Festa, Frank (Hrsg.) – Pflanzen des Dr. Cinderella, Die

25 meist kurze Geschichten geben einen Überblick, der angelsächsische und europäische Phantastik von 1830 bis 1930 umfasst. Mit großer Sachkenntnis und viel Liebe zum Genre hat Herausgeber Festa vor allem selten oder sogar noch nie in deutscher Sprache erschienene, thematisch und stilistisch breit gefächerte Storys ausgewählt und macht den Freunden des ‚historischen‘ und durchaus anspruchsvollen Grusels ein gern entgegengenommenes Geschenk:

_Ralph Adams Cram (1863-1942): Das Haus in der Rue M. le Prince_ („No. 252, Rue M. le Prince“, 1895) – Die böse Tante vermacht dem erfreuten Neffen ihr Haus, doch leider ist es verflucht und beschert dem ahnungslosen Erben und seinen Freunden eine unvergessliche Nacht …

_Robert E. Howard (1906-1936): Das Ding auf dem Dach_ („The Thing on the Roof“, 1932) – Wer sich im mittelamerikanischen Dschungel auf Schatzsuche begibt, sollte sich zuvor sorgfältig informieren, was genau in der Schatzkammer auf ihn wartet …

_Gustav Meyrink (1868-1932) – Die Pflanzen des Dr. Cinderella_ (1913) – Ein ehrgeiziger Wissenschaftler forscht ein wenig zu abseits naturgesetzlicher Pfade, was seiner geistigen Gesundheit abträglich ist …

_Oskar Panizza (1853-1921): Die Kirche von Zinsblech_ (1893) – Ein müder Wanderer sucht ein Nachtquartier in besagtem Gotteshaus, wo er in einen turbulenten Hexensabbat gerät …

_Leslie Poles Hartley (1895-1972): Der australische Gast_ („A Visitor from Down Under“, 1926) – Mr. Rumbold ist im fernen Australien auf eine Weise zu Reichtum gekommen, die eine Rückkehr ins heimische England ratsam scheinen lässt: Allerdings hat er die Rachsucht seines Opfers definitiv unterschätzt …

_Ralph Adams Cram (1863-1942): Gefangen auf Schloss Kropfsberg_ („In Kropfsberg Keep“, 1895) – Zwei allzu selbstbewusste Wanderer besuchen des Nachts ein Spukschloss in Österreich …

_Edgar Allan Poe (1809-1849): William Wilson_ („William Wilson“, 1839) – Wer ist die mysteriöse Erscheinung, die dem Wüstling und Falschspieler Wilson immer dann in den Arm fällt, wenn der eine besonders ruchlose Tat plant …?

_Ralph Adams Cram (1863-1942): Die weiße Villa_ („The White Villa“, 1895) – In Italien geraten zwei Reisende in ein nächtliches Spukdrama, das sich seit vielen Jahren unbarmherzig wiederholt …

_Leonhard Stein: Der Flötenbläser_ (1918) – Eine junge Frau verfällt dem Zauber Ägyptens – und einem stattlichen Mann aus dem Volke, der indes nicht ganz von dieser Welt ist …

_Bram Stoker (1847-1912): Im Haus des Richters_ („The Judge’s House“, 1891) – Der alte Richter ließ für sein Leben gern hängen; nach seinem Tod übernimmt er den Job selbst …

_Willy Seidel (1887-1934): Lemuren_ (1929) – Ein seelisch aus der Bahn geworfener Mann gerät bei seiner Flucht vor den Menschen an eine Stätte, an der merkwürdige Kreaturen auf ihn schon gewartet zu haben scheinen …

_Ralph Adams Cram (1863-1942): Notre Dame des Eaux_ („Notre Dame des Eaux“, 1895) – In einer uralten Kirche in einem abgelegenen Winkel Frankreichs findet sich eine junge Frau nächtens allein mit einem mörderischen Wahnsinnigen wieder …

_Max Brod (1884-1968): Wenn man des Nachts sein Spiegelbild anspricht_ (1907) – Ausgerechnet das eigene Spiegelbild hilft seinem ‚Eigentümer‘ aus einer moralischen Zwickmühle …

_Ralph Adams Cram (1863-1942): Das Tote Tal_ („The Dead Valley“, 1895) – In Schweden gibt es einen verfluchten Ort, der grausam tötet, wer in seinen Bann gerät …

_Orest M. Somow: Eine eigenartige Abendgesellschaft_ („Videnie na javu“, 1831) – Auf offener Straße wird der junge Mann zu einem Fest eingeladen; seinen Gastfreunden entkommt er nur knapp …

_Ignaz Franz Castelli (1781-1862): Tobias Guarnerius_ (1839) – Zum perfekten Klang einer Geige bedarf es des ‚Einbaus‘ einer Seele, was den genialen Instrumentenbauer jedoch schon bald reut …

_Alexander von Ungern Sternberg (1806-1860): Das gespenstische Gasthaus_ (1842) – Ein mörderischer Gastwirt muss feststellen, dass seine Opfer nicht ruhen oder ihn gar die Früchte seiner bösen Tat genießen lassen wollen …

_Jean-Marie Villiers de l’Isle-Adam (1838-1889): Das zweite Gesicht_ („L’Intersigne“, 1867) – Der Blick in die Zukunft fällt meist schrecklich unklar aus, so dass sich das Gesehene selten verhindern lässt …

_Guy de Maupassant (1850-1893): Eine Erscheinung_ („Apparition“, 1883) – Ein gar nicht guter Freund, der genau weiß, was dort umgeht, bittet den naiven Jüngling, ihm aus dem Zimmer, in dem seine Gattin tragisch starb, einige Briefe zu holen …

_Paul Leppin (1878-1945): Severins Gang in die Finsternis_ (1914) – Schritt für Schritt verfällt Severin dem Laster, doch keine Erlösung erwartet ihn, als er das Ende seines Weges erreicht …

_John Charles Dent (1841-1888): Das Geheimnis in der Gerald Street_ („The Gerrard Street Mystery“, 1886) – Der gute Onkel will vor einem smarten Betrüger warnen; leider ist sein Neffe ziemlich schwer von Begriff und begreift viel zu spät …

_Vernon Lee (1856-1935): Die verruchte Stimme_ („A Wicked Voice“, 1890) – Die Vision eines boshaften Gesangskünstlers der Vergangenheit raubt einem in Italien reisenden Komponisten erst den Seelenfrieden und dann den Verstand …

_William Hope Hodgson (1877-1918): Der Spuk auf der Jarvee_ („The Haunted Jarvee“, 1948) – Dieses Schiff ist verflucht, und ‚Geisterdetektiv‘ Carnacki reizt die Mächte von ‚drüben‘ erst richtig, sich auf Deck zu offenbaren …

_Eric Count Stenbock (1860-1895): Die andere Seite_ („The Other Side“, 1893) – Zu süß ist die Verlockung des Landes, in dem Wolfsmenschen und Menschenwölfe umgehen …

_Karl Hans Strobl (1877-1946): Der Skelett-Tänzer_ (1926) – Der Tod macht sich ein Späßchen und tritt auf die Bühne; als ihn sein Partner versetzt, reagiert er nachtragend …

|“Zum Wesen der Phantastik gehört die Erscheinung: was nicht eintreten kann und trotzdem eintritt, zu einer ganz bestimmten Zeit, an einem ganz bestimmten Ort, im Herzen einer bis ins kleinste Detail festgelegten Welt, aus der man das Geheimnisvolle für immer verbannt hatte.“| (Roger Caillois)

|Einige Anmerkungen zu dieser Sammlung|

|I.|

Sammlungen von Kurzgeschichten werden gern unter ein bestimmtes Motto gestellt, das in der Regel in einem Vor- oder Nachwort erläutert wird. Dieses vermisst man hier schmerzlich und wundert sich, da nachweislich viel Hintergrundrecherche für diesen Band betrieben wurde: Jede Story wird mit einer Biografie ihres Verfassers eingeleitet, die knapp aber informativ ausfällt und Hilfestellung bei der Einordnung der jeweiligen Geschichte ins Genreumfeld leistet.

Vielleicht gibt es gar kein Motto? Womöglich sollen nur 25 selten oder noch nie in deutscher Sprache erschienene Storys einem möglichst breitem Lesepublikum vorgestellt werden? Angesichts der Qualität des Angebots könnte man damit prima leben. Ein wenig spekulieren lässt sich dennoch. Zumindest einen ‚historischen Faden‘ findet man im Gewebe dieser Kollektion. „Die Pflanzen des Dr. Cinderella“ wurzeln in dem Jahrhundert zwischen 1831 und 1932. (Zwar wird für W. H. Hodgsons „Der Spuk auf der Jarvee“ 1918 als Entstehungsdatum angegeben, doch muss diese Story vor 1918 entstanden sein; übrigens wurde sie 1929 zum ersten Mal veröffentlicht. Das Datum „1931“ für O. M. Somows „Eine eigenartige Abendgesellschaft“ im Copyright ist ein Druckfehler.) Damit wird der Bogen zwischen dem ‚modernen‘ oder ‚psychologischen‘ Horror über die klassische, traditionell erzählte Gespenstergeschichte bis zur vom „fin-de-siecle“ und Expressionismus geprägten Phantastik geschlagen.

In diesem zugegeben etwas roh gezimmerten Rahmen machen die 25 präsentierten Storys mit typischen aber erfreulich unbekannten Vertretern ihrer unheimlichen Zunft bekannt. Wem außer dem absoluten Genrekenner sind Namen wie Ralph Adams Cram, Leslie Poles Hartley oder John Charles Dent ein Begriff? Wie wir sehen, liefern sie mindestens so guten ‚Stoff‘ wie Bram „Dracula“ Stoker (hier leider vertreten mit einer zu Tode edierten Geschichte) oder Arthur Conan Doyle; zwei Autoren aus alter Zeit, die man auch im 21. Jahrhundert noch kennt.

Es fällt auf, dass die dem angelsächsischen Sprachraum entstammenden Verfasser in Sachen Spuk wesentlich ‚handfester‘ zu Werke gehen als ihre europäischen Kollegen. Zumindest die für diese Sammlung ausgewählten Geschichten wirken quasi dokumentarisch. Der Ort des unguten Geschehens wird präzise beschrieben, und wenn das Gespenst (oder eine andere Erscheinung) auftritt, gerät es ebenfalls unter die Feder des Schriftstellers. Breit stellt Herausgeber Festa daneben eine Phantasik vor, die mit der ‚Logik‘ der Handlung bricht, stattdessen mit Symbolen arbeitet, dabei auf die zeitgenössische Realität reflektiert und auf die Erzeugung von Stimmungen zielt. Das zu goutieren, erfordert vom Leser deutlich mehr Aufmerksamkeit bzw. die Bereitschaft, sich mit der Story treiben zu lassen.

Selbstverständlich schätzt die Literaturkritik solche ‚anspruchsvolle‘ Phantastik höher als die ’naturalistischen‘ Gruselhandwerker. Das trifft einerseits keineswegs in jedem Fall zu und ist andererseits kontraproduktiv, denn solcher Hochmut schreckt womöglich diejenigen Horrorleser, die zunächst mit den fieberhaften, übersteigerten, vieldeutigen, eindrucksvollen Visionen eines Gustav Meyrinck, eines Leonard Stein oder Willy Seidel wenig anfangen können, generell davon ab, sich beispielsweise mit der faszinierenden deutschen bzw. deutschsprachigen Phantastik vor den Nazis zu beschäftigen, die einem kontinuierlich gewachsenen, reichen und vor allem eigenständigen Genre den Garaus machten. Diese Literatur mag sich ’schwierig‘ lesen, ist jedoch wert, kennengelernt zu werden. (Übrigens belegt Eric Count Stenbock mit „Die andere Seite“, dass symbolistisch überhöhte Phantastik nicht den kontinentalen Europäern vorbehalten war.)

‚Schwierig‘ ist die Annäherung nicht nur wegen der Vielschichtigkeit. Auch der Stil ist gewöhnungsbedürftig. Hier sind die ‚ausländischen‘ Autoren im Vorteil, denn ihre Werke werden oft viele Jahrzehnte nach ihrer Entstehung ins Deutsche übertragen. Auch wenn sich die Übersetzer bemühen, den Tonfall des Originals zu treffen, erfährt der Text eine gewisse Anpassung an den Tonfall der Gegenwart. Eine Geschichte wie „Im Haus des Richters“ liest sich deshalb – obwohl ziemlich zeitgleich entstanden – wesentlich ‚moderner‘ als „Die Kirche von Zinsblech“.

Ausgerechnet die Schriftsteller unserer eigenen Vergangenheit müssen den Preis dafür zahlen, dass deutsche Leser fremdsprachige Literatur paradoxerweise lieber aus zweiter Hand, d. h. übersetzt zur Kenntnis nehmen! Dabei spannen die deutschen Literaten vor 1850 ihr Garn ohne die stilistischen Experimente ihrer Nachfahren, wie „Tobias Guarnerius“ und „Das gespenstische Rasthaus“, die beiden ältesten deutschsprachigen Geschichten dieser Sammlung, belegen.

