Daniel Defoe – Robinson Crusoe (Hörbuch)

Abenteuerlich: Vom Schiffbrüchigen zum Vizekönig

Das Leben und die seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe, eines Seemannes aus York, welcher 27 Jahre ganz allein auf einer unbewohnten Insel vor der südamerikanischen Küste nahe der Orinoco-Mündung lebte. Ein Schiffbruch, bei dem die ganze Besatzung ums Leben kam, verschlug ihn auf dieses selbst von Kannibalen nur selten besuchte Eiland.

Der Autor

Daniel Defoe wurde als Sohn eines Fleischers Anfang 1660 in London geboren. Nach einer kaufmännischen Ausbildung gab er mehrere Zeitschriften heraus, ein Angriff auf die Kirche brachte ihn sogar ins Gefängnis. Wieder entlassen, schrieb er zahlreiche Romane wie etwa „Moll Flanders“ und „Roxana“. Mit „Robinson Crusoe“ erzielte er im Jahre 1719 einen Welterfolg, dem er mehrere Fortsetzungen folgen ließ. Defoe starb am 26. April 1731 in London.

Sprecher, Produktion, Übersetzung

Rufus Beck, geboren 1957, spielte im Ensemble und als Gast auf deutschsprachigen Bühnen, wurde durch Sönke Wortmanns Film „Der bewegte Mann“ populär und gilt seit seinen einmaligen Interpretationen der Harry-Potter-Romane als einer der besten, engagiertesten Hörbuchsprecher („-leser“ kann man wohl nicht mehr sagen).

Auffällig ist sein Engagement für Werke, in denen Jungs auf ungewöhnlichen Wegen ihre Identität suchen und finden. Dazu gehören auch „Der Fliegenfänger“ von Willy Russell sowie „Die Mitte der Welt“ von Andreas Steinhöfel, um nur zwei neuere Beispiele zu nennen. Auch Eoin Colfers jugendlichen Helden Artemis Fowl hat er uns bereits zu Gehör gebracht.

Margrit Osterwold führte bei diesem Hörbuch Regie und Ansgar Döbertin steuerte den Ton aus. Der Text wurde gekürzt.

Die Übersetzung stammt von Sybil Gräfin Schönfeldt. Die promovierte Germanistin und Kulturwissenschaftlerin ist eine der bekanntesten Kinder- und Jugendbuchautorinnen, schreibt der Verlag. Für ihre Jugendbücher wurden ihr der Deutsche Jugendliteraturpreis und der Europäische Jugendbuchpreis verliehen. (Verlagsinfo)

Handlung

Entgegen der Darstellung in den populären Kinder- und Jugendbüchern begannen Robinson Crusoes Abenteuers keineswegs damit, dass er auf einer einsamen Insel strandete. Da kam noch eine ganze Menge vorher, wie diese Textfassung zeigt. Und das macht das Hörbuch eigentlich spannender als die altbekannten Versionen.

Robinson Crusoe wird 1632 in York in eine angesehene Familie geboren, die aus Deutschland eingewandert ist. Sein Vater, der aus Bremen stammt, hieß ursprünglich Kreuzner, bevor er sich umbenannte, denn die Engländer sprachen seinen Namen stets wie „kru:so“ aus. Nach seiner Heirat zog er nach Hull, der Heimatstadt seiner Frau. Er verlor zwei seiner drei Söhne, und natürlich sollte Robinson, der Jüngste, etwas Rechtes werden: Jurist.

Doch Robin, wie ihn sein Paps nennt, ist keineswegs ein Freund der Schrift, sondern sein Herz hat ständig Fernweh. Er will zur See fahren. Es gab damals nur wenige schlechtere Berufe, etwa Latrinenreiniger. Folglich stellt ihn der entsetzte Vater vor die Wahl: volle Unterstützung in der Juraausbildung oder null Unterstützung als Seemann. Er spricht prophetische Worte: Eines Tages werde niemand da sein, um für Robin zu sorgen. Doch Robinsons gute Vorsätze nach dieser Gardinenpredigt sind schon bald vergessen, und auch von Mutterseite erfährt er nur Ablehnung für seinen Berufswunsch.

Nach London

Am 1. September 1651 geht der 19-Jährige ohne Abschied und Segen an Bord eines Schiffes, das ihn von Hull nach London bringen soll. Ein Kamerad hat ihn dazu überredet. Robinson bereut es sofort. Schon im ersten Sturm wird er seekrank, und er ertränkt Kummer und Vorsätze im Punsch. In Yarmouth wird das Wetter kaum besser, und das Schiff sinkt im Sturm, so dass die Seeleute froh sind, mit dem nackten Leben davonzukommen. Doch die Scham hindert Robinson, zu seinem Vater zurückzukehren.

