Dahl, Arne – Opferzahl

_Terror in vielen Formen_

Stockholm steht unter Schock: Ein Bombenanschlag in der U-Bahn fordert zehn Tote. Die Stadtpolizei, die Reichskripo und sogar die Säpo, die nationale Sicherheitspolizei, befassen sich mit der Aufklärung der Gräueltat. Auch das A-Team unter Kerstin Holm wird – nach einer Weile – eingeschaltet. Bald glaubt man, in einer geheimen islamistischen Vereinigung die Täter gefunden zu haben. Doch dann fallen deren Mitglieder selbst Morden zum Opfer. Kerstin Holm verfolgt eine heiße Spur – doch sie führt ins Herz des schwedischen Sicherheitsapparats …

_Der Autor_

Arne Dahl, geboren 1963, ist das Pseudonym des schwedischen Krimiautors Jan Arnald, der für jene schwedische Akademie arbeitet, die alljährlich die Nobelpreise vergibt. Seine Romane um Inspektor Paul Hjelm werden laut Verlag von Publikum und Kritik begeistert aufgenommen. 2004 wurde er mit dem wichtigsten dänischen Krimipreis ausgezeichnet, dem „Pelle-Rosenkrantz-Preis“. Mehr Infos unter http://www.arnedahl.net

Die Dahl-Krimis in chronologischer Reihenfolge:

1) [„Misterioso“ 2841
2) [„Böses Blut“ 2416
3) [„Falsche Opfer“ 3730
4) [„Tiefer Schmerz“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5512
5) [„Rosenrot“ 3091
6) [„Ungeschoren“ 5087
7) „Totenmesse“

_Handlung_

Ein Bombenanschlag auf die U-Bahn von Stockholm mitten in der Nacht fordert neun Opfer – und das Leben des mutmaßlichen Selbstmordattentäters. Die Stadt steht erst einmal unter Schock, doch dann scharen sich die Sicherheitsdienste zusammen, und zwar um einen Pensionär namens Jan Olov Hultin, seines Zeichens ehemaliger Leiter der A-Gruppe, der Abteilung für Verbrechen internationalen Charakters beim Reichskriminalamt. Hultin hat derart viel Autorität, dass er in der ersten Pressekonferenz sogar dem Leiter der nationalen Sicherheitspolizei, der Säpo, Paroli bieten kann. Selbstredend sind auch die Stadtpolizei und die Kripo eingeschaltet.

Kerstin Holm hat sechs Monate Suspendierung vom Dienst hinter sich, als der Ruf in die „Kampfleitzentrale“ sie erreicht. Sie reist sich vom Krankenbett ihres komatösen Freundes Ake Bengtsson los, um sich mit dem Rest der A-Gruppe zu treffen. Lauter bekannte Gesichter, das beruhigt die Nerven. Jan Olov Hultin macht es kurz. Er beauftragt das Team herauszufinden, woher der oder die Täter kamen, sie und ihr Motiv zu finden. Dies alles natürlich möglichst transparent: Alle Ergebnisse sind ins Intranet der Sicherheitsbehörden einzuspeisen. Transparenz und Kooperation sind das Gebot der Stunde.

Deshalb erhält die A-Gruppe über das Intranet Zugriff auf den Mitschnitt eines Bekenneranrufs, der mehr als sechs Stunden nach dem Anschlag bei einer kleinen Polizeistation irgendwo in den Vororten Stockholms einging. Schon diesen Umstand findet Kerstin Holm bereits seltsam, noch merkwürdiger ist der Name der Organisation, in deren Namen der Anrufer sich zum Anschlag bekennt: „The Holy Riders of Siffin“. Neben den üblichen Beleidigungen von westlichen Frauen als Huren usw. sagt der Mann noch einige weitere Sätze, die wenig Sinn ergeben.

Siffin, so lässt sich ruckzuck herausfinden, war im Jahr 657 eine der Schlachten zwischen Sunniten und Schiiten, in denen um die künftige Richtung des Islam ging. Auch sie brachte keine Entscheidung, und so ist das Schisma bis heute erhalten geblieben. Über tausend Jahre lang. Der Haken an diesem Verweis: Kein Terrorismusexperte hat laut Säpo je von dieser Organisation gehört, die sich auf Siffin beruft. Wie echt kann der Anruf also sein, fragt sich die A-Gruppe.

