Ellison, Harlan (Hg.) / Rodman / Dick / Niven / Leiber / Hensley / Anderson / Bunch / u. a. – Dangerous Visions 2

_Es ist nicht alles Gold, was glänzt_

Aus der gesamten umfangreichen Anthologie „Dangerous Visions“, die 1967 erschien und 1969 auf drei Einzelbände aufgeteilt wurde, stellt dieses Buch Teil 2 dar. Die Anthologie startete zusammen mit dem britischen Magazin und diversen Herausgebern die SF-Welle, die heute als „New Wave“ bekannt ist. Selten kommen Raumschiffe und andere Accessoires vor, sondern der Schwerpunkt liegt auf irdischen Vorgängen und auf einem innovativen Erzählstil.

Dieses Buch enthält als Glanzlicht eine der besten Storys von Philip K. Dick: „Faith of Our Fathers“ (Glaube unserer Väter).

_Der Herausgeber_

Harlan Ellison, geboren 1934 in Ohio, machte bereits früh im Fandom von Cleveland, Ohio, und New York City (ab 1955) von sich reden, schrieb höchst provokative und innovative Storys und veröffentlichte 1967 mit „Dangerous Visions“ eine der wichtigsten SF-Storysammlungen überhaupt. Die Anthologie, der er weitere folgen ließ, erhielt vier wichtige SF-Preise und zog nicht nur deshalb große Aufmerksamkeit auf sich. Es sind vor allem die „gefährlichen Visionen“, mit denen er Widerspruch herausforderte – und mehr als genug bekam.

Ellison war ein enger Freund von Robert Silverberg und zunächst auch von Philip K. Dick, denn beide fingen wie er in den fünfziger Jahren zu schreiben an und halfen sich gegenseitig. Mit Dick zerstritt er sich später – das wird in Lawrence Sutins Dick-Biografie „Göttliche Überfälle“ (1989) haarklein erklärt und ist sehr lesenswert – für SF-Fans.

Ellison ist einer der seltenen SF-Autoren, die sich schon früh, lange vor dem Cyberpunk John Shirleys („Stadt geht los“, 1980) und William Gibsons ([„Neuromancer“, 521 1984), für die amerikanische Großstadt als Themenfeld interessierten. Er sammelte zehn Monate lang praktische Erfahrungen als Bandenmitglied der „Barons“ in Brooklyn und verarbeitete sie wiederholt in seinen Werken, u. a. in „Rumble“ (1958).

Nach dem Wehrdienst lebte er in Chicago und ab 1962 in Los Angeles, wo er blieb. 1963 gelang es ihm, sich als TV-Drehbuchschreiber zu etablieren und seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Dabei schrieb er die Star-Trek-Episode „City on the Edge of Forever“ (1967), für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. Er entwickelte eine eigene SF-Serie, „The Starlost“, die auf einem Generationraumschiff spielte. Sie wurde allerdings in Kanada produziert und das Skript derart massiv verändert, dass er seinen Namen zurückzog. Dennoch wurde er für das O-Skript ausgezeichnet. Die Serie überstand nur eine Season. In Ben Bovas Schlüsselroman „The Starcrossed“ (1975) lässt sich die ganze Affäre nachlesen.

„Deathbird Storys: A Pantheon of Modern Gods“ (1975, revidiert 1984) ist eine der wichtigsten Storysammlungen Ellisons, doch wer die ultimative Form aller seiner Erzählungen – es sind mehrere hundert! – lesen will, sollte zu „The Essential Ellison: A 35-Year Retrospective“ (1987) greifen. Seine Story „A boy and his dog“ wurde 1975 mit Don Johnson in der Hauptrolle verfilmt.

