Loren D. Estleman – Blutiger Herbst

1881 brechen die Brüder Earp und Doc Holliday in Tombstone eine Schießerei vom Zaun, die drei Opfer fordert. Estleman offenbart hässliche Wahrheiten hinter der Legende und schildert die gar nicht ‚heldenhaften‘ Sieger vom OK-Corral als frühe Vertreter des organisierten US-Verbrechens: kein „Western“, sondern ein spannender Historien-Krimi aus einem zwar wilden aber niemals nostalgisch verklärten Westen.

Das geschieht:

Seit sich die fünf Brüder Earp im Sommer des Jahres 1880 in der jungen „boom town“ Tombstone im US-Staat Arizona angesiedelt haben, bemühen sie sich, zu Einfluss und Geld zu kommen. Sie erwerben Grundstücke sowie Anteile an Minen, Saloons und Glücksspiel-Tischen, Virgil wird Marshall, Wyatt Deputy Marshall. Für das korrupte Establishment lassen sich die Earps als Schläger anheuern, die unerwünschte Mitbürger so lange terrorisieren, bis diese Tombstone verlassen. Stets gehen die Brüder notfalls gewaltsam vor. Ihnen zur Seite steht John Henry „Doc“ Holiday, ein todkranker Zahnarzt, der nun als Glücksspieler sein Geld verdient.

Doch im Intrigenspiel um die Macht in Tombstone drohen die Earps zu unterliegen. Wyatt lässt sich bei der Wahl des Sheriffs über den Tisch ziehen. Er lauert auf die Gelegenheit, es dem verhassten Konkurrenten heimzuzahlen. Gefährlicher wird den Brüdern jedoch ein mysteriöser Postkutschenüberfall im März 1881, in den womöglich Doc Holliday involviert ist. Wyatt, der sich erneut als Sheriff zur Wahl stellen will, kann dies politisch schaden. Er heuert den Cowboy Ike Clanton an, der mit seinen Brüdern und einigen Kumpanen drei Sündenböcke jagen und ausschalten soll.

Der Coup misslingt und trägt den Earps die Feindschaft der Clantons ein. Ike droht zudem, Wyatts Kuhhandel öffentlich zu machen. Die Earps reagieren drastisch. Im Spätsommer 1881 stoßen sie und Doc Holliday die Clanton-Sippe und deren Freunde systematisch vor die Köpfe, demütigen und bedrohen sie und versuchen, eine Schießerei zu provozieren. Als dies nicht funktioniert, lassen die Earps die Masken fallen. Am 26. Oktober treiben sie ihre Widersacher in die Enge und schießen sie nieder. Aber sie haben den Bogen überspannt. Zwar können sich die Earps dem Gesetz entziehen, doch ein wütender Ike Clanton setzt sich auf ihre Fährte, um seine Familienehre auf gute, alte, brutale Western-Art wiederherzustellen. In Tombstone bricht ein Unterweltkrieg aus, der dieses Mal auch von den Earps seinen Blutzoll fordert …

Die Wahrheit ist weniger glorreich

Mit „Blutiger Herbst“ will uns Loren D. Estleman keine der üblichen Geschichten aus dem Wilden Westen erzählen. Auf strahlende Helden unter weißen Hüten, die schlecht rasierten Schurken Mores lehren, müssen wir verzichten. Die erste Seite gibt den Grundton vor: Doc Holiday hustet wie an jedem Morgen beim Erwachen blutige Fetzen seiner tuberkulosezersetzten Lungen aus.

Auf diese Weise geht es denkbar düster weiter. Betrug, Bestechlichkeit, Brutalität, Gesetzeshüter, die mit mindestens einem Bein fest im Rotlichtmilieu stehen: „Blutiger Herbst“ ist ein Kriminalroman, der nur geografisch im „Wilden Westen“ spielt. Autor Estleman zieht zwischen dem Kampf in Tombstone eine direkte Verbindungslinie zum organisierten Verbrechen des 20. Jahrhunderts, dessen Entwicklung er in weiteren Romanen verfolgt und kommentiert hat.

Noch ist es nicht die Mafia, die hinter den Kulissen die Fäden zieht. Die „boom towns“ in der Grenzregion einer noch wandernden aber bald die US-Westküste und damit ihr natürliches Ende erreichenden „frontier“ ziehen ein schillerndes Unterwelt-Völkchen an, das dort, wo das Gesetz sich erst zu manifestieren beginnt, recht unverhohlen seinen Geschäften nachgehen kann. Die fehlende Kommunikation zwischen den Städten verhindert eine überregionale ‚Zusammenarbeit‘, schützt aber auch vor den Folgen, wenn es brenzlig wird: Meist reicht es, in eine andere Stadt umzusiedeln. Aus den Augen, aus dem Sinn: Nach dieser Devise handelt auch die Justiz.