Allerdings sagt der anonyme Mann einen Satz, der sich als ins Englische übersetztes Zitat aus einem arabischen Buch des 14. Jahrhunderts erweist. Und von diesem Buch gibt es nicht allzu viele Exemplare in Stockholm. Genauer gesagt: nur ein Einziges. Den Ausleiher herauszufinden, ist daher ein Kinderspiel. Doch ihn zu sprechen, ist weitaus schwieriger. Er ist nämlich tags zuvor von einem heranrasenden Auto überfahren worden.

Die Anordnung der Leichen in dem gesprengten U-Bahnwaggon erscheint indes Arto Söderstedt keineswegs zufällig. Fast alle Toten befanden sich am hinteren Endes des explodierten Waggons C, bis auf eine Frau, die anscheinend dort die Tür blockierte. Eine zweite Frau, die Fahrgästen als „Verrückte“ erschien, blockierte die nächste Tür, so dass eine spät kommende junge Frau bis zum vorderen Waggonende eilen musste, um noch einen Sitz zu ergattern.

Was sollten diese „Wächterinnen“ mit den Männern tun, fragen sich Arto Söderstedt und Viggo Norberg. Und warum waren diese Männer nachts um halb eins von ihren Wohnungen aufgebrochen, um quer durch die Stadt zu einem unbekannten Ort zu fahren? Was hatten sie im Sinn? Als Viggo Norberg auf seinem Computer Zeuge wird, wie eine der Leichen – Person 2 – vor seinen Augen aus dem Protokoll der Gerichtsmediziner gelöscht wird, ahnen er und Arto, dass in ihrem eigenen System der Wurm drin ist …

Es ist sehr viel schwieriger, den zweiten Mann der Heiligen Reiter zu finden, doch auch hier kommen Kerstin Holms Leute zu spät. Es sieht nach Selbstmord aus. Auf seinem Computer hat er geschrieben: „We were just amateurs.“ Wenigstens finden sie den fünften Mann der Gruppe, und weil er sich geweigert hat, sich ihren fundamentalistischen Ideen anzuschließen, stöbern sie mit seiner Hilfe auch Nr. 3 und Nr. 4 auf. Aber ob sie diese überhaupt vor dem fleißigen Attentäter retten können, steht auf einem ganz anderen Blatt.

|Unterdessen|

Paul Hjelm, der mal der Partner von Kerstin Holm (sowohl privat als auch in der A-Gruppe war), leitet jetzt die Abteilung für Innere Ermittlungen, quasi die Dienstaufsicht. Ein obdachloser Stadtstreicher namens Arvid Lagerberg, der in Gewahrsam genommen wurde, hat in der fraglichen Nacht vor dem Eingang zur U-Bahn-Station, in der die Explosion der Bombe stattfand, eine bemerkenswerte Beobachtung gemacht. Ein Mann wollte gerade in die Station hinuntergehen, drehte aber sofort nach der Explosion wieder um. „Es war ein Polizist“, ist Arvid überzeugt.

Mit ein paar genialen Verhörtricks und gründlichem Stöbern im EDV-Archiv gelingt es Paul, die Identität dieses Polizisten, den Arvid schon mal gesehen hatte, herauszufinden. Bei dem Gesicht auf dem Polizeivideo wird ihm ganz mulmig zumute. Es ist ein guter alter Freund von ihm …

_Mein Eindruck_

Das Thema von Dahls neuem Thriller über die dem Dahl-Fan wohlvertraute A-Gruppe ist Schrecken. „Terror“ ist heute die geläufigere, aber leider auch inflationär und manipulierend verwendete Bezeichnung. Dass Terror ein Werkzeug ist, dass unversehens außer Kontrolle geraten kann, ist zwar eine Binsenwahrheit, verdient aber in den Augen des Autors offensichtlich ständige Verdeutlichung und Betonung.

|Bekenner|

Es gibt eine ganze Reihe von Erzeugern dieses Terrors in dem Szenario, das aufgezeigt wird. Da sind zunächst die „Holy Riders of Siffin“. Sie sind tatsächliche Amateure, erfährt die A-Gruppe von der Säpo, dem schwedischen Verfassungsschutz. Dummerweise haben sich die Amateure, die sich zu dem „Anschlag“ bekennen, einen Namen herausgesucht, den bereits eine andere, weitaus gefährlichere Gruppe für sich beansprucht – und die keinerlei unerwünschte Reklame möchte. Daher das Ein-Mann-Killerkommando.

|Feminismus|

Aber wer hat die Bombe, die den Waggon zerfetzte, ausgelöst, wenn es nicht die Amateure aus der Vorstadt waren? Die zweite Spur führt deshalb zu den „Wächterinnen“, die sexgeile Mittvierziger auf einen U-Bahntrip eingeladen haben. Doch auch diese selbsternannten Hasserinnen von „Schwanzfechtern“ verfügen über keine Bomben. Und unter den Sexgeilen, die sie einluden, hat bestimmt keiner eine Bombe mitgebracht. Wirklich? Die Säpo weiß da etwas ganz anderes.