1967 erschien „Dangerous Visions“ und 1973 „Again Dangerous Visions“. (Die dritte Anthologie, „Last Dangerous Visions“, war lange in der Planung und bis 1992 noch nicht veröffentlicht.) Diese Bücher ragten aus der Masse heraus, weil sie erstens ausgezeichnetes literarisches Material enthalten und zweitens wegen der persönlichen (und mitunter umstrittenen) Einführungen Ellisons. Dicks Story „Faith of Our Fathers“ soll nach Ellisons Worten unter dem Einfluss der populären Kultdroge LSD geschrieben worden sein. Dagegen verwahrte sich Dick aufs heftigste, denn er nahm nie LSD oder ähnliche harte Drogen, sondern lediglich Amphetamine und Antidepressiva.

Jede der Storys ist mit einem mal längeren, mal kürzeren Nachwort des Autors abgeschlossen. Außerdem gibt es eine Illustration zu jeder Story – alles in allem ein immenser Aufwand, der dem Herausgeber hinsichtlich seiner Gesundheit einen hohen Zoll abverlangte. Ab 1970 schrieb er daher weniger, aber deshalb keineswegs schlechter.

_Die Erzählungen_

1) _Howard Rodman: The Man who went to the Moon – twice_

Marshall Kiss wird von einem Ballon, den man ihm auf dem Dorfjahrmarkt schenkte, davongetragen. Nachdem er wieder zurückgekehrt ist, behauptet er, er wäre auf dem Mond gewesen. Sofort erfahren die Nachbarn davon, dann die Reporter, dann der Bürgermeister. Aber niemand kritisiert ihn oder macht sich über ihn lustig, obwohl einer der Reporter das gerne tun würde. Aber Marshall sieht zu unschuldig aus.

Das war, als Marshall neun war. Jetzt, im Alter von neunzig, will niemand in seinem Städtchen mehr etwas von ihm wissen, und es gibt ja auch niemanden mehr, der ihn kennt. Er behauptet also, er wäre gerade vom Mond zurückgekehrt, doch der Einzige, der ihm das glaubt, ist ein kleiner Junge. Kein Wunder, denn die Rakete zum Mars fliegt mittlerweile dreimal am Tag. Und als der Junge Marshall still und leblos im Bett liegen sieht, meint er, jetzt müsse er wohl zum dritten Mal auf dem Mond sein.

Die wie ein Märchen erzählte Story beleuchtet den Einfluss der rasanten technischen Entwicklung auf das Leben des Einzelnen im 20. und 21. Jahrhundert. Deshalb macht es im Grunde nichts aus, dass Marshall Kiss niemals den Mond erreicht hat. Er hätte genauso gut „Tahiti“ sagen können.

2) _Philip K. Dick: Faith of Our Fathers (1967)_

Dick verknüpft in einer seiner anstoßerregendsten Visionen den Sieg des Kommunismus über die westlichen USA, halluzinogene Drogen, Sex und Theologie. Dennoch ist die Story von A bis Z völlig verständlich geschrieben und wirkt keineswegs abgehoben.

Hauptfigur ist der kleine Parteifunktionär Tung Chien, der in einem Schmalspurministerium in Hanoi (Nord-Vietnam) Dienst tut. Von einem Straßenhändler bekommt er ein Anti-Halluzinogen, das, wie ihm eine hübsche junge Frau namens Tanya Lee mitteilt, die Realität, wie sie wirklich ist, zeigt. Die Partei füge nämlich dem Leitungswasser täglich und überall Halluzinogene bei.

Und so kommt es, dass Tung Chien die persönliche Fernsehansprache, die der Unumschränkte Wohltäter als oberster Parteivorsitzender an ihn richtet, auf völlig andere Weise wahrnimmt als gedacht: nämlich als einen rasselnden Mechanismus, aus dem Scheinfüßchen hervorwachsen. Tanya Lee vom Untergrund hat etwas ähnlich Furchterregendes gesehen.

