Doyle, Arthur Conan – Bund der Rothaarigen, Der (und anderes)

_Die Täter kommen davon: Holmes auf Abwegen?_

Dieses Hörbuch stützt sich auf die Übersetzung der deutschen Erstausgabe der Holmes-Geschichten. Insgesamt sind hier vier Erzählungen gesammelt. In „Der Bund der Rothaarigen“ bekommt der Pfandleiher Jabez Wilson von der mysteriösen Liga der Rothaarigen Geld dafür, die Encyclopedia Britannica abzuschreiben. Als die Zahlungen plötzlich eingestellt werden, wendet er sich an Sherlock Holmes. „Ein Drei-Pfeifen-Problem“ sagt dieser ganz cool und kommt aus seinem Sessel heraus dem viertschlauesten Mann Londons auf die Schliche.

Dies ist der erste Teil der Gesamtausgabe der Sherlock-Holmes-Serie, die Prof. Volker Neuhaus bei |Delta Music| herausgibt. Auf dem Titel ist als Autor ein gewisser „C. Doyle“ angegeben, nicht Arthur Conan Doyle. Das spricht nicht gerade für editorische Sorgfalt.

_Der Autor_

Sir Arthur Conan Doyle lebte von 1859 bis 1930 und gelangte mit seinen Erzählungen um den Meisterdetektiv Sherlock Holmes zu Weltruhm. Dabei begann der Mediziner, der eine eigene Praxis hatte, erst 1882 mit dem Schreiben, um sein Einkommen aufzubessern. Neben mystischen und parapsychologischen Themen griff er 1912 auch die Idee einer verschollenen Region (mit Dinosauriern und Urzeitmenschen) auf, die von der modernen Welt abgeschnitten ist: [„The Lost World“ 1780 erwies sich als enorm einflussreich und wurde schon 13 Jahre später von einem Trickspezialisten verfilmt. Schon 1913 ließ Doyle eine Fortsetzung unter dem Titel „The Poison Belt“ (dt. als „Im Giftstrom“, 1924) folgen.

_Der Sprecher_

Der Schauspieler Peter Lieck hatte an verschiedenen Theaterbühnen Deutschlands Engagements. Seit vielen Jahren ist er für den Rundfunk tätig: mit Romanlesungen, Gedichten, Hörspielen wie etwa Goethes „Dichtung und Wahrheit“, Flauberts „Erziehung des Herzens“ und Romanen von Saul Bellow. Er tritt in Köln auf der Bühne auf, macht noch szenische Lesungen von Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“. Auf der Rückseite des Hörbuchalbums ist sein Foto abgedruckt.

Zu Regie und Tonmeister liefert das Hörbuch keine Angaben.

_Handlung von „Der Bund der Rothaarigen“_

Mr Jabez Wilson hat sich an Holmes gewandt, weil er sich betrogen fühlt. Und das kam so: Der Londoner Pfandleiher hat einen Assistenten namens Vincent Spaulding, der gerne fotografiert und dafür öfters im Keller arbeitet. Vince las Wilson am 27. April 1890 die Annonce des „Bundes der Rothaarigen“ vor. Und weil Wilson selbst der stolze Besitzer eines feuerroten Schopfes ist, meinte Vince, er könne doch mal auf die Anzeige hin vorstellig werden. Ein reicher Ami habe in seinem Testament verfügt, nur männliche Londoner Rothaarige dürften von seinem Bund der Rothaarigen profitieren. Sie bekämen nämlich die königliche Summe von vier Pfund Sterling im Monat.

Als Wilson sich für die vakante Stelle im Bund bewirbt, wird er von einem Mann gemustert, der sich Duncan Ross nennt. Obwohl Massen von rothaarigen Bewerbern das Haus des Bundes belagern, wird Wilson – nach einer kleinen, aber schmerzhaften Prüfung der Echtheit seines Schopfes – angenommen. Für seine 4 Pfund muss er lediglich zwischen 10 und 14 Uhr persönlich in diesem Haus anwesend sein und die „Encyclopedia Britannica“ abschreiben. Das sieht nach einer Lebensstellung aus, denn bekanntlich ist die „Britannica“ ziemlich umfangreich.

Doch nach acht Wochen erhält er die fristlose Kündigung und auf Anfrage ist kein Duncan Ross aufzutreiben. Eine Postkarte teilt ihm mit, der „Bund der Rothaarigen“ sei aufgelöst. Wie sich zeigt, ist Ross ein Anwalt, der gesucht wird. Und als Wilson auch Vincent Spaulding beschreibt, ist Holmes’ Interesse geweckt: Es handelt sich offenbar um keinen anderen als John Clay, einen gesuchten Verbrecher.

