Farmer, Nancy – Skorpionenhaus, Das

_Story_

Der erst fünfjährige Matt lebt in einer abgeschiedenen Hütte inmitten einiger Mohnfelder bei seiner Ziehmutter Celia und dem aus Schottland stammenden Tam-Lin. Allerdings lebt er dort auch ziemlich einsam; er darf das Haus nicht verlassen und auch jeglicher sonstige Kontakt zur Außenwelt wird ihm nicht gewährt. Eines Tages, während Celias Abwesenheit, nutzt Matt jedoch eine Gelegenheit, sich seiner einengenden Lage zu entziehen. Er flüchtet aus dem Fenster, um draußen mit einigen Kindern zu spielen, die er bereits zuvor erblickt hatte. Allerdings verletzt Matt sich bei dieser Aktion und muss umgehend vom ortsansässigen Arzt behandelt werden. Erst dort wird ihm nach und nach die Wahrheit über sein Dasein bewusst. Er ist einst als Klon des mächtigen Drogenbarons Matteo Alacran geschaffen worden und sollte den alternden Gauner ursprünglich mit frischen Organen versorgen. Während die übrigen Klone sofort nach ihrer Herstellung willenlos versklavt werden, hat El Patron für sein zweites Ich ein anderes Schicksal vorgesehen. Er soll eine glückliche Kindheit erleben und erst später auf Abruf bereitstehen.

Mit wachsendem Alter erfährt Matt immer mehr von seiner zweifelhaften Herkunft und den Machenschaften des brutalen Clanoberhaupts, erkennt dabei aber auch, dass Alacran eines Tages nach ihm suchen wird, um sich bei seinem persönlichen Ersatzteillager zu bedienen. Im Jugendalter ist es schließlich so weit: Der Drogenbaron leidet unter Herzschwäche und benötigt dringend Unterstützung von seinem Klon. Der jedoch hat sich inzwischen makellos entwickelt und ist unter seinesgleichen nicht mehr als Sonderling zu erkennen. Umso schlimmer wird die Situation für ihn, als er realisiert, dass Alacran und seine Handlanger genau jetzt nach ihm verlangen …

_Meine Meinung_

„Das Skorpionenhaus“ aus der Feder von Nancy Farmer ist ein recht eigenartiger, gleichzeitig aber auch sehr bewegender Roman, in dem die Autorin die Entwicklungen der modernen Technologie zum Anlass nimmt, massive, wenn auch gut versteckte Kritik an Gesellschaft und Politik zu äußern. Anhand der Geschichte des kleinen Matt, der trotz allzu menschlicher Züge letztendlich nur Produkt einer niederträchtigen Manipulation ist, erörtert sie moralische Aspekte der modernen Forschung und bindet sie in einen spannenden, wohl auch eher auf ein jüngeres Publikum zugeschnittenen Abenteuerroman ein. Das Schicksal dieses Jungen, der einem als Sympathieträger auch sofort ans Herz wächst, ist dabei jedoch nicht bewusst melancholisch beschrieben. Tatsachen wie die Abgeschiedenheit des Jungen und sein Leben in der völligen Verborgenheit werden als kalte Fakten vorausgesetzt, ebenso die Abscheu derjenigen, die seine Herkunft kennen und sich regelrecht von ihm angewidert fühlen, als er nach seinem Unfall behandelt werden soll.

Es ist allerdings auch keinem der hier auftretenden Charaktere zu verdenken, dass die Meinung über den Klon des mächtigen Drogenbarons von gefühlskaltem, rationalem Denken geprägt ist. Matt ist kein echter Mensch, sondern ein Produkt einer Generation, die nach wie vor nur Privilegien für die erlesene Oberklasse offen hält. Er gehört zu einer Gruppe manipulierter Individuen, deren einzige Aufgabe darin besteht, das Laben der Reichen und Mächtigen zu verlängern und darüber hinaus deren mächtige Stellung in der Gesellschaft zu symbolisieren. Und obwohl er eigentlich auch nur Opfer ist, kann man ihm seinen Status nicht verzeihen, weil er letztendlich in naher oder ferner Zukunft für das Leben der verarmten Menschen in den Mohnfeldern schädlich sein wird.

Ein anderer Aspekt der Geschichte ist dementgegen die Arroganz, mit der Clans wie die Alcarans auftreten. Mit allen Mitteln, die ihnen ihre Macht gewährt, beschaffen sie sich die Dinge, die für ihr Glück erforderlich sind und setzen sich dabei über Gesetze und jegliche Moral hinweg. Im Falle von El Patron ist damit auch ein Widerspruch verbunden. Er hat nämlich einerseits das klare Ziel vor Augen, irgendwann von Matt mit Organen versorgt zu werden, will ihn aber andererseits auch am Leben lassen, um ihm zumindest die Kindheit zu gewähren. Er gibt ihm das Leben, obwohl er es ihm eines Tages unter Garantie nehmen wird – oder möchte. Diese erschreckende Kaltschnäuzigkeit und die nicht existente Trennlinie zwischen echtem und gefälschtem Leben machen den Leser (oder in diesem Fall den Zuhörer) sehr betroffen und verdeutlichen auch noch einmal, wie berechnend und gefühlsarm die diesseitige Komponente der modernen Technologie ist. Das wichtigste Gut des Menschen, das Leben selber, wird als Spielball benutzt und letztlich jeder Vernunft und Ethik beraubt.

All diese kritischen Punkte hat die Autorin peu à peu in die Handlung eingebaut, ohne dabei den Spannungsaufbau zu vernachlässigen. Die Geschichte schreitet stringent voran, hält jedoch für derartige Details unheimlich viel Raum frei, ohne dass man einen zwischenzeitlichen tempobezogenen Hänger befürchten muss – und dies bis zum rührenden Schluss, der sich jedoch nicht anmaßt, gewollt rührselig zu sein. Fabelhaft!

Gleichermaßen bewegend wird das gleichnamige Hörbuch auch von Hans Löw vorgetragen. Der 2004 mit dem Boy-Gobert-Preis prämierte Schauspieler hatte bereits in [„Echtzeit“ 3059 einen fabelhaften Job abgeliefert und bestätigt sein Talent als charismatische Sprecher hier einmal mehr. Den Konflikt zwischen eiskalter Erzählbasis und emotional-rührenden Inhalten bewältigt er unheimlich elegant und wirkt dabei jedoch jederzeit nahbar und sympathisch. Ein echter Volltreffer für den Hörbuchverlag, der den hohen Erwartungen an seine Person vollends gerecht wird.

Das Fazit kann also auch nur eine Meinung vertreten, nämlich die, dass „Das Skorpionenhaus“ eine der empfehlenswertesten Verbindungen aus Fiktion und erzählter Zeitgeschichte ist. Dank der warmen Erzählstimme Löws ist diese preisgekrönte Geschichte auch als Lesung aller Ehren wert und definitiv ein heißer Tipp für den nächsten Einkauf beim einschlägigen Buchversand – und dies im Grunde genommen für alle Altersklassen.

http://www.jumboverlag.de/

|Siehe ergänzend dazu unsere [Rezension 1737 zur Buchausgabe.|