Nancy Farmer – Drachenmeer

„Drachenmeer“ – der deutsche Titel von Nancy Farmers Fantasyroman „The Sea of Trolls“ ist irreführend. Drachen spielen nämlich eine eher untergeordnete Rolle in dem Buch, und sie weisen auch keinerlei intelligente Züge auf. Sie können nicht reden, und geritten werden sie auch nicht. Vielmehr stellen sie ein Hindernis für den zwölfjährigen Jack dar, der sich auf eine gefährliche und manchmal sehr witzige Reise begibt, um seine kleine Schwester Lucy aus den Fängen der bösen Bergkönigin Frith zu befreien.

Jack ist eigentlich ein unauffälliger Junge aus einem angelsächsischen Dorf. Dennoch wird er eines Tages von dem Barden, der vor einiger Zeit in das Dorf gezogen ist, zum Lehrling ernannt. Er geht dem alten Mann zur Hand und lernt dabei, wie man mittels Erdmagie ein bisschen zaubert. Als die Nordmänner das Dorf angreifen, retten die beiden die Bevölkerung, indem sie dichten Nebel hervorrufen. Allerdings funktioniert das nur für eine Weile, und wie das Schicksal es will, fällt Jack den Berserkern schließlich in die Hände, zusammen mit Lucy, seiner verwöhnten Schwester. Sie sollen Hörige des Anführers Olaf Einbraue werden, doch als sich herausstellt, dass Jack ein Barde ist (nun ja, noch nicht ganz, aber das muss ja niemand wissen), bekommt er einen besonderen Status.

Die beiden Geschwister werden in das Land der Nordmänner entführt, wo man sie schließlich der Bergkönigin Frith vorstellt. Frith ist ein Halbtroll, das heißt, sie kann ihre Gestalt ändern, und momentan verzaubert sie alle Menschen mit ihrer übernatürlichen Schönheit. Der Barde hatte Jack vor der Königin gewarnt, denn sie war es, die ihm immer wieder einen Nachtmahr geschickt hat. In der Vergangenheit hat der Barde ihr nämlich übel mitgespielt. Als Jack aus Versehen die Schönheit von Frith zerstört, nimmt sie seine Schwester gefangen und wenn er keine Möglichkeit findet, seinen Zauberspruch rückgängig zu machen, wird Lucy der Göttin Freya geopfert. Jack macht sich zusammen mit Thorgil, einem widerspenstigen Mädchen, das gerne ein echter Berserker wäre und den Heldentod sterben würde, ins Land der Trolle auf. Dort hofft er, im Brunnen von Mirmir das Wissen über das Gegenmittel zu erfahren. Doch die Reise erweist sich als alles andere als einfach …

Nancy Farmer erschafft eine lebendige Fantasiewelt, die hauptsächlich auf die nordische Sagen- und Mythenwelt Rückbezug nimmt. Das merkt man bereits nach wenigen Seiten, wenn von Trollen und Nordmännern die Rede ist. Interessant ist dieser Hintergrund allemal. Er versetzt in eine Zeit und Welt, die nicht alltäglich ist in der Fantasy, und auch wenn man dem Buch, vor allem aufgrund des Alters des Helden, eine gewisse Jugendlichkeit nicht absprechen kann, erfreut es doch auch Erwachsene.

Das hängt vor allem mit dem unterschwelligen Humor zusammen, der das Buch durchzieht, aber nur selten offensichtlich wird. Diese steife und förmliche Art, die man häufig in Fantasy- oder historischen Romanen findet, gibt es in „Drachenmeer“ nicht. Ohne sich zu weit von der historischen Zeit zu entfernen, sorgt Nancy Farmer mit frischen und witzigen Dialogen immer wieder für Höhepunkte. Lucy beispielsweise glaubt fest daran, eine verlorengegangene Prinzessin zu sein. Diese Geschichte hat ihr Vater ihr immer erzählt, und sie besteht deshalb darauf, wie eine Prinzessin behandelt zu werden. Wenn das verwöhnte Mädchen dies einfordert, als sie mit den Nordmännern auf einem Schiff ist, kommt es zu sehr lustigen Situationen. Auch der Schlagabtausch zwischen dem frechen Jack und Thorgil, die sehr darunter leidet, dass man sie nicht als echten Krieger ernst nimmt, kann immer wieder erheitern. Die humorvollen Einschübe sorgen dafür, dass „Drachenmeer“ Originalität entwickelt und sich nicht nur durch die Wahl des Schauplatzes von anderen Fantasybüchern abhebt.

Die Protagonisten, allen voran Jack, aus dessen Perspektive erzählt wird, sind auf eine jugendliche Lesergruppe zugeschnitten. Sie haben etwas Heldenhaftes, wirken aber gleichzeitig sehr normal. Jack bleibt trotz seiner Ausbildung zum Barden ein kluger Bauernjunge, der ab und an etwas mit seinen Fähigkeiten übertreibt, ohne dass es aber unrealistisch wirkt. Die Figuren sind folglich sehr menschlich, auch wenn gerade die Nordmänner manchmal ein wenig überzogen dargestellt werden, um sie von Jack abzugrenzen. Das stört allerdings nicht, sondern macht die Geschichte noch unterhaltsamer.

Allerdings sind nicht alle Charaktere in diesem Buch Menschen. Auch Tiere spielen eine wichtige Rolle, sowie die Trolle, die Jack auf der Reise zu Mimirs Brunnen besuchen muss. Die Trolle werden dabei als gesellige Wesen dargestellt, die nicht besonders hübsch sind und Walgesänge zum Besten geben können. Nancy Farmer hat auch diese Sagengestalten wunderbar gezeichnet. Sie wirken gleichzeitig gefährlich und irgendwie knuddelig und bereichern die Geschichte auf angenehme Art und Weise.

Allerdings lässt sich hier ein Ansatzpunkt für Kritik finden. Die Geschichte von Jack ist gut ausgedacht, fantasievoll und erlebnisreich. Trotzdem fehlt es der Handlung, die ein wenig Aufwärmzeit braucht, an etwas Besonderem. Eine Reise, um ein Elixier zu finden – das ist nicht unbedingt neu. Da Farmer diesen Sachverhalt jedoch in eine angenehme, Längen vermeidende Erzählweise verpackt, leidet die Geschichte kaum darunter.

Farmers Schreibstil ist, wie bereits erwähnt, durch sprühende Dialoge und unterschwelligen Humor gekennzeichnet. Trotz allem vergisst sie das Erzählen nicht. Sie schreibt flüssig und interessant und schafft es, gleichzeitig Spannung aufzubauen und dabei die Hintergründe und Sagen dieser Welt nicht zu vergessen. Sie passt sich zudem ihrer jugendlichen Zielgruppe an, ohne jedoch allzu simpel zu werden. Dies alles führt dazu, dass sich der Roman sehr angenehm lesen lässt und gleichzeitig unterhaltsam ist.

In der Summe ist „Drachenmeer“ eine sehr interessante Fantasygeschichte, die mit Originalität und einem tollen Erzählstil punkten kann. Dass die Handlung ein wenig banal ist, fällt dabei überhaupt nicht auf, denn sie schreitet ohne Längen oder Widerstände seitens des Lesers voran.

Taschenbuch: 480 Seiten
www.loewe-verlag.de