Außerdem gleicht die (es mag pompös klingen) unerhörte Virtuosität, mit der z. B. ein Leonhard Stein („Der Flötenbläser“) die deutsche Sprache einsetzt, manche inhaltliche Unzugänglichkeit aus. Ob dies den Horrorfreund überzeugt, der eher auf den actionbetonten Pulpgrusel eines Robert E. Howard („Das Ding auf dem Dach“) steht, ist freilich fraglich. In „Die Pflanzen des Dr. Cinderella“ werden jedenfalls alle Erwartungen bedient und Alternativen angeboten.

|II.|

Aufgrund der Vielzahl von Erzählungen kann an dieser Stelle nicht auf jede Story eingegangen werden. Die persönlichen Vorlieben Ihres Rezensenten bestimmen die folgende Auswahl.

Gleich fünf Geschichten des vergessenen US-amerikanischen Verfassers Ralph Adams Cram finden wir in diesem Band. Waren die Rechte billig zu bekommen? Egal, denn dies sind sauber gearbeitete, wenn auch simple Gespenstergeschichten, die durch Crams Ortskenntnisse profitieren; er reiste oft und gern durch Europa, und was er sah und erlebte, ließ er gern in seine Storys einfließen. Wunderschönen klassischen Horror mit einem rachsüchtigen Geist verbreitet auch Leslie Poles Hartley („Der australische Gast“), während sich William Hope Hodgson („Der Spuk auf der Jarvee“) in einer seiner atmosphärischen Seespuk-Geschichten letztlich ein wenig zu intensiv um eine logische Aufhellung des eigentlich keiner Erklärung bedürfenden Geschehens bemüht.

Wenn weiter oben von einer Geburt der modernen Phantastik gesprochen wurde, so muss diese natürlich eine Vorgeschichte besitzen. Zwischen Romantik und Realismus schreibt Alexander von Ungern Sternberg („Das gespenstische Gasthaus“). Selten wird man so rüde wie durch ihn aus der schön gestrickten Gruselmär vom verfluchten Haus geworfen: „Ich habe in manchem [Gasthaus] gewohnt, in dem ich Geister fand, die für mich weit widriger und schrecklicher sind …; es waren die Geister der Unreinlichkeit, der Prellerei und einer schlechten Küche.“ (S. 251) Dabei leugnet der betont rationale Erzähler (und damit der Verfasser) nicht, dass die Gewissheit einer geordneten Welt brüchig ist: „Wenn man den Naturgewalten völlig überlassen ist, so wird man gläubig. Das albernste Märchen verwandelt sich in eine Tatsache, wenn wir im Rauschen eines uralten Waldes allein sind oder allein auf dem endlosen Meere oder allein … auf dem Weg, wo wir eben sind.“ (S. 243) Das ändert jedoch nichts an der Haltlosigkeit solcher Ängste, denn sie existieren – so der Verfasser – nur im Gehirn des Menschen. Der ernüchternde Schlusssatz ist deshalb durchaus als Provokation an die Adresse romantischer, schwärmerischer oder abergläubischer Zeitgenossen gedacht, die an Geister glauben oder glauben möchten.

Edgar Allan Poe ging 1839 schon einen Schritt weiter: ‚Seine‘ Furcht ist auch oder sogar vor allem im Alltag beheimatet. William Wilson verirrt sich nicht im finsteren Wald oder gerät in eine unheimliche Ruine. Sein eigener Spiegel wird zur Quelle der Heimsuchung, wobei Poe sehr gut um die Ambivalenz dieses Motivs weiß und seine Leser ratlos mit der Frage zurücklässt, ob sich Wilsons Spiegelbild wirklich selbstständig gemacht hat oder Wilson dem Irrsinn verfallen ist. Mit vergleichbarer Meisterschaft bedient sich Vernon Lee (d. i. Violet Paget) in „Die verruchte Stimme“ eines ähnlichen Plots. Ihr gelingt zudem das Kunststück, den Schauplatz Italien nicht als pittoreske Kulisse zu missbrauchen, sondern die Story kongenial mit dem geografischen, gesellschaftlichen und historischen Hintergrund zu verschmelzen.

Auf diese Weise hat jede der hier präsentierten Geschichten ihre Position in der Literaturgeschichte der Phantastik. Noch erfreulicher ist indes die Tatsache, dass darunter der Lesespaß weder leidet noch die historischen Aspekte überhaupt Berücksichtigung finden müssen, um 25-fachen Genuss zu ermöglichen!

http://www.festa-verlag.de

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