein bestrickendes, verschlungenes Psychogramm eines möglicherweise ganz normalen Menschen erstellt, der am Scheideweg steht und sich die Frage stellen muss: Fundament oder Abenteuer?

„In die Nacht hinein“ ist genau die Richtung, die die Gedanken und Wünsche des Lesers mit denen Peters gehen, die Regung des Aus- und Aufbrechens springt unaufhaltsam von dem Protagonisten über auf den Leser.

_Fazit_

Es gibt nur einen Rat zu diesem Buch: Lesen! Cunningham ist ein Meister der mentalen Zeichnung, sein Roman ein zauberhaftes Werk über Sehnsüchte, Ängste und Allzumenschliches mit einem perfekten Ende.

|Gebundene Ausgabe: 320 Seiten
Originaltitel: By Nightfall
Aus dem Amerikanischen von Georg Schmidt
ISBN-13: 9783630873534|
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[www.michaelcunninghamwriter.com]http://www.michaelcunninghamwriter.com

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