Nach Afrika

Er geht an Bord eines so genannten „Guineafahrers“, aber nicht in Lohn und Brot, sondern als Passagier. Doch die Investition von 40 Pfund erweist sich als lukrativ, als er mit Gold zurückkehrt. Leider stirbt der freundliche Kapitän, und auf der zweiten Guineafahrt ereilt Robinsons Schiff das Unglück: Türkische Piraten entern es vor den Kanarischen Inseln und nehmen alle gefangen. Zwei Jahre lang schmachtet unser Freund in der marokkanisch-türkischen Sklaverei, bevor sich ihm die Gelegenheit zur Flucht bietet.

In die Freiheit

Doch inzwischen verfügt er über genügend nautisches Wissen, um sein kleines Segelboot nach Westen zu navigieren. Es ist eine sehr lange Reise zu den Kapverdischen Inseln vor Westafrika, wo ein Brasilienfahrer ihn freundlich an Bord nimmt. In Bahia gründet und betreibt Robinson erst einmal eine Zuckerrohrplantage, doch es ist abzusehen, dass sie ohne billige Arbeiter nicht wirtschaftlich zu betreiben ist. Er und andere Unternehmer brauchen Sklaven. Am 1. September 1659 – exakt acht Jahre nach seiner Ausfahrt von Hull – begibt sich Robinson auf seine vorletzte Segelfahrt.

Schiffbruch

Doch statt nach Guinea zur Sklavenküste verschlägt ein heftiger Orkan das Schiff erst nach Guyana, dann noch weiter nordwestlich in die Mündung des großen Orinoco. Dort ist endgültig Endstation, und er überlebt als Einziger an Bord, obwohl er beinahe ertrinkt und auf eine Klippe geschleudert wird.

Die restlichen 27 Jahre sind Geschichte, wie es so schön heißt. Als er wieder englischen Boden betritt, ist er 53 Jahre alt und der Vizekönig eines winzigen Eilandes irgendwo vor der Mündung des Orinoco.

Mein Eindruck

Man kann „Robinson Crusoe“ (1719) sowohl als ersten modernen englischen Roman ansehen wie auch als einen der ersten Weltbestseller, der in zahlreiche Sprachen übertragen wurde und besonders bei Kinderbuchverlagen bis heute beliebt ist. Leider sind die meisten Ausgaben besonders seit 1780 -– so gekürzt, dass sie sich auf den Inselaufenthalt beschränken – ohne Zweifel das Unterscheidungsmerkmal Nummer eins des Buches. Wer will schon wissen, dass Robinson vorher seekrank und ein Sklave, ja, sogar ein Sklavenkäufer war?

Im Übrigen ist auch die vorliegende Lesung nicht vollständig, denn es fehlt ein letzter Teil, in dem Crusoe eine gefährliche Pyrenäenüberquerung wagt. Die vorliegende Fassung endet, als Crusoe seinen Fuß wieder auf englischen Boden setzt.

Das Buch erwies sich auch als ein Leitbild der Weltliteratur, das einen beispiellosen Einfluss auf die Romanliteratur ausgeübt hat. Es wurde als Reisebericht, wahrhaftige Autobiografie, als Abenteuerroman, psychologische Charakterstudie, religiöse Bekehrungsgeschichte, didaktische Illustration des bürgerlichen Lebensideals (obwohl Crusoe genau dieses ablehnte), spirituelle Autobiografie, Gesellschaftsutopie, Dokument kaufmännisch-bürgerlicher Existenz und als kurzgefasste Geschichte der Kolonisation verstanden. Eine ganze Menge also, und nicht alles davon lässt sich anhand des Textes belegen.

Ganz besonders wichtig ist hierbei die Form der Ich-Erzählung, getarnt als autobiographische Erzählung und Tagebucheinträge, die von einem fingierten Herausgeber veröffentlicht werden. Crusoe erzählt aus der Rückschau und deutet seine Erlebnisse, so dass zeitweise – in der Lesung sehr deutlich – die zusammenfassenden Endbetrachtungen mit der Unmittelbarkeit der Tagebucheintragungen konstrastieren.