Denn die Säpo, die auch die „Person 2“ aus dem Intranet verschwinden lässt, kocht ihr eigenes Süppchen. Sie hat eine Undercover-Aktion laufen, mit der sie den schwedischen Waffenproduzenten und -händler Naberius dingfest machen will. Wie Kerstin Holm & Co. erfahren, bedient dieser „ehrenwerte Herr“ Naberius nämlich beide Seiten im Irak, die „friedenserhaltenden Truppen“ ebenso wie die islamistischen Terroristen. Naberius, der feine Schwede, scheint ein richtiger Terrorist zu sein.

|Gratwanderung|

Der Schrecken ist also hausgemacht. Das ist die eigentliche Kritik des Autors. Aber er hinterfragt auch die Rolle der Säpo. Wieso hat sie diese Rolle des Waffenhändlers nicht publik gemacht? Der Grund ist einfach: Es gibt unzählige Lecks im Polizeiapparat. Schon Minuten nach der internen Besprechung, auf der Hultin die Leitung der Ermittlung übernimmt, weiß die Presse von dieser Sache und posaunt alles hinaus. Folglich hält sich die Säpo bedeckt, um ihren Undercover-Ermittler nicht zu gefährden – und um Naberius, das scheue Wild, nicht zu verschrecken. Die Säpo wandelt einen schmalen Grat, indem sie Terror in kauf nimmt.

|Staatsterrorismus|

Dass es auch aktiven, nicht nur passiven Staatsterrorismus geben kann, darauf verweist überdeutlich der Showdown. Er findet an keiner geringeren Stätte als dem Berliner Mahnmal für die Opfer des Holocaust statt. Zwischen über zweitausend Stelen versteckt sich der Attentäter, der es auf den US-Außenminister abgesehen hat, aber ebenso auch seine Jäger aus der A-Gruppe, die ihn als Einzige identifizieren können. Das Stelenfeld für die ermordeten Juden etc. erinnert an den Staatsterrorismus des „Dritten Reiches“. Ob der Autor auf diese Weise andeuten will, dass eine unbeaufsichtigte Geheimpolizei à la Säpo einen Faschismus à la „Drittes Reich“ ermöglichen könnte, so ist das eine durchaus kritische, wenn nicht sogar brisante Aussage.

|Innerer Terror|

Indirekt entschärft der Autor diese Andeutung. Weil der Terror, den Naberius ausübt, auch ins innerste Privatleben eines Mitglieds der A-Gruppe hineinreicht, muss diese innere Bedrohung aufgehoben, bevor das Team wieder handlungsfähig ist. Die Beseitigung des Druckmittels erfolgt mit Hilfe eines technischen Experten der Säpo. Sie ist also doch zu etwas nutze und kann sich human betätigen.

_Die Übersetzung _

Der Text liest sich flüssig und problemlos, Fußnoten sind in der Regel nicht nötig. Bemerkenswert ist, wie stets bei Dahl, der harmonische Übergang vom Deutschen zum Englischen und wieder zurück. Die problemlose Kombination der beiden Sprachen signalisiert, dass die Ermittler der A-Gruppe, zu denen früher ja auch Paul Hjelm gehörte, durch ihre Tätigkeit im Englischen ebenso flüssig sprechen wie in ihrer Muttersprache: Da sie mit „Verbrechen von internationalem Charakter“ befasst sind, ist Englisch ihre lingua franca.

Englisch ist auch die Sprache jener Songtexte, die sich Paul Hjelm anhört. Die Texte, u.a. von Radiohead, bilden auf einer assoziativen Ebene einen indirekten Kommentar zu den Tätigkeiten und inneren Einstellungen der Ermittler. Den Begriff „Karma Police“ auf die Ermittler anzuwenden, ist ein weiterer ironischer Seitenhieb.

S. 48 wird auf einen Mann namens Carl Jonas Love Almqvist verwiesen, der Namensgeber des Unglückswaggons sein soll. Kerstin Holm sagt von Almqvist: „Das ist er doch gewöhnt.“ Der Grund dafür bleibt uns Nichtschweden allerdings verborgen. Die Wikipedia klärt uns auf: „A. * 28. November 1793 in Stockholm; † 26. September 1866 in Bremen) war ein schwedischer Schriftsteller und Komponist. Er war Feminist und Sozialreformer, der aufgrund seiner Arbeiten von der Kirche als gefährlicher Revolutionär verdammt wurde.“ Wer diese Information hat und sie in Bezug zu den drei feministischen „Wächterinnen“ setzt, bemerkt die Ironie, die der Autor zum Ausdruck bringt. Dass der Waggon nach Almqvist benannt ist, beruht also keineswegs auf einem Zufall.

