Doyle, Arthur Conan – griechische Dolmetscher, Der

_Entführung, Erpressung, Menschenraub: das pralle Leben_

Der griechische Dolmetscher Mr. Melas ist von einem seltsamen Kunden entführt worden, um die Worte eines bandagierten Gefangenen in einem abgelegenen Landhaus zu übersetzen. Nach seiner Freilassung wendet sich Melas jedoch entgegen der Wünsche der Entführer an Sherlock Holmes. Er will mit seiner Hilfe das Landhaus wiederfinden, denn die Ermordung des Gefangenen scheint unmittelbar bevorzustehen.

Neben diesem titelgebenden Abenteuer um den „griechischen Dolmetscher“ finden sich auf den zwei CDs auch die Fälle „Das gelbe Gesicht“ und „Der Daumen des Ingenieurs“.

_Der Autor_

Sir Arthur Conan Doyle lebte von 1859 bis 1930 und gelangte mit seinen Erzählungen um den Meisterdetektiv Sherlock Holmes zu Weltruhm. Dabei begann der Mediziner, der eine eigene Praxis hatte, erst 1882 mit dem Schreiben, um seinen Einkommen aufzubessern. Neben mystischen und parapsychologischen Themen griff er 1912 auch die Idee einer verschollenen Region (mit Dinosauriern und Urzeitmenschen) auf, die von der modernen Welt abgeschnitten ist: [„The Lost World“ 1780 erwies sich als enorm einflussreich und wurde schon 13 Jahre später von einem Trickspezialisten verfilmt.

_Der Sprecher_

Daniel Morgenroth, geboren 1964 in Berlin, studierte von 1986-1990 an der Hochschule „Ernst Busch“ in seiner Heimatstadt. Seither spielte er in zahlreichen Theaterstücken, Kino- und Fernsehfilmen und gewann neben anderen Auszeichnungen den „Alfred-Kerr-Darstellerpreis“. (Verlagsinfo)

Regie führte Frank Bruder, die Aufnahme erfolgte durch Danny Eichler von „der apparat“, Berlin. Die Titelillustration zeigt den Ausschnitt eines Gemäldes von Paul Cézanne.

_Handlung von: Der griechische Dolmetscher_

Dieser Fall wird Sherlock Holmes von seinem sieben Jahre älteren Bruder Mycroft zugetragen, von dem Dr. John Watson fast kaum etwas weiß. Holmes bietet ihm daher eines Tages an, ihn zum Diogenes-Klub zu begleiten, in dem Mycroft Holmes Mitglied ist. Das sei einer der merkwürdigsten Klubs der Hauptstadt: Man sei zum Schweigen verpflichtet, und die Mitglieder müssten einander ignorieren. Folglich erwartet Watson nicht viel von Mycroft.

Er wird aufs Angenehmste enttäuscht. Holmes erklärt, Mycroft verfüge über eine noch schärfere Beobachtungsgabe und schlussfolgere besser als er selbst. Diese Fähigkeiten demonstriert Mycroft anhand eines harmlosen Passanten. Doch leider fehlt ihm die Tatkraft und Entschlossenheit seines Bruders, um Verbrecher auch dem Arm des Gesetzes zuzuführen. Daher macht er ihn auf den Fall des Mr. Melas aufmerksam.

Der Herbeigerufene erzählt den beiden Holmes und Watson seine ungewöhnliche Geschichte. Er sei entführt worden, ohne dass er es sich versehen hätte. Vor zwei Tagen habe ihn ein gewisser Mr. Harold Latimer in seiner Kutsche aufs Land hinausfahren lassen, doch seltsamerweise waren die Fenster mit Papier verklebt. Als Mr. Latimer einen Totschläger gezückt und ihm mit körperlichem Schaden gedroht habe, habe er, Melas, sich in sein Schicksal gefügt. Latimers Komplize, ein kichernder Dicker mit Brille, habe ihm ebenfalls gedroht.

