Susan Fletcher – Eve Green (Lesung)

Drama in Wales: ein Mordfall in Kinderaugen

Im Mittelpunkt des Geschehens steht ein kleines, walisisches Dorf, das Schauplatz eines Verbrechens wird. Als die zwölfjährige Rosie verschwindet, legt sich ein tiefer Schatten über die vermeintliche Idylle. Die achtjährige Eve Green, die nach dem Tod ihrer Mutter hier bei den Großeltern aufwächst, befreundet sich mit dem Herumtreiber Billy, der von den Leuten mit Rosies Verschwinden in Verbindung gebracht wird. Unterdessen versucht Eve, das Geheimnis ihres Vaters zu ergründen, über den absolut niemand mit ihr sprechen will. Warum bloß?

|Die Autorin|

Susan Fletcher wurde1979 in Birmingham geboren und veröffentlichte mit „Eve Green“ ihren Debütroman, der den Whitbread First Novel Award 2004 erhielt. Sie lebt in London.

Die Sprecherin

Doris Wolters, geboren in Fürth, ist seit 1975 Schauspielerin. Nach Engagements in Erlangen, Nürnberg, Pforzheim, Freiburg und Basel arbeitet sie als Sprecherin für ARTE, das Schweizer Fernsehen DRS und den Südwestrundfunk (SWR) sowie für Hörbuchproduktionen.

Corinna Zimber führte bei dieser Aufnahme Regie.

Handlung

Eines Nachmittags ging Evangeline Greens 28-jährige Mutter Bronwen, die sie von Herzen liebte, ins Badezimmer und kam nicht wieder lebendig zurück. Da war Evangeline gerade mal sieben Jahre alt. Sie wunderte sich noch nicht über die merkwürdige Tatsache, dass ihre schöne Mutter rabenschwarzes Haar hatte, sie selbst aber knallrotes Haar und blaue Augen.

Als Mrs. Wilkins die Tote in der Badewanne entdeckt hatte, rief sie die Ambulanz und versteckte Eve vor diesem Anblick. Dass Bronwen mit 28 an einem Herzversagen gestorben sein sollte, wunderte Mrs. Wilkins, doch was soll mit dem Kind geschehen? Sie bringt es nach Wales zu den Eltern von Bronwen, