Anne Fine – Schwesternliebe

So verschieden sie auch sind, die vier Schwestern Liddy, Heather, Stella und Bridie, alle um die vierzig, halten seit ihrer Kindheit zusammen wie Pech und Schwefel. Fast jedes Wochenende verbringen sie gemeinsam. Die sensible, grundehrliche Liddy ist geschieden und hat zwei kleine Kinder, Bridie ist verheiratet und engagierte Sozialarbeiterin, Heather ist der unterkühlte Single und Stella die brave Harmoniesüchtige, die in ihrem Mann Neil das perfekte Gegenstück gefunden hat. Als Liddy den netten George kennenlernt und eine Beziehung eingeht, freuen sich ihre Schwestern für ihr neues Glück.

Nach ein paar Monaten erfährt Stella jedoch von ihrer Putzfrau, die aus der Gegend von George stammt, ein böses Gerücht über Liddys neuen Freund. Angeblich wurde in Nordengland ein Prozess wegen Kindesmissbrauchs gegen ihn geführt, der schließlich aus Mangel an Beweisen ohne Verurteilung endete. Während Stella und Heather diese Nachricht recht gefasst aufnehmen, ist Bridie zutiefst empört. Als Sozialarbeiterin, die täglich mit solchen Fällen zu tun hat, will sie Liddy unbedingt warnen.

Heather und Stella sind anderer Meinung. Sie wollen Liddy nicht unglücklich machen und halten die ganze Geschichte für ein aufgebauschtes Gerücht. Bridie hingegen ist besessen von dem Gedanken, Liddy zu informieren. Schließlich überredet sie Heather, ihr davon zu erzählen. Liddy aber glaubt kein Wort und beschuldigt ihre Schwestern, allen voran natürlich Bridie, eine Lüge in die Welt gesetzt zu haben. Der Streit eskaliert, Unruhestifterin Bridie wird von ihren Schwestern ausgeschlossen. Sie ahnt, dass mehr dahinterstecken muss …

Verzwickte Familienverhältnisse sind die Spezialität von Anne Fine. Gekonnt versteht sie es, idyllische Fassaden zu präsentieren, die nach und nach in sich zusammenstürzen. Vor allem Leserinnen von Amélie Nothomb, Margaret Millar und Ingrid Noll dürften hier eine gute Ergänzung finden.

Mehrfache Spannung

Bereits die Ausgangslage verheißt Spannung, die sich im weiteren Verlauf noch steigert. Zunächst steht lange Zeit die Frage im Mittelpunkt, ob die Gerüchte über George der Wahrheit entsprechen oder nur erfunden sind. Gemeinsam mit Bridie schwankt man zwischen Misstrauen gegenüber George und der Möglichkeit, dass George nicht nur unschuldig in einen Prozess geriet, sondern vielleicht sogar die ganze Anklage nie stattgefunden hat. Ebenso verfolgt man gespannt, wie Liddy die Offenbarung auffasst, ob es vielleicht gar keine Überraschung mehr für sie ist oder ob die Neuigkeit umgekehrt gar die bevorstehende Hochzeit gefährdet.

Mit fortschreitender Handlung konzentriert sich die Spannung allerdings auf Bridie. Man fragt sich, ob das Verhältnis zwischen den Schwestern, die sich einst so nahe standen, noch zu retten ist, ob Bridie herausfindet, ob das Gerücht der Wahrheit entspricht oder ob sich der Eklat möglicherweise noch ausweitet. Zudem wird immer offensichtlicher, dass es einen triftigen Grund dafür geben muss, dass Liddy so abweisend reagiert und Stella und Heather sich ihr zögernd anschließen, dass sie irgendein gewichtiges Geheimnis vor Bridie verbergen. Anne Fine verbindet geschickt eine kriminalistische Spannung mit melodramatischen Elementen, sie beginnt mit einer Verbrechensgeschichte und wendet sie zu einem Familiendrama.