Nachdem sie ihm geholfen hat, eine dogmatische Prüfung durch Parteibonzen zu bestehen, wird Tung zur Villa des Unumschränkten Wohltäters eingeladen, der sich vor Ort „Thomas Fletcher“ nennen lässt. Doch Tung sieht sein Erscheinen unter dem Einfluss des Anti-Halluzinogens ganz anders: als gottähnlichen, substanzlosen, aber kannibalischen Alien. Und dieser hat ein Wörtchen mit Tung zu reden …

Allein schon die Vorstellung, die Chinesen könnten einen Krieg gegen die USA gewinnen und diese zur Hälfte (der Rest leistet noch Widerstand) unter ihr kommunistisches „Joch“ gezwungen haben, war 1967, während des Vietnamkrieges ein Gräuel. Dass Dick obendrein auch noch die Natur (eines/des) Gottes erörterte und den christlichen Glauben in Zweifel zog, war geradezu Blasphemie. Außerdem kommen in der Story noch Drogenkonsum und Sex vor, also all das, was die Hippies praktizierten und ihre Eltern schockierte. Für uns heute ist die Story vor allem hinsichtlich der theologischen Erörterung interessant, da sich alle anderen Streitpunkte erledigt oder relativiert haben.

3) _Larry Niven: The Jigsaw Man_

Warren Lewis Knowles sitzt in seiner Zelle und weiß, dass man ihn zum Tode verurteilen wird. Dabei bestand sein Verbrechen nur darin, ein paarmal rote Ampeln und Geschwindigkeitsbegrenzungen zu überschreiten. Es ist ungerecht, findet er. Finden seine beiden Zellennachbarn auch. Einer ist ein Organräuber, der andere, ältere dessen Auftraggeber: ein Arzt, der mit Organen handelt. Die Todesstrafe sieht also so aus, erfährt Lewis, dass ihm seine Organe entnommen und diese der Medizin zur Verfügung gestellt werden – besser als die herkömmliche Todesstrafe, oder?

Als der Arzt eine implantierte Bombe zündet, erblickt Lewis seine Chance, aus dem Gefängnis zu entkommen. Doch das Schicksal hält eine weitere Überraschung für ihn bereit …

Mit dazwischengeschalteten essayistischen Passagen polemisiert der Autor gegen das hier von ihm fiktiv in Aussicht gestellt Strafverfahren. Er hält Organbanken bereits im Jahr 1967 für eine unausweichlich kommende Einrichtung – und er sollte recht behalten. Aber mit der Umwandlung der Todesstrafe zur Auschlachtung ist es noch nicht so weit. Kommt wohl noch.

4) _Fritz Leiber: Gonna roll the Bones_

Bergarbeiter Joe Slattermill lebt in seinem heruntergekommenen Haus zusammen mit seiner dominanten Mutter und seiner nörgelnden Frau, die ihn beide unter ihrer Fuchtel haben. An diesem speziellen Abend fällt ihm praktisch die Decke auf den Kopf und er muss raus. Also geht er in die nahe Siedlung Ironmine, wo ihn das Glücksspiel im Saloon „The Boneyard“ reizt. Und zwar nicht nur die Aussicht auf Gewinne, sondern auch der reizvolle Anblick von halbnackten Girls, die die Spieler mit Wechselgeld und Drinks bedienen und sich um die Würfel am Crap-Tisch kümmern.

Doch dann fällt sein Blick auf den größten und gefährlichsten Spieler von allen. Er ist ganz in Schwarz gekleidet, und sein Gesicht ist unter dem Schlapphut kaum zu erkennen. Seine Augenhöhlen sehen irgendwie leer aus, wie die eines Totenschädels … Und ganz sicher ist er auch bewaffnet. Wie jeder Spieler (und viele der Girls).