In einem Landhaus hielten die beiden einen ausgemergelten und bandagierten Landsmann namens Paul Kratidis gefangen, dem Melas die Forderungen der Verbrecher übersetzen musste. Er sollte Papiere unterschreiben und seine Zustimmung zu einer Vermählung geben. Kratidis weigerte sich jedoch. Als eine Frau namens Sophie hereintrat, fielen sie und Kratidis sich wie Bruder und Schwester in die Arme. Melas gelang es, ein paar Informationen zu gewinnen. Doch nach Sophies Auftauchen musste er verschwinden. Man warf ihn auf der Heide Wandsworth Common aus der Kutsche.

Doch als er sich an Mycroft wandte, machte dieser einen verhängnisvollen Fehler: Er suchte per Annonce nach Sophie Kratidis und Harold Latimer. Dadurch hat er Mr. Melas in Gefahr gebracht, denn nun wissen sich auch Latimer und sein Komplize über Melas’ Verrat Bescheid. Sherlock übernimmt den Fall. Da Mycroft inzwischen eine Antwort auf seine Annonce bekommen hat, weiß man, wo Sophie Kratidis zu finden ist. Zusammen mit Inspektor Gregson fahren die Detektive und Watson auf ihr Gut nach Beckenham. Doch Melas kann nicht mit: Er wurde bereits erneut entführt.

Die Gesetzeshüter müssen sich beeilen, um das Schlimmste zu verhüten.

_Mein Eindruck_

Entführung, Erpressung, Menschenraub – die Story geht ans Eingemachte. Ohne Zweifel ist hier die Tatkraft und Entschlossenheit von Sherlock Holmes gefragt und nicht etwa nur die kontemplative Sophisterei seines Bruders Mycroft. Was der Story allerdings fehlt, ist ein handfester Showdown. Die Verbrecher sind bereits über alle Berge, als Holmes und seine Truppe eintreffen.

Zwei positive Aspekte vermittelt die Erzählung. Die Gesetzeshüter fühlen sich selbstverständlich auch für die in England lebenden Ausländer wie Mr. Melas und die beiden Kratidis’ zuständig und handeln ihrer Verantwortung gemäß. Zweitens haben wir nun auch Mycroft kennen gelernt. Er mag ja angesehener Buchprüfer sein und über Scharfsinn verfügen, doch hilft dies den Klienten seines Bruders herzlich wenig, wenn er keine Anstalten macht, die Übeltäter zur Strecke zu bringen.

Wären Mycroft und Sherlock jemals ein Team geworden, so wäre vielleicht Mycroft der lenkende Kopf geworden und Sherlock die ausführende Hand. Ihre Schnittmenge besteht in Beobachtungsgabe und Schlussfolgerungsfähigkeit. Sherlock verfügt zudem über Kunstsinn und Kreativität. Es wird erwähnt, dass er dies möglicherweise von seiner Oma geerbt hat, die die Schwester eines französischen Kunstmalers gewesen sei. Mycroft verblasst ihm gegenüber, doch taucht er immer wieder in Doyles Holmes-Erzählungen auf, so etwa als Berater in Regierungskreisen in der Story „London im Nebel“.

_Handlung von: Das gelbe Gesicht_

Der Hopfenhändler Jack Grant-Munro wendet sich verzweifelt mit einem ehelichen Problem an Holmes. Als ob der Meisterdetektiv nichts Besseres zu tun hätte! Aber sein Handeln beweist, dass er sich auch um privates Glück sorgt, wenn es ihm geboten erscheint.

Grant-Munro ist seit drei Jahren glücklich mit Effi verheiratet, vormalige Mrs. Hebron. Da sie von ihrem in Amerika verstorbenen Mann ein Vermögen mitbrachte, übereignete sie es Grant-Munro, damit er ihr Bankier sei. Welche Ehre! Sie konnten sich ein Haus auf dem Lande in Norbury kaufen. Doch am Montag dieser Woche ist eine schreckliche Entfremdung zwischen ihnen eingetreten, und die hat mit dem gelben Gesicht zu tun.

Bislang sei das Nachbarhaus leer gestanden, erzählt Grant-Munro, doch seit ein paar Tagen habe er dort Leute bemerkt. Als er die Nachbarn begrüßte, wies ihn eine alte garstige Frau ab. Doch was ihn wirklich erschreckte, sei das Auftauchen eines gelben, fahlen Gesichtes am Fenster eines der Zimmer im Obergeschoss gewesen. Er könne aber nicht sagen, ob es einem Mann oder einer Frau gehörte.