Eine merkwürdige Art der Mathematik scheint auf S. 98 angewendet zu werden. „Die Schlacht von Siffin findet im Juli des Jahres 657 statt – im Jahr 37 nach muslimischer Zeitrechnung, die im Jahr 622 ihren Anfang nimmt …“ Bei mir ergibt 622 plus 37 immer 659. Es kann aber sein, dass die 2 Jahre Differenz von dem Mondkalender herrühren, den die Muslime bis heute verwenden.

_Unterm Strich_

Ich habe den Krimi in wenigen Tagen gelesen. Er ist spannend und durchaus actionreich geschrieben. Allerdings machte nach den ersten hundert Seiten eine mehrtägige Pause, denn da wurde gerade die relativ dröge Anfangsphase abgeschlossen: Die Figuren werden alle miteinander vorgestellt, aber nicht gerade auf prickelnde Weise. Lediglich leiser Humor kommt hier zum Ausdruck.

|Spaßbremsen|

Und der Fall Ake Bengtsson, der im Koma liegt, drückte zwar gehörig auf die Tränendrüse, tangierte mich aber überhaupt nicht, denn ich kannte die Szene, in der er angeschossen wurde, gar nicht. Hier hätte der Autor eine Rückblende einbauen sollen, damit Leute, die den Vorgängerband nicht kennen, auch etwas damit anfangen können.

Zudem beginnt das Buch nicht mit der Explosion, sondern mit einem inneren Monolog oder einer Art Tagebuch. Dieser Unbekannte stellt ein Rätsel dar, das einen Spannungsbogen beginnt, der erst sehr spät seinen Abschluss findet. Aber eben weil die Eintragungen so rätselhaft sind, reizen sie die Neugier nicht unbedingt. Und weiter von der Action kann man gar nicht entfernt sein.

Der Krimifreund muss sich mit solchen Eigenheiten eines Arne-Dahl-Krimis abfinden. Außerdem ist es hilfreich, wenn man schon mal einen A-Gruppe-Krimi gelesen hat, ganz gleich, welchen („Misterioso“ ist ein guter Einstieg). Dann versteht der Leser die spezielle Dynamik dieser Gruppe besser.

|Rätsel Nr. 2|

Ein zweites Rätsel wird ebenfalls früh aufgezeigt, aber ebenfalls sehr spät gelöst: Wer ist überhaupt der Bombenleger in der U-Bahn? Es kann sich weder um die islamistischen Amateure mit ihrem „Spiel“ handeln noch die Männerhasserinnen noch die sexgeilen Kerle, die sie bloßstellen wollen. Hier muss die Säpo ein paar bohrende Fragen der A-Gruppe beantworten.

Dennoch macht der Krimi auf den restlichen 340 Seiten Spaß. Die Action kommt meist unerwartet und mündet in einen gewaltig inszenierten Showdown im Berliner Holocaust-Mahnmal – eine tolle Kulisse, die zudem ein Versteckspiel à la Stonehenge geradezu provoziert. Beim Zugriff auf den Schären vor Stockholm fragte ich mich aber doch, wieso diesen Job die A-Gruppe erledigt und nicht die örtliche Kripo oder wenigstens der Reichsgrenzschutz (falls es so etwas in Schweden gibt).

|Puzzle|

Nicht alles wird am Schluss in der Sitzung mit der Säpo restlos geklärt. Der Leser ist durchaus aufgefordert, die Puzzlestücke zusammenzusetzen, um ein zusammenhängendes Bild aus den Beziehungen und Ereignissen zu erhalten. Dazu sollte der Leser die einzelnen Bausteine Revue passieren lassen und beurteilen. Es lohnt sich, denn wie gesagt, geht es um die verschiedenen Formen des Schreckens.

Die grimmige Aussage: Terror muss nicht Angelegenheit der Behörden sein. Es kann sich lediglich um eine Idee handeln, die gefährliches Handeln provoziert. Terror kann aber auch die Schlinge um den Hals eines geliebten Menschen sein. Dann beginnt der Horror im Kopf und erreicht schnell die Eingeweide …

|Taschenbuch: 440 Seiten
Originaltitel: Efterskalv (2006)
Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt
ISBN-13: 978-3492274500|
http://www.piper-verlag.de

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