Daraus kann man den Aufstieg des bürgerlichen – im Gegensatz zu Adel und Bauern – Individuums ablesen. Die Amerikaner wird dieses Urbild des Selfmademan gefreut haben, belegt doch Robinsons Erfolgsgeschichte, dass es möglich ist, selbst aus unbewohntem Gebiet noch eine würdige menschliche Existenz herauszuholen und obendrein – und das ist sehr wichtig – über andere Menschen Herrschaft auszuüben. Freitag, der keineswegs ein importierter Afroamerikaner, sondern ein Karibe ist, freut sich, vom weißen Mann lernen zu dürfen und wird sozusagen ein gehorsamer Freund. Dass auch er mal Menschenfleisch gegessen hat und dies auch nicht leugnet, muss man eben in Kauf nehmen. Interessant ist, dass Crusoe nicht versucht, Freitag zum Christentum zu bekehren.

Die dominierende Freundschaft zu Freitag steht ganz im Gegensatz zu Robinsons Feinden. Das sind die kannibalischen Kariben einerseits und die europäischen Meuterer andererseits. Im letzten Drittel dieses Hörbuchs geht es ausschließlich darum, Crusoes Eiland gegen die Meuterer zu verteidigen und diese zu besiegen. Sobald ihr Schiff mit Crusoes Hilfe wieder in den Händen des rechtmäßigen Kapitäns ist, wird die Wiederherstellung der gesetzlichen Ordnung belohnt: Crusoe bekommt ein Gratis-Ticket nach London. Hier sind also klassische Action und Auseinandersetzung angesagt, was der Spannung sehr zugute kommt.

Die Religion spielt, wie oben erwähnt, eine wiederkehrende Rolle. Crusoe lobt immer wieder die gütige Hand der Vorsehung – das Wort „Gott“ fällt sehr selten. Die Anrufung eines höheren Wesens findet ebenfalls nur selten statt, wenn überhaupt. Das ist insofern auffällig, als der Autor sich in einem Konflikt mit der Obrigkeit befand, weil er die „Kirche“, also die englische Amtskirche, verunglimpft hatte. Vielleicht sympathisierte er mit den religiösen Dissidenten, die seit 1621 – die berühmten „Pilgerväter“ – in die Neue Welt auswandern mussten, um dort ihren Glauben frei ausüben zu können.

Diese Vermutung wird gestützt von Robinsons Liberalität in Sachen Glaubensausübung. Er herrscht unumschränkt als Vizekönig auf seinem Eiland und könnte verlangen und durchsetzen, dass alle Untertanen seinen eigenen Glauben zu übernehmen haben, wie es ja viele Amtskirchen in Europa taten. Doch nichts dergleichen kommt ihm in den Sinn. Freitag darf ein ungetaufte Heide aus den Kariben bleiben, und der gerettete Spanier darf weiterhin Mitglied der römisch-katholischen Kirche sein. Kein Wunder also, dass das Buch auch als Utopie verstanden wurde: Eine solche Neue Welt, wie sie Crusoe erlaubte, kam wohl so manchem Glaubensverfolgten – der Dreißigjährige Krieg lag erst 70 Jahre zurück – wie das Gelobte Land vor.

So genannte „Robinsonaden“ gab es im Gefolge des Romans jede Menge, und sogar ein Gutteil von Science-Fiction lässt sich unter diesem Aspekt betrachten, ganz besonders amerikanische Pioniergeschichten. Bemerkenswert in Deutschland sind Johann Gottfried Schnabels Roman „Die Insel Felsenburg“ (1731 bis 1743) und das Schauspiel „Robinson soll nicht sterben!“ (1931) von Friedrich Forster. In Jean-Jacques Rousseaus Bildungsroman „Emile oder Über die Erziehung“ aus dem Jahr 1762 wird dem Knaben Emil als erste Lektüre der „Robinson Crusoe“ empfohlen.

Der britische Literaturwissenschaftler Ian Watt hat 1957 mit „The Rise of the Novel“ eine sehr lesbare und informative Analyse der Entstehung des so genannten „realistischen Romans“ – es gibt ja auch andere Romanarten – vorgelegt. Ich habe das Buch mit Spannung und Genuss gelesen. Watt bespricht die grundlegenden Romane „Robinson Crusoe“, „Moll Flanders“ (beide von Defoe), „Pamela“ und Clarissa“ (beide von Samuel Richardson, 1689-1761) sowie „Tom Jones“ von Fielding. Für ihn ist „Crusoe“ die paradigmatische Schilderung einer Selbsterziehung des Individuums. Der Schiffbrüchige baut sich mit den Resten der Zivilisation und einer ernsthaften Bibellektüre selbst wieder auf, statt zu verzweifeln. Tom Hanks hat in „Cast Away“ statt einer Bibel das Medaillonbild seiner geliebten Kelly und als Freitag Wilson – und der ist ein Volleyball.