Um die Merkwürdigkeiten weiterzutreiben, erbat seine Frau die erkleckliche Summe von 100 Pfund Sterling von ihm. Die wies er ihr auch an, obwohl sie ihm nicht sagen wollte, wozu sie derart viel Geld benötigte. In einer Nacht darauf bemerkte, wie seine Gattin sich mitten in der Nacht aus dem Haus schlich und erst nach einer halben Stunde zurückkehrte. Sie erschrak bei seinem Anblick, wollte ihm aber nicht die Wahrheit darüber sagen, was sie um diese Nachtzeit draußen zu suchen habe. Stattdessen tischte sie ihm eine Lüge auf.

Der Gipfel kam jedoch erst noch: Beim Spazierengehen sieht er sie aus dem Nachbarhaus treten. Doch sie hindert ihn daran, dem Grund ihres Besuchs auf den Grund zu gehen. Erneut sieht er das fahle Gesicht. Als er sie jedoch trotz ihres Versprechens zwei Tage später erneut dort sah, durchsuchte er das Haus von oben bis unten: Niemand da. Nur das Foto seiner Frau steht auf dem Kaminsims. Nun ist er ratlos, denn seine Frau weigere sich, Auskunft zu erteilen. Nur Holmes könne noch helfen.

Der Meisterdetektiv schickt ihn zurück nach Norbury, mit der Bitte, nach dem fahlen Gesicht Ausschau zu halten. Gegenüber Watson äußert er jedoch seine Befürchtung, Grant-Munros Frau werde offensichtlich erpresst. Dass sich auch ein Meisterdetektiv täuschen kann, zeigen der Besuch in Norbury am anderen Morgen.

_Mein Eindruck_

Die Erzählung wirft ein Schlaglicht auf die Befürchtungen der Weißen, wenn es um Farbige und deren Nachkommen geht. Mrs. Grant-Munro fürchtet, ausgegrenzt und von ihrem Mann verstoßen zu werden, weil sie ein dunkelhäutiges Kind von einem Farbigen hat. In dieser Story zeigt sich Doyle von seiner toleranten und humanen Seite, der sich gegen Rassismus einsetzt.

Bis zuletzt ist die Geschichte spannend, denn eigentlich handelt es sich nicht um einen Kriminalfall (Erpressung), sondern um ein Rätsel, das es zu lösen gilt. Die Enthüllung des Geheimnisses geht jedoch gut und versöhnlich aus.

_Handlung von: Der Daumen des Ingenieurs_

An Dr. Watsons Wohnungstür klopft es. Ein Schaffner der Eisenbahn vom nahen Paddington-Bahnhof bringt einen jungen Mann zur Behandlung. Der Ingenieur Victor Hatherley hat eine verwundete Hand: Der Daumen wurde abgetrennt. Rechtzeitig ist es ihm gelungen, die Blutung zu stoppen. Doch was der Schaffner einen „Unfall“ nennt, bezeichnet Hatherley als Mordanschlag. Das ist natürlich ein Fall für Sherlock Holmes.

Hatherley berichtet, dass er mutterseelenallein auf diesem Planeten lebt und sich sein Brot mit Beratungsarbeiten und dergleichen verdient. Eines Tages kam ein Mann in sein Büro in der Victoria Street und tat sehr geheimnisvoll. Er stellte sich als Oberst Lysander Stark vor: Hatherley könne 50 Pfund in einer Nacht verdienen, sofern er Diskretion bewahre und kommende Nacht nach Iford in Berkshire hinauskomme. Dort solle er eine hydraulische Presse untersuchen. Nach etwas Hin und Her willigte Hatherley ein. Die Sache kam ihm seltsam vor, aber er brauchte das Geld.

In Iford fuhren sie an die zwölf Meilen mit einem geschlossenen Pferdekarren übers Land, bis sie an einem Haus ankamen, wo eine junge Frau ihnen mit einer Lampe leuchtete. Kaum war Stark kurz weg, warnte die junge Frau Hatherley eindringlich, so schnell wie möglich zu verschwinden, denn sein Leben sei gefahr. Zu spät! Schon kam Mr Fergusons, Stark Kompagnon, ins Zimmer und führte Hatherley zur hydraulischen Presse, die so groß ist, dass man hineingehen kann.