Geschäftsleute der besonderen Art

In dieser noch nischenreichen Welt haben die Earps ihre Jagd nach dem Glück eröffnet. Sie machen sich keinerlei Illusionen, den Aufstieg mit ‚ehrlicher‘ Arbeit zu schaffen. Stattdessen pfeifen sie auf Recht und Moral und verlassen sich nur auf die Familie. Nicht einmal ihre Frauen sind wirklich in den Kreis der fünf Brüder aufgenommen, die unermüdlich versuchen, sich zumindest als Halbwelt-Größen zu etablieren. Die Earps sind Verbrecher einer neuen Generation: „Brüder …, die zusammenarbeiten wie Teile einer Maschine, die einen Apfel von jedem Baum im County pflückte, von der Prostitution über das Spiel bis zu Waldbesitz und Schürfrechten, und sie trugen Abzeichen, damit sie offiziell ihre Waffen einsetzen konnten, um die Ernte zu schützen.“ (S. 245)

Vor allem Wyatt Earp ist ein skrupelloser Zeitgenosse. Doc Holliday hat er 1878 in Dodge City kennengelernt. Der Spieler rettete ihm bei einer bewaffneten Auseinandersetzung das Leben. Er wurde Earps Freund und folgte ihm später nach Tombstone. Dort profitieren auch die Earps von Hollidays üblem Ruf. Der ehemalige Arzt weiß, wie es um ihn steht. Dies macht ihn doppelt gefährlich: Holliday ist ein Mann, der nichts zu verlieren hat. In den Kampf am OK-Corral lässt er sich nicht nur ziehen, weil er mit den Earps freundschaftlich verbunden ist; er hofft auf einen schnellen Tod durch eine Kugel, die er der schleichenden, elenden Qual vorzieht, die ihn allmählich ersticken lässt.

Das große Abschlachten

Sowohl die Earps als auch Holliday sind Profis, die nicht nur den Umgang mit der Waffe gewohnt sind, sondern auch während einer Schießerei kühle Köpfe bewahren. Fairness im Kampf ist für sie gleich Dummheit, weshalb sie im Gefecht unbewaffnete Gegner schätzen und Schrotflinten einsetzen. Vor allem deshalb endet die Auseinandersetzung hinter einem Mietstall auf Fly’s Alley in Tombstone, US-Staat Arizona, am frühen Nachmittag des 26. Oktobers 1881 nach 30 Sekunden für die Brüder Frank und Tom McLaury sowie für Billy Clanton tödlich. Estleman zitiert ausführlich aus den Obduktionsberichten. Sie verraten, dass die drei Männer gut gezielt und mit ruhigen Händen förmlich in Stücke geschossen wurden. Holliday sowie Virgil und Morgan Earp waren nur leicht verwundet, Wyatt Earp blieb gänzlich unverletzt.

Für Estleman steht fest, dass die Schießerei am OK-Corral eine inszenierte Hinrichtung war. Er zeichnet den Weg dorthin detailreich nach. Manchmal verlässt er dabei den Boden der etablierten Geschichtsschreibung, setzt die dichterische Freiheit aber generell im Rahmen gesicherter Fakten ein, was er in einem ausführlichen Nachwort erläutert.

Dabei schildert Estleman die Clantons, die McLaurys und die anderen „San-Diego-Cowboys“ keineswegs als unschuldige Opfer. Sie jagen als „Greaser“ – eine Mischung aus Viehzüchter und Viehdieb – im Grenzland zu Mexiko ihren eigenen Zipfel der Wurst. Zu Feinden der Earps werden sie erst, als sie deren kriminelle Wege kreuzen; es gibt Fotos, auf denen diverse Earps, Clantons und McLaurys miteinander zechen. Zudem entwirft Estleman eine zweite Verschwörung, die wiederum die Earps als manipulierte Killer im unfreiwilligen Dienst eines geschickten Greasers namens John Peter „Ringo“ Ringgold zeigt.

Die ‚Helden‘ als zwielichtige Gestalten

Die hässliche, von der Legende dezent überrollte Geschichte des Blutherbstes von 1881 wird von Estleman historisch kundig thematisiert. Auf einer zweiten Ebene erzählt Estleman die Geschichte von Freunden und Familien. Die Earps sind Brüder, Doc Holliday ist ihr Freund. Am OK-Corral sterben nicht sämtliche Clantons; Bruder Ike kann flüchten und eine Rache-Fehde anzetteln. Familie und Fehde: Die Parallelen zu den Bandenkriegen der 1920er und 30er Jahre sind bereits augenfällig. Ebenso deutlich wird: Schon ein halbes Jahrhundert zuvor hat das sich organisierende Verbrechen die Stadt als ideales ‚Arbeitsfeld‘ entdeckt.