Charaktervielfalt

Unterschiedlicher könnten die Schwestern kaum sein, interessanterweise ist jedoch keine davon eine reine Sympathieträgerin. Am meisten fühlt der Leser automatisch mit Bridie, die in den Vordergrund gestellt wird und deren Gedanken man fast durchgängig verfolgt. Ihre Sorge um ihre Schwester ist verständlich, verwandelt sich aber nach und nach in Besessenheit. Beinah fanatisch grübelt sie über Liddys Leben nach, bis auch ihre Arbeitskollegen spüren, dass sie nur noch einen Gedanken kennt. Nach dem Bruch zwischen den Schwestern fühlt man zwar Mitleid mit der verlassenen Bridie, doch dies währt nicht ewig, denn Bridie plant einen Rachefeldzug, der es in sich hat.

Im krassen Gegensatz dazu steht die unterkühlte Heather, eine überzeugte Singlefrau mit erfolgreicher Karriere, die sich grundsätzlich nur mit verheirateten Männern einlässt und Monate nach der Liaison ihre Liebhaber schon gar nicht mehr auf der Straße erkennt. Nicht einmal richtig böse sein kann ihr Bridie, denn niemandem glaubt sie mehr als Heather, dass sie keine bösen Absichten hegt, sondern bloß wieder einmal gnadenlos oberflächlich gewesen ist und keine Sekunde an die Gefühle anderer, in diesem Fall Bridie, gedacht hat. Umso weniger verzeihen kann sie dagegen Stella, der Vierten im Bunde, die stets die Offenheit in Person ist und das Prinzip der gegenseitigen Ehrlichkeit vehement vertritt. Ausgerechnet Stella, die sonst die Wichtigkeit von Aussprachen predigt, missbilligt Bridies dringenden Rat, Liddy zu informieren und scheint bald gar hinter Bridies Rücken zu intrigieren. Nicht nur der Leser, auch Bridie steht plötzlich vor einem völlig neuen Bild ihrer Schwestern. Zahlreiche Begebenheiten erhalten rückblickend ein anderes Gesicht und Bridie stellt sich die Frage, wie gut sie ihre Schwestern wirklich kennt.

Am Rand der Übertreibung

So realistisch der Beginn des Romans sich auch lesen mag, mit seiner vordergründigen Idylle, einem Schwesternstreit und dunklen Geheimnissen, ganz zu schweigen vom immer aktuellen Thema Kindesmissbrauch, als wirklichkeitsgetreues Werk darf man „Schwesternliebe“ gewiss nicht lesen. Je weiter man vorstößt, desto stärker werden der sarkastische Charakter und die Überzeichnung der Charaktere. Das gilt vor allem für Bridies Person. Anfangs sind ihre Handlungen und ihr Kummer über die Entzweiung mit ihren Schwestern noch gut nachvollziehbar, ihre Reaktionen auf die Enthüllungen und ihr Racheplan jedoch entbehren einer solchen Grundlage. An dieser Stelle wandelt sich das Alltagsdrama zu einem Werk mit satirischer Tendenz. Ist man darauf nicht gefasst, kann dieser Wandel durchaus enttäuschen.

_Als Fazit_ bleibt ein mit viel schwarzem Humor gespickter Roman über Familienzwistigkeiten und Geheimnisse. Der Autorin gelingt eine Mischung aus Krimi, Familiendrama und Satire voller amüsanter und erschreckender Boshaftigkeit. Spannend erzählt und mit ausgefallenen Charakteren, allerdings mit zunehmendem Fortschreiten immer unrealistischer und auf Satire ausgelegt.

_Die Autorin_ Anne Fine wurde 1947 in Leicester geboren. Sie studierte zunächst Geschichte und Politologie und arbeitete als Lehrerin. In den Siebzigerjahren begann sie mit dem Schreiben, hauptsächlich Kinderbücher, aber inzwischen auch viele Werke für Erwachsene. Zu ihren bekanntesten Romanen zählen das erfolgreich als „Mrs. Doubtfire“ verfilmte „Madame Mirabilis“, „Killjoy“, „Typisch Tulpia“ und „Das Baby-Projekt“.

Taschenbuch: 248 Seiten
www.annefine.co.uk
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