Jeder andere Mensch hätte vielleicht bei diesem Anblick Schiss bekommen. Doch nicht Joe Slattermill, ein Yankee von echtem Schrot und Korn. Außerdem hat er selbst ein ungewöhnliches Talent. Manche nennen es Telekinese, Joe nennt es nur „die Kraft“. Jedenfalls gewinnt Joe, bis ihm der irre Gedanke kommt, es mit der „Kraft“ des Mannes in Schwarz aufnehmen zu wollen. Es dauert nicht lange, bis ihn dieser herausfordert: „Joe Slattermill, du hast ausgeschissen. Aber du hast noch einen Einsatz zu machen: dein Leben.“

Diese wundervoll stilecht erzählte und äußerst bekannte SF-Geschichte steht in der uramerikanischen Tradition der „tall story“: der Hochstapler-Geschichte. Sie ist hoch angesehen, denn natürlich weiß jeder, dass sie nicht wahr sein kann, weshalb das Vergnügen an ihr umso größer ist, je irrer sie erzählt wird. Sie funktioniert also wie ein sehr langer Witz. Aber Joe, unser Held, hat es diesmal mit dem Tod selbst zu tun. Diese Figur steht in der Tradition des „bogeyman“, des spukigen Buhmanns. Tatsächlich stellt sich der Spielsalon als eine Version der Hölle heraus, mit all den hübschen und hässlichen Insassen als Vampire (die Girls!) und Geister. Aber Joe gewinnt nicht nur sein Leben zurück, sondern auch die Freiheit von der Tyrannei der Frauen zu Hause. Und auf diese Weise wirkt die Story nicht nur spannend, unterhaltsam, völlig überdreht, sondern auch befreiend auf den Leser.

Warum ist die Story überhaupt in einer Science-Fiction-Anthologie, wenn es doch um schwarze Magie und Geister geht, fragt sich der Leser gewiss. Nun, Joe vermutet, dass der Mann in Schwarz mit seiner gruseligen Truppe eventuell von den Sternen kommt. Ständig werden Verweise auf Raumfahrt und andere Welten eingeflochten – ein reizvoller Kontrast zu der Horror- und Fantasy-Handlung. Der Autor erklärt in seinem Nachwort, was er sich dabei gedacht hat.

5) _Joe L. Hensley: Lord Randy my Son_

Die Geschichte wird aus drei Blickwinkeln erzählt, was ihre Zusammenfassung nicht gerade erleichtert. – Randall ist der achtjährige Sohn von Ann und Sam Moore, einem Rechtsanwalt. Doch Randy ist geistig zurückgeblieben, wenn auch körperlich völlig normal. Er hat das geistige und sprachliche Niveau eines Dreijährigen. Die Enttäuschung darüber verwand seine Mutter nicht und brachte sich durch Autoabgase um. Sein Vater gibt die Schuld daran seinem Sohn, obwohl der ja nichts dafür kann.

Eine schlimme Entwicklung bahnt sich mittlerweile an. Sam hat Krebs und nur noch wenige Monate zu leben. Draußen in der Welt, eingefangen im Fernseher und verbreitet durch Lautsprecherwagen, wird der nächste Weltkrieg vorbereitet. Die Afrikaner haben eigene Atombomben. Hass breitet sich überall aus. Auch in der Nachbarschaft. Aber Randy scheint etwas dagegen zu tun, zumindest mit den Tieren versteht er sich gut.

Als der Junge mitbekommt, dass sein Vater sterbenskrank ist, unternimmt er etwas Wundervolles. Denn wie die dritte Stimme uns wissen lässt, steht Randy auf einer Stufe mit dem Buddha …

Dies ist eine recht melancholische und doch hoffnungsvolle Geschichte. Der damals 40-jährige Autor findet sich in der Figur des Sam Moore wieder. Und er gibt zu, dass es auch eine zutiefst religiöse Geschichte ist.

6) _Poul Anderson: Eutopia_

Iason Philippou ist ein Zeitreisender aus dem hellenistischen Idealstaat Eutopia. Dieser verfügt sowohl über eine aufgeklärte Philosophie wie auch über ausgezeichnete Technologie. In diesem Geschichtsverlauf starb nämlich Alexander der Große nicht 323 v. Chr. in Babylon, sondern überlebte, um sein Weltreich zu konsolidieren. Doch ein Forschungsinstitut sucht per „Panachronion“ nach alternativen Geschichtsverläufen, und so landet Iason in Westfall.