Der Sprecher

Rufus Beck hat diesmal nicht die Aufgabe, ein Dutzend verschiedene Figuren stimmlich zu charakterisieren. Es treten auch keine Zauberlehrlinge oder Wundertiere auf. Diesmal darf er im Gegenteil nur mit wenigen Stimmen – hauptsächlich Crusoe – sprechen, und dies möglichst einfühlsam. Ganz nett ist auch Crusoes Papagei Poll (nicht „Polly“). Am meisten Abwechslung weist Becks Darstellung im letzten Drittel auf, als sich erst Kannibalen und dann Meuterer auf Crusoes Insel ein Stelldichein geben. Am großen Tag des Gerichts kann Beck seinem Crusoe das pompöse Gehabe eines Statthalters des englischen Königs angedeihen lassen. Eine Menge Rufe sind zu hören, bevor alles für die Abfahrt nach merry old England bereit ist.

Unterm Strich

Wer meint, das Buch „Robinson Crusoe“ aus Kindertagen schon in- und auswendig zu kennen, der wird hier eines Besseren belehrt. Fast ein Drittel der Handlung vergeht, bevor der Held überhaupt erst auf seine einsame Insel gelangt. Und noch einmal ein Drittel – das letzte – wird darauf verwendet, seinen Kampf gegen die Kannibalen und Meuterer zu schildern. Dass er sich eine komplette Existenz à la 17. Jahrhundert im Alleingang aufbaut, ist zwar zur Genüge bekannt, aber es erstaunt dann doch ein wenig, wenn man hört, dass er für diese oder jene Fertigkeit oder Errungenschaft ein halbes oder ein ganzes Jahr benötigt hat.

Schade ist nur, dass auffälligerweise überhaupt keine Frauen vorkommen, nicht eine einzige (außer Crusoes Mutter). Um dieses Vergnügen zu bekommen, sollte man „Moll Flanders“ oder das schlüpfrige „Roxana“ lesen, ebenfalls aus Defoes Feder. Sex spielt also im „Robinson“ keinerlei Rolle, schon gar nicht unter Männern; das wollte der Autor dann doch nicht riskieren.

All das ist in der Sprache des 19. Jahrhunderts erzählt, und für manchen Zeitgenossen könnte das zu einer kleinen Schwierigkeit werden. Nicht nur wegen der Ausdrucksweise, die wirklich großväterlich wirkt, sondern auch wegen der realen Dinge, die darin erwähnt werden. Wer weiß schon, wie eine Muskete aussieht, eine Schaluppe oder eine Palisade? Was versteht man unter dem Ausdruck „die Sonne nehmen“? (Eine Methode der Positionsbestimmung.) Wohl dem, der über ein wenig Allgemeinbildung verfügt.

Das Hörbuch

Rufus Beck macht das Hörbuch zu einem angenehmen Erlebnis, aber auch seine Fähigkeit zu unterhalten ist dadurch eingeschränkt, dass der Held die meiste Zeit völlig allein ist. Abwechslung und vor allem Spannung kommen erst mit Freitag, den Kannibalen und den Meuterern auf. Da diese Fassung ebenfalls nicht den kompletten Text bietet – es ist schon ein umfangreiches Buch –, sollte der wirklich am Original interessierte Leser zur Komplettfassung greifen. Diese muss aber nicht unbedingt unterhaltsamer sein.

Hinweis: Die Insel

Wer übrigens heute nach der Robinson-Crusoe-Insel sucht, findet sie zu seiner Verblüffung vor der Küste Chiles. Sie hieß früher nicht zufällig Alexander Selkirk Island: Der schottische Seemann wurde dort im 18. Jahrhundert ausgesetzt und musste sich als Robinsonjünger durchschlagen. Ab und zu gerät sie in die Schlagzeilen, weil wieder einmal Schätze von Piraten gefunden worden sein sollen. Defoes Robinson-Insel hingegen liegt in der Nähe von Trinidad in der Orinoco-Mündung.

CD: 284 Minuten auf 4 CDs.
ISBN-13: 978-3899033014

www.hoerbuch-hamburg.de

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