Der Mann vom Fach findet den Schaden sofort: ein verfaulter Dichtungsring. Und wegen dieser Lappalie hat man ihn geholt? Deshalb stellt er ein paar neugierige Fragen, die gar nicht gut ankommen. Die zwei Gentlemen Stark und Ferguson verschließen die Tür zur Presse und setzen die Maschine in Gang! Es ist offensichtlich ein Anschlag auf sein Leben. Hätte die junge Frau ihm nicht das Leben gerettet, könnte er jetzt nicht Sherlock Holmes um Hilfe bitten. Wer um Himmels willen waren diese Ausländer?

_Mein Eindruck_

Hier spielt der Autor mit den Tücken falscher Wahrnehmung und Schlussfolgerung. Holmes hat natürlich den richtigen Riecher und durchschaut, worum es im Grunde geht. Bemerkenswert ist an den Verbrechern, dass es sich wieder einmal um Ausländer handelt, wie schon in „Der Mazarin-Stein“ und „London im Nebel“. Der Technik-Laie wundert sich natürlich, dass es eine hydraulische Presse geben kann bzw. konnte (vor über 100 Jahren), in die ein Mann hineinspazieren kann, der dort eingeschlossen wird.

_Der Sprecher_

Der Sprecher Daniel Morgenroth trägt die Geschichten in kompetenter Weise vor und beherrscht die Kunst der Pause, die vor wichtigen Wörtern und in einem der vielen Monologe einzulegen ist. Doch selten gelingt es ihm, die Figuren so zu charakterisieren, dass sie unterscheidbar, ja sogar unverwechselbar werden.

Deshalb ist die einzige Figur, die mir im Gedächtnis geblieben ist, ausgerechnet jener Verbrecher, den Mr. Melas so verabscheut: der Dicke mit der Brille, dessen wahrer Name William Kemp lautet. Sein herausragendes Merkmal sind nicht seine üblen Drohungen, sondern sein fortwährendes fieses Kichern. Es macht seine Drohungen gegen den braven Mr. Melas umso gehässiger.

_Unterm Strich_

Während die erste und dritte Erzählung Wert auf Handlung und Ortsveränderung legen, ja, sogar länderübrgreifend angelegt sind, stellt die mittlere Erzählung eher das Gegenteil dar und bildet einen ruhenden Pol zwischen Nr. 1 und Nr. 3. Hier bleibt das vermeintliche Verbrechen – Erpressung – im engsten Familienkreis und entpuppt sich lediglich als Rätsel: Wer wohnt wirklich im Nachbarhaus und verbirgt sich hinter dem „gelben Gesicht“?

Diese kleineren Stücke sind nicht zu vergleichen mit bekannten Meisterwerken wie „Der Hund der Baskervilles“ und „Das Zeichen der Vier“. Daher reißt es den Hörer auch nicht gerade vom Sitz, wenn er diese Geschichten anhört. Es sind Storys, wie sie das gebildete Publikum gerne in seinen Magazinen zur Unterhaltung las, und selten verirrt sich mal ein unterprivilegiertes Individuum in solche Texte. Doyle wollte sein Publikum nicht vor den Kopf stoßen, sondern flocht seine humanistischen Thesen quasi durch die Hintertür ein: in Nr. 2 gegen Rassismus, in Nr. 1 für Ausländer. Jack the Ripper und Konsorten sucht man hier vergeblich.

Der Sprecher Daniel Morgenroth trägt die Texte kompetent und mit Einfühlungsvermögen vor, so dass der Zuhörer nicht dabei einschläft. Der Vortrag ist deutlich zu verstehen und leicht zu verfolgen. Was Morgenroth noch ausbauen muss, ist seine Fähigkeit zur Charakterisierung. Was Rufus Beck, Philip Schepmann und Heikko Deutschmann beherrschen, ist sicherlich auch für Morgenroth kein Buch mit sieben Siegeln.

Fazit: Dieses preisgünstige Hörbuch bietet eine durchschnittliche, aber dennoch kompetente Leistung und ein solides Preis-Leistungsverhältnis, aber es ist beileibe kein Muss.

|Nach einer anonymen Übersetzung aus dem Jahr 1902
142 Minuten auf 2 CDs|