Mit dem Polizisten Jones und dem Bankdirektor Merriweather legt sich Holmes mit dem erstaunten Wilson und Dr. Watson auf die Lauer. Aber nicht in Wilsons Haus, sondern im Keller der Bankfiliale daneben!

|Mein Eindruck:|

Die Lösung dieses Falles ist recht ausgefallen, wenn man bedenkt, dass es zunächst um eine Haarfarbe geht. Aber der Ausgang der Geschichte ist durchaus packend, als Holmes’ Falle für John Clay zuschnappt. Ironie und Humor kommen ebenfalls nicht zu kurz.

_Handlung von „Eine Skandalgeschichte im Herrscherhause O.“_

Man schreibt den 20. März des Jahres 1888, und als Watson sich bei Holmes einfindet, bekommt er wieder einmal eine eindrucksvolle Kostprobe von Holmes’ außergewöhnlicher Beobachtungsgabe und dessen Deduktionsvermögen. Doch in diesem neuesten Fall stößt der Meisterdetektiv selbst auf eine Meisterin ihres Faches, die ihm fortan Respekt vor dem weiblichen Geschlecht einflößt.

Ein veritabler Fürst wendet sich Holmes. Er habe in jungen Jahren die Dummheit begangen, sich in Warschau mit der Schauspielerin Irene Adler einzulassen, doch ihre Wege trennten sich. Nun wolle er eine sittenstrenge Dame des besten Kreise heiraten. Die 1858 geborene Abenteurerin besitzt jedoch Briefe von ihm – die man als Fälschung hinstellen könnte – und auch ein Bild – o weh! – welches sie zusammen zeigt. Dieses Bild würde sie, so droht die Adler, an die Braut schicken, um jede Heirat zu sabotieren.

Ob Holmes wohl behilflich sein könnte, dieses kompromittierende Bild zu beschaffen? Die Dame lebe ja schließlich hier in London. Mehrere Versuche, das Bild zu finden und illegal zu beschaffen, seien bereits gescheitert. Das Bild muss aber in Irene Adlers nächster Nähe sein, damit sie es bei jeder Gelegenheit gleich zur Hand hat. Wo kann es nur sein?

Holmes ist bereit, den Auftrag zu übernehmen, aber das gut bezahlte Unternehmen erfordert alle seine Verkleidungskünste. Und auch Watson muss seine Rolle spielen. So erfahren sie, dass die gute Miss Adler klammheimlich einen Juristen geheiratet hat und nun eine Frau Norton ist. Und ausgerechnet den verkleideten Holmes, der sie beschattet, nehmen sie als ihren Trauzeugen in Dienst. Welch ein Spaß, findet Holmes. Und er hat sogar eine beachtliche Geldsumme dafür bekommen! Aber noch hat er das Bild nicht …

|Mein Eindruck:|

In der Tat findet der Meisterdetektiv in Irene Adler eine ebenbürtige Gegnerin. Und so lässt er sich nach einem actionreichen Manöver und einem zu des Fürsten Zufriedenheit erledigten Auftrag das Bild der Dame übergeben – es ist ihm kostbarer als alle Diamanten, die der Fürst zu bieten hat.

An dieser Story hat mich besonders die offensichtliche Ähnlichkeit mit Edgar Allan Poes berühmter Erzählung „Der entwendete Brief“ geärgert. Dort wird besagter Brief von einem Mann (einem Minister) vor der Nase der Suchenden versteckt, und es ist eine Dame der besten Gesellschaft, die den kompromittierenden Brief durch den berühmten Pariser Detektiv Auguste Dupin suchen lässt. Die Geschlechter sind also umgekehrt verteilt wie in Doyles Story. Auch der Ausgang ist anders, aber sonst ist das zentrale Motiv dasselbe. Hier hat der Lehrling vom Meister gelernt.

_Handlung von „Ein Fall geschickter Täuschung“_

Der nächste Fall bietet ein Beispiel unglaublicher Niedertracht, finden Holmes und Watson. Eine Miss Mary Sutherland wendet sich um Hilfe an den Detektiv. Sie ist offensichtlich eine Tippse, die sich ein Zubrot verdient. Eigentlich hat sie ja von ihrem verstorbenen Vater Aktien geerbt und könnte gut von der Dividende in Höhe von 100 Pfund im Jahr leben. Doch leider wird diese Summe von ihrem Stiefvater James Windybank einbehalten. Dieser ist Weinhändler und häufig auf Reisen in den kontinentalen Weinanbaugebieten.

