Eichacker, Reinhold – Fahrt ins Nichts, Die

_Spannende deutsche Früh-Science-Fiction_

Ein geheimnisvoller Meteor, dessen Erscheinen die Welt in Panik versetzt hat (so lautet auch der Titel des ersten Bandes der Duologie), stürzt bei Japan in den Pazifik und löst sowohl Angst als auch Neugier aus. In Indien untersuchen Geologen Steinproben des Meteors. Der Chemiker Werner Werndt und seine genialen Ideen sind gefordert. Er muss das Rätsel lösen, es aber gleichzeitig auch mit der geheimnisvollen Herrscherin Indiens aufnehmen.

_Der Autor_

Reinhold Eichacker scheint ein technisch interessierter Schriftsteller gewesen zu sein, dem mit seiner Werner-Werndt-Trilogie ein bescheidener Erfolg beschieden war. Dieser begann mit dem für Science-Fiction-Leser uninteressanten (und zudem nationalistischen) Roman „Der Kampf ums Gold“. „Panik“ folgte 1922 und wurde sogar ins Spanische übersetzt. Die Fortsetzung „Die Fahrt ins Nichts“ schloss die Trilogie 1923 (ebenfalls bei |Celero| neu aufgelegt) ab. Die Besonderheit der beiden Romane betrachte ich im Abschnitt „Mein Eindruck“.

_Handlung_

Vorgeschichte aus „Panik“: Die Trümmer eines Meteor sind im Pazifik und an Japans Küste eingeschlagen, wobei es natürlich nicht ohne Katastrophe und Tote abging. Eines der Bruchstücke hat die japanische Regierung dem genialen deutschen Chemiker Walter Werndt überlassen, der sich Hoffnungen auf einen neuen Schatz an Wissen für die Menschheit macht. Doch die Konkurrenz schläft nicht …

In der Nähe von Benares hat Walter Werndt eine kleine Stadt, die nach ihm benannt ist, aus dem Boden stampfen lassen. Hier wohnen seine Arbeiter, die in seinem großen Laboratorium angestellt sind. Der Hauptturm des Labors ragt wie eine Kirche der Wissenschaft über den Chemiekomplex empor. Hier wird der Meteor regelmäßig aus dem Keller geholt und Tests ausgesetzt. Bei diesen gefährlichen Experimenten steht Werndt sein bewundernder Assistent Dr. Nagel zur Seite. Dessen hübsche Frau Mabel, die Tochter eines Wissenschaftlers, der in „Panik“ umkam, versteht ebenfalls etwas von Technik und kann Werndts Flugzeug, den „Falken“, steuern.

Doch die geheimnisvolle „Herrin von Indien“ ist neidisch auf Werndts Erfolg in Sachen Meteor. Sie will für ihren Geheimbund die Macht über die neuen Eigenschaften des Meteors erlangen und hypnotisiert u. a. einen belgischen Chemiker namens Dumascu. Dieser assistiert Werndt bei seinen Experimenten, hinterträgt aber seiner „Herrin“ jedes kleinste Fitzelchen Information, das er finden kann. Und es gibt noch weitere Spione …

Im Meteor findet Werndt nicht nur Nickel, Platin, Gold usw., sondern auch ein mysteriöses Element, das sich sehr seltsam verhält. Er nennt es Nihilium, das Nichts, den Grundstoff aller Elemente. Das Verhalten ist sowohl ansaugend als auch abstoßend, wenn aus Nihilium I die zweite Variante Nihilium II wird. Erst nach zwei verhängnisvoll verlaufenden Experimenten wird Werndt klar, was Nihilium kann: ein Element in ein anderes umwandeln! Es ist praktisch der von den mittelalterlichen Alchemisten gesuchte „Stein der Weisen“. Damit könnte sich der Mensch zum absoluten Herrscher der Welt, wenn nicht des Universums aufschwingen!

Doch da schlägt die „Herrin von Indien“ zu. Sie entführt Mabel, Dr. Nagel und Werndt, will die beiden Männer sogar den Geiern zum Fraß vorwerfen, wenn sie nicht kooperieren. Unterdessen unternimmt ihr Scherge ein Experiment mit dem Meteor, dessen Verlauf nicht nur das Labor, sondern auch die benachbarte Stadt in Schutt und Asche zu legen droht. Denn mit Nihilium ist nicht zu spaßen. Kann Werndt die drohende Katastrophe verhindern?

_Mein Eindruck_

Der Roman ist in zwei Teile aufgegliedert. Der erste Teil endet mit der oben erwähnten Katastrophe und der Enthüllung der phänomenalen Eigenschaften des Nihiliums. Der zweite Teil dreht sich lediglich darum, zum großen Bruchstück des Meteors hinabzutauchen – ein Wettlauf mit der „Herrin von Indien“. Weil das Stück aber in zehntausend Metern Tiefe liegt, muss man neue Tauchboote bauen, die einem Druck von tausend Atmosphären standhalten.

Dieser zweite Teil erinnerte mich an Jules Vernes Erfindung des U-Bootes „Nautilus“, aber Walter Werndt ist zwar ein Genie wie Kapitän Nemo, doch weit entfernt davon, ein ebensolcher Misanthrop zu sein. Er ist immer wieder auf die moralische Unterstützung durch Dr. Nagel und dessen Mabel angewiesen, die mit ihm zusammen in die tödliche Tiefe tauchen. Dort bekommen sie es mit einem Riesenkraken zu tun, der sie angreift, sowie mit dem gewaltigen vertikalen Strudel, den das Nihilium erzeugt.