In diesem alternativen Amerika herrscht eine Vielstaaterei. Nachfahren eingewanderter Dänen leben neben denen von Magyaren (Ungarn), die sich wiederum mit Ureinwohnern vermischt haben, die hier Tyrker genannt werden. Iason hat das Pech, nicht vollständig über die Kultur der Dänen aufgeklärt worden zu sein und begeht einen Tabubruch – in Zusammenhang mit einer hübschen jungen Dame, die dummerweise die Tochter des Oberbosses ist. Er flieht vor den Dänen zu den Magyaren, erhält dort Asyl, wird wieder hinausgeworfen, landet an der Küste und kann dort bei einem Agenten wieder die Zeitmaschine benutzen.

Doch bevor er sich verabschiedet, will er wissen, was das Ganze sollte. Warum müssen wir diese alternativen Welten erforschen? Die Antwort überrascht ihn. Und das letzte Wort des letzten Satzes lässt uns grübeln, ob Eutopia wirklich die beste Alternative gegenüber unserer Welt wäre: Iason liebt Knaben.

7) _David R. Bunch: Incident in Moderan_

Eine ziemlich kurze, aber höchst ätzende Kritik des Vietnamkrieges. – Auf der Welt Moderan führen große Festungen Krieg gegeneinander. Die Festungen werden aber nicht von Menschen, sondern von Robotern aus Metall kommandiert. Der Beschuss dient jedoch nicht der Vernichtung des Gegners, sondern dem Erfüllen von Hassquoten. Je mehr Hasseinheiten erfüllt werden, desto besser.

Weil gerade zwei gegnerische Festungen defekt sind, herrscht eine höchst langweilige Feuerpause in Festung 10. Auf dem Festungswall Nr. 11 erblickt der Ich-Erzähler, ein Kommandant, ein seltsames Wesen, das sich über den plastikbedeckten Boden auf ihn zubewegt. Es ist ein Mann, einer von der fleischig-wabbeligen Sorte. Er bedankt sich dafür, dass die Festungen das Feuer so lange eingestellt haben, dass er und seine Frau ihren Sohn begraben konnten. „Danke für die Rücksichtnahme!“

Als ihm der Kommandant mitteilt, dass er von diesem Begräbnis nichts wüsste und von einer Feuerpause aus diesem Grub keine Rede sein könne, bricht der Mann weinend zusammen. Das nervt den Roboter, und als man ihm signalisiert, dass der feindliche Beschuss gleich wieder losgehen werde, warnt er den Menschen. Der aber rührt sich nicht. Bis ihn die erste Zump-Bombe in Fetzen sprengt. Warum bloß hat er sich nicht gerührt, fragt sich der Kommandant, als er die ersten Feuerknöpfe betätigt, um den Beschuss zu erwidern.

8) _David R. Bunch: The Escaping_

Dies ist eine ungewöhnlich literarische Story, die mich an Hemingway und moderne Klassiker wie Joyce erinnert. Der Ich-Erzähler ist ein recht ungewöhnliches Individuum – ob ein Mensch, ist unklar. Auf jeden Fall aber scheint er sich nach einer Traum- oder Fantasiewelt zu sehnen, in der ein Ei vorkommt, das hoch oben am Himmel schwebt – im Gegensatz zu ihm, der durch Ketten an die banale Wirklichkeit nörgelnder Eierköpfe gefesselt ist.

Wie der Autor, ein Angehöriger der US-Luftstreitkräfte, in seinem Nachwort erklärt, geht es in beiden seiner Storys um Wahrheit. Der Kommandant in Moderan ist eins mit seiner Wahrheit vom ewigen Krieg, doch der Träumer in „The Escaping“ sucht diese Wahrheit erst noch zu erlangen, eventuell durch Flucht in eine Fantasiewelt.

9) _James Cross: The Doll-House_

Jim Eliot hat sich in jeder Hinsicht übernommen. Er ist lediglich Investmentverwalter bei einer Bank, lebt aber in einem teuren Haus, mit einer Frau (Julia) aus einer höhergestellten Familie und zwei ebenso teuren Kindern. Er braucht dringendst Geld, am besten vorgestern. Letzter Ausweg: ein Bettelgang zu Julias altem und leicht verrücktem Onkel John. Der Alte bietet ihm kein Geld an, was schon übel ist, aber dafür ein verspätetes Hochzeitsgeschenk: ein Puppenhaus, das eine klassische Pompejanische Villa darstellt. Was für ein Schrott, denkt Jim.

Doch die Villa habe es in sich. In ihr sitze ein antikes Orakel: die Sibylle von Cumae, von der schon Petronius schrieb. Und sie sei unsterblich, solange man sie mit Milch und Honig füttere. Die Kommunikation erfolgt mit kleinen Zetteln, die am Tag danach beantwortet werden, aber meist in Latein geschrieben sind. Der skeptische Jim lässt sich durch Tests von der Funktionsfähigkeit des Orakels überzeugen und wird vor Fehlinvestitionen bewahrt. Er kann auch einige seiner Schulden zurückzahlen, wenn auch längst nicht alle. Als er das Orakel, eine winzige alte Frau, zwingt, mit ihm auf Englisch zu kommunizieren, rächt sie sich auf eine höchst perfide Weise.

Moral von der Geschicht‘: Schau einem geschenkten Gaul nie ins Maul!

10) _Carol Emshwiller: Sex and / or Mr. Morrison_

Mr. Morrison ist der fette Mieter, der im Stockwerk über ihr wohnt, und so pünktlich und geräuschvoll, wie er geht und zurückkehrt, kann sie die Uhr nach ihm stellen. Doch sie, die Ich-Erzählerin, ist viel mehr daran interessiert, wie ein Mann „da unten“ aussieht. Sie hat nie geheiratet und ist immer noch Jungfrau, hat die besten Jahre wohl auch schon hinter sich. Doch so klein wie sie ist, kann sie sich sehr gut unter Mr. Morrisons Schreibtisch verstecken oder in seinem Kleiderschrank, zwischen den riesigen Hemden. Und da kommt er auch schon und zieht sich aus, während sie gespannt aus ihrem Versteck zuschaut …

Eine seltsame Story, die nur vom inneren Monolog der Erzählerin getragen wird. Es findet zwar kein Sex statt, aber das scheitert nicht an Mr. Morrison.

11) _Damon Knight: Shall the Dust praise Thee?_

Am Tag, nachdem die Bomben gefallen sind, steigt der Herrgott Jehovah mit seinen sieben Erzengeln auf die Erde hinab. Es ist der Tag der Apokalypse und sie haben die Strafen auszuteilen, über die ein gewisser Johannes in seinem Buch der Offenbarung schrieb. Doch zu ihrer aller Verwunderung ist die Erde wüst und leer. Und weder Feuer noch Sturm richten irgendwelchen Schaden an. Da es kein Wasser in den Ozeanen, Seen und Flüssen mehr gibt, ist es auch mit der Sintflut Essig. Da findet einer der Engel in den Trümmern eines Bunkers ein Schild: „We were here. Where were you?“

Eine seltsame Frage, könnte man meinen, wenn man Atheist ist. Aber für einen Gläubigen ist es eine wichtige und relevante Frage. Wo wird Gott am Tag des Jüngsten Gerichts sein?

_Unterm Strich_

Um es kurz zu machen: Bis auf Dicks provokante Story „Faith of Our Fathers“ und Leibers wundervolles „Gonna roll the Bones“ (das etliche Preise einheimste) – allenfalls noch „Europia“ von Anderson – kann man diese Sammlung heute vergessen. Es gibt bessere und provokativere Storys. Vielleicht halten die anderen beiden Bände von „Dangerous Visions“ bessere Beiträge bereit.