Im Kampf um Macht und Geld wird Pardon weder gegeben noch erwartet. Die Earps sind aufeinander und auf ihr Ziel fixierte, kaltblütige und auch kaltherzige Aufsteiger. Mehrfach illustriert Estleman dies, indem er die Lebensgeschichten der Frauen an ihren Seiten erzählt. Er entwirft das deprimierende Bild einer Ära, in der Frauen kaum jemals selbstständig, sondern von Männern abhängig sind, die sie betrügen, schlagen und verlassen können, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden. Die Lebensgemeinschaft wird zur Zweckgemeinschaft auf Zeit, die freilich immer noch besser als die ‚Alternative‘ – die Prostitution oder die Plackerei auf einer schäbigen Farm – ist. Hollidays duldsame Gefährtin Mary Katharine „Big Nose Kate“ Haroney muss sich noch 80-jährig als Haushälterin verdingen. Celia Ann „Mattie“ Blaylock, die acht Jahre an Wyatt Earps Seite aushielt, nimmt sich 38-jährig verarmt und verbittert im Juli 1888 das Leben.

Tombstone und die Folgen

Estleman lässt seinen Roman im letzten Viertel in eine akkurate historische Rekonstruktion der Ereignisse nach 1881/82 münden. Er folgt seinen Figuren in das 20. Jahrhundert und belegt, dass deren Schicksale keineswegs mit dem Ende des „Wilden Westens“ zu verknüpfen sind. Sowohl die Earps als auch ihre Kontrahenten trieben es weiterhin bunt und kriminell. Sie starben oft aber nicht immer gewaltsam; so hauchte Wyatt Earp sein Leben erst 1929 und in seinem Bett aus; zuletzt verdingte er sich als ‚Berater‘ für Hollywood-Western.

Das Leben ging weiter und über die Ereignisse vom Oktober 1881 hinweg. Estleman kommt zu dem Schluss, dass dieser ‚Kampf“ „nichts anfing oder beendetet, sondern nur ein Scharmützel von dem war, was einige Experten als den ersten wahren Bandenkrieg in der amerikanischen Geschichte bezeichnen“ (S. 277). Von dieser Realität löst er sorgfältig die Legende; auf den letzten Seiten beschreibt Estleman einen Besuch im Tombstone der Gegenwart (von 1987) und zeichnet das Bild einer Stadt, die gut von den Geistern der einst verdammten „Revolverhelden“ lebt und deren Taten für Touristen mehrfach täglich auf offener Straße nachspielen lässt. So schließt sich der Kreis, wie er sich einst geöffnet hat: als Sammlung kolportierter Lügen, die noch zu Lebzeiten der Beteiligten zu Legenden aufpoliert wurden.

Autor

Loren D. Estleman wurde 1952 im US-Staat Michigan geboren, wo er noch heute – seit 1993 verheiratet mit der Schriftstellerin Deborah Morgan – lebt. Er war gerade 15 Jahre alt, als er seine erste Kurzgeschichte verfasste, für die er angeblich in acht Jahren 160 Ablehnungen kassierte. 1974 schloss er die Eastern Michigan University mit einem „Bachelor of Arts“ in Englischer Literatur und Journalismus ab.

Schon früh beschloss sich Estleman als professioneller Schriftsteller zu versuchen. Zu den literarischen Merkwürdigkeiten seiner frühen Jahren gehören Werke wie „Sherlock Holmes vs. Dracula“ (1978) oder „Dr. Jekyll and Mr. Holmes“ (1979). Ab 1980 schrieb er hauptberuflich.

Estleman, der sich merkwürdigerweise nicht als schneller, sondern ausdauernder Schreiber sieht, hat seit seinem Romandebüt 1976 mehr als 60 Romane und unzählige Kurzgeschichten und Artikel verfasst. Dabei beschränkte sich Estleman nicht auf historische Romane aus dem Wilden Westen. Den meisten Lesern dürfte er eher als Kriminalschriftsteller bekannt sein, dessen rabiater Held, der Privatdetektiv Amos Walker, seit 1980 im Einsatz ist.

Estleman-Geschichten wurden in viele Sprachen übersetzt. Aber auch die Kritik liebt ihn; er gilt als der mit den meisten Auszeichnungen bedachte Autor seiner Generation. Zu seinen Preisen gehören gleich drei „Shamuses“ der „Private Eye Writers of America“, vier „Golden Spurs“ der „Western Writers of America“, zwei „American Mystery Awards“ des „Mystery Scene Magazine“ und, und, und …

Taschenbuch: 282 Seiten
Originaltitel: Bloody Season (New York : Bantam Books 1987)
Übersetzung: Joachim Honnef
http://www.randomhouse.de/heyne

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