Das wäre für die Welt nicht weiter relevant, wenn es nicht eine neue Erfindung gäbe: den Bildtelegrafen bzw. Kinographen. Dieser liefert den Zuschauern in Kinosälen rund um die Welt eine Live-Übertragung aus dem Inneren von Werndts Tauchboot, dem „Krakon“. Und da das Publikum des Jahres 1923 nicht an Live-TV gewöhnt ist, nimmt es direkten und emotionalen Anteil an Werndts Begegnung mit dem Riesenkraken, dem Strudel und dem Tauchboot der „Herrin von Indien“.

Hier führt der Autor quasi die vielen Erfindungen fort, die Jules Verne schon in seinem Roman „Paris im 20. Jahrhundert“ vorausgesagt hatte, so etwa das Faxgerät und das Telefon. Doch wer Sprache und Texte übertragen kann, der wird sicher auch irgendwann Bilder übertragen können, und zwar über Relaisstationen, die Funk empfangen und die Signale in alle Welt weiterleiten können.

Der spannendste Teil des Romans ist sicherlich die erste Hälfte, die sich hinsichtlich Spannung und Anschaulichkeit mit Verne und Karl May messen kann. Hier führt der Autor die deutlich ausgeprägte deutsche Science-Fiction-Tradition im besten Sinne fort, die mit Pionieren wie Kurd Laßwitz, Otto Gail, F. W. Mader und Thea von Harbou („Metropolis“, „Die Frau im Mond“) damals die Gazetten und Bibliotheken beherrschte, Jahre bevor in den USA ein gewisser Hugo Gernsbach, ein Einwanderer aus Luxemburg, das Genre „Scientifiction“ erfand.

Der zweite Teil hat mich dadurch gelangweilt, dass der Autor seinen Helden die Vorzüge des Tauchbootes bis ins kleinste technische Details vorstellen und erklären lässt. Das ist für einen Nichttechniker extrem öde, zumal sich der Sermon über Seiten hinzieht. Am Schluss gibt es keinen Showdown – mit wem auch? – sondern eine Art Non-Event, bei dem Werndt verschwindet – für immer? Jedenfalls gab es keine Fortsetzung.

|Schwächen dieser Ausgabe|

Wie der Autor des Nachworts, Michael Gallmeister, angibt, handelt es sich bei der vorliegenden Ausgabe um die bearbeitete Fassung einer Originalausgabe aus dem Jahr 1923, die sich in der Phantastischen Bibliothek Wetzlar befindet. (Diese ehrwürdige Institution verleiht jedes Jahr einen wichtigen Preis für phantastische Literatur aus deutschen Landen.) Die gekürzte Fassung ist also schon von störenden Elementen bereinigt, doch die Bearbeiterin Dr. Sandra Schlee hätte vielleicht doch einen Korrektor zu Rate ziehen sollen, um wenigstens die gröbsten orthographischen und Druckfehler auszubügeln.

Doch ich will nicht mit einer Liste von Fehlern langweilen, die von hier bis zum Nordpol reichen würde. Es soll genügen zu erwähnen, dass mich das an der Lektüre recht gestört hat.

Merkwürdig ist auch die Handhabung des Englischen, das besonders im zweiten Teil stark in den Vordergrund tritt. Eine amerikanische Künstlerin ruft ständig „Oah!“ aus. Das habe ich noch keinen Amerikaner sagen hören. Deshalb kann ich nur annehmen, dass es die lautmalerische Annäherung ist, die sich der Autor für das englische „Oh!“ ausgedacht hat. Andernfalls würde „Oah!“ einfach zu lächerlich klingen.

_Unterm Strich_

Im Zuge der Literaturarchäologie und Traditionspflege ist auch dieser interessante Zukunftsroman ans Tageslicht gefördert worden: Er fand sich in der (in jeder Hinsicht) „Phantastischen Bibliothek Wetzlar“ und wurde, nach der sprachlichen Überarbeitung, von einem rührigen Verlag in Weilersbach veröffentlicht. Dort ist auch der Vorgängerband „Panik““ (siehe oben unter „Autor“) zu bekommen. Der vorliegende Band wurde mit einem sehr ansprechenden, modern aussehenden und zum Thema passenden Titelbild versehen.

Die erste Hälfte des Romans fand ich sehr gelungen und erinnerte mich in Spannung, Einfallsreichtum und Lokalkolorit an die besten Arbeiten von Jules Verne und Karl May. Die zweite Hälfte fällt dagegen etwas ab, doch auch hier erregte die Erfindung des Live-Fernsehens mein Interesse. Leider bleibt der Schluss offen – ein Kniff des Autors, um eine Fortsetzung der Trilogie nicht auszuschließen, aber den vorliegenden Roman doch mit einem Ausklang zu versehen, der hoffen lässt – z. B. auf Abenteuer im Weltraum.

Wenn ich als Korrektor für diese Ausgabe verantwortlich wäre, müsste ich mich erschießen. Der Text wimmelt nur so von haarsträubenden Fehlern, unter denen falsch geschriebene Wörter noch die harmlosesten sind. Es gibt auch falsch eingesetzte Wörter, wie etwa „um“ statt „und“. Manche Wörter sehen aus wie frisch aus dem Scannerprogramm (mit „rn“ statt „m“). Von einer professionellen Bearbeitung wage ich kaum zu sprechen. Unter diesem Aspekt ist der Ladenpreis für das Buch zu hoch angesetzt.

http://www.celero-verlag.com/
[Unsere Rezensionen zu „Panik“ 1107 (Michael Matzer & Dr. Michael Drewniok)