Sie beauftragt ihn, nach einem Mr. Housma Angel zu suchen, der seit einigen Tagen spurlos verschwunden sei. Sie habe sich nach einem Ball, bei dem sie ihn kennen lernte, in ihn verliebt und wollte ihn – allerdings ohne Erlaubnis des Stiefvaters – zum Traualtar führen, als die Hochzeitskutsche eintraf – ohne den Bräutigam! Bestimmt ist ihm ein Unglück zugestoßen, nicht wahr?

Doch Holmes lässt sich Housma beschreiben. Er habe stets geflüstert und eine dunkle Brille getragen. Ach ja, und treffen durfte sie ihn stets nur am Abend, aber niemals am Tage, und seine Briefe waren stets mit der Schreibmaschine geschrieben, sogar die Unterschrift. Diese Beschreibung stimmt Holmes sehr bedenklich. Und wenn er daran denkt, wer von der Verhinderung der Hochzeit profitieren würde, so drängt sich ihm ein übler Verdacht auf. Die Überprüfung der Housma-Briefe bestätigt diesen Verdacht nur noch …

|Mein Eindruck:|

Die Story steht und fällt mit der Bedeutung von maschinengeschriebenen Briefen, die verglichen werden. Holmes könnte glatt wieder eines seiner kriminologischen Bücher darüber schreiben: die Bedeutung der Schreibmaschine für das moderne Verbrechen und dessen Aufklärung. Schade, dass heute kaum noch jemand mit der Maschine schreibt, so dass man vergleichende Analysen wie Holmes anstellen könnte. Aber diese Story dürfte eine der ersten sein, in der solche Analysen vorgenommen werden.

Bemerkenswert ist auch die außerordentliche Rücksichtnahme, die der Detektiv gegenüber der geschädigten Miss Sutherland an den Tag legt. Er sagt ihr nicht, wer ihr Schaden zufügen wollte und ihre weiblichen Gefühle schamlos ausnutzte. Sie mag weiterhin glauben, dass Housma Angel einem Unglück zum Opfer fiel.

Was aber noch mehr erstaunt, ist der hohe Grad, in dem Holmes wütend werden kann, wenn das Gesetz den Bösewicht nicht belangen kann. Ja, er würde am liebsten zur Hetzpeitsche greifen, wenn das etwas hülfe. Diese Emotionalität hätte ich bei dem kühlen Denker Holmes niemals erwartet.

_Handlung von „Der geheimnisvolle Mord im Tal von Boscombe“_

Holmes lädt den sehr verheirateten Dr. Watson auf eine Zugfahrt ins idyllische Herefordshire ein. Dort habe sich ein interessanter Mord ereignet, um dessen Aufklärung er von einer sehr charmanten jungen Dame er gebeten worden sei. Watson erhält die Erlaubnis seines Ehegespons, Holmes zu begleiten. In der Tat wird sein medizinisches Fachwissen gefragt sein. Aufgrund seiner militärischen Ausbildung in Afghanistan ist er sofort reisefertig.

In Boscombe leben der Gutsherr John Turner mit seiner Tochter Alice – der Auftraggeberin. Turners Land grenzt an das Pachtgut von McCarthy, in dessen Sohn James die gute Alice verliebt ist. Denn sie kennen sich schon seit Jahren, als McCarthy hier auftauchte. Am 3. Juni ging McCarthy zum Boscombe-Teich, der von Wald umgeben ist. Zeugen sahen auch James, seinen Sohn, dorthin gehen, allerdings bewaffnet mit einer Flinte. Wenig später rannte James zum Haus des Verwalters und meldete den Tod seines Vaters. Man habe ihm den Schädel eingeschlagen.

Leider sprechen alle Indizien gegen den jungen Mann, wenn auch Alice ihn für unschuldig hält. Sofort wird er verhaftet und dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Aus Holmes’ Akten geht hervor, erkennt Watson, dass die Weigerung des jungen Mannes, über den Anlass des Streites, den er mit seinem Vater hatte, Auskunft zu geben, gegen ihn ausgelegt wird. Es wird zu einem Prozess kommen. Das möchte Holmes verhindern, denn erhält zu Watsons Erstaunen James McCarthy ebenfalls für unschuldig.

Der Londoner Detektiv Lestrade empfängt sie am Bahnhof. Er ist ebenfalls skeptisch, was Holmes’ Erfolgsaussichten, James vor dem Galgen zu bewahren, angeht. Durch Alice Turner ist zu erfahren, dass ihr Vater strikt gegen ihre Heirat mit James ist, dass aber McCarthy diese Heirat befürwortete. Die beiden Väter hätten sich in Australien kennen gelernt, wo Turner eine Goldmine hatte. Merkwürdig, dass McCarthy keinen Penny Pacht zahlen muss, findet Watson. Und noch merkwürdiger kommt es ihm vor, als Lestrade ihnen – natürlich nicht im Beisein von Alice – verrät, dass James McCarthy bereits mit einer Kellnerin aus Bristol verheiratet sei!

Doch es kommt noch schlimmer, als Holmes und Watson endlich den Tatort persönlich in Augenschein nehmen können und sie auf zahlreiche verräterische Indizien stoßen. Der Meisterdetektiv fragt Watson anschließend ratlos: „Lieber Freund, was sollen wir jetzt nur tun?“

|Mein Eindruck:|

Denn offensichtlich ist es mit Beobachtung und Schlussfolgerung nicht getan. Der Ermittler in der Position des Detektivs muss auch eine moralische Entscheidung fällen. Denn ein rigoroses Vorgehen nach dem Buchstaben des Gesetzes würde lediglich den Fluch der Vergangenheit, der auf Turner und McCarthy liegt, auf die nächste Generation, auf Alice und James, übertragen. Was also ist zu tun?

Wie schon in „Die fünf Orangenkerne“ und anderen Erzählungen sind die Hauptfiguren aus den Kolonien (dazu zählen für nationalistische Briten auch die USA) nach Merry Old England geflohen, um sich in Sicherheit zu bringen und zur Ruhe zu setzen, während die junge Generation aufwächst. Doch in der Regel holt sie der lange Arm der Vergangenheit wieder wie ein Fluch ein und zieht sie zur Rechenschaft. In „Das Tal der Furcht“ wird sogar Holmes’ Erzfeind Professor Moriarty für diesen Zweck eingespannt.

Dies ist auch in dem Boscombe-Fall so. Und die Geschichte, die John Turner zu erzählen hat, ist dazu angetan, tiefes Mitleid zu wecken. Hinzu kommt, dass Turner von der Zuckerkrankheit schwer gezeichnet ist und nicht mehr lange zu leben hat. Holmes’ Reaktion ist wohlüberlegt und voll Respekt für seine Auftraggeberin und ihren Vater. Sein Ziel ist eine Art Gerechtigkeit, die nicht pedantisch, buchstabengetreu und blind ist, sondern die Zukunft zu bewahren wünscht. Es ist die Frage, ob heute noch jemand so handeln könnte – oder es sich auch nur traut.

_Der Sprecher_

Man merkt es dem Sprecher Peter Lieck deutlich an, dass er sowohl Bühnen- als auch Rundfunkerfahrung hat: Er spricht sehr deutlich, macht Pausen zwischen und in den Sätzen, so dass Bedeutungseinheiten klar hervorgehoben werden. Über weniger wichtigen Text wie etwa einen Zeitungsartikel fliegt er schnell hinweg, eben genau so, wie man den Text selber lesen würde.

Dies ist aber nur die eine Seite seiner Kunst. Natürlich sind auch die zahlreich auftretenden Figuren auf eine Weise zu charakterisieren, dass sie der Hörer unterscheiden kann, und zwar jederzeit. Das geht am besten anhand ihrer Stimmhöhe und Sprechweise. Dr. Watson, der Ich-Erzähler, nimmt die Stelle des zweifelnden gesunden Menschenverstandes gegenüber Holmes ein, welcher ein getriebener Junkie der Vernunftarbeit zu sein scheint.

Die Frauenfiguren sind durch eine höhere Stimmlage gekennzeichnet, aber es sind vor allem die Männerfiguren, die zu charakterisieren sind. Nicht alle reden so hochnäsig wie Detektiv Lestrade und der arrogante John Clay, sondern meistens sind es ältere Kerle wie Wilson, die eine tiefe, ja sogar brummige Stimmlage aufweisen.

_Unterm Strich_

Die Sammlung bietet vier Holmes-Erzählungen, die man nicht oft zu sehen bekommt. „Der Bund der Rothaarigen“ ist noch am konventionellsten und bietet handfeste Action, ebenso die „Skandalgeschichte“. Doch in drei der vier Storys kommt der Täter davon, ohne dass er bestraft wird. Hier trifft Holmes zweimal eine moralische Entscheidung, die zum Nachdenken oder Erstaunen Anlass gibt. Im Fall der Irene Adler jedoch entzieht sich ihm die Gesuchte ganz einfach: durch die Flucht.

Wer also den Meisterdetektiv auf weniger ausgetretenen Pfaden begleiten möchte, ist hier an der richtigen Adresse. Ich würde aber den Machern mehr Sorgfalt bei der Produktion wünschen. Fehlende Angaben zu Autor, Produktion und Regie sind keineswegs ein Pluspunkt für ein Hörbuch. Und die Sprache des 19. Jahrhunderts ist wohl nicht für jedermann ohne Weiteres verständlich und goutierbar.

|ca. 225 Minuten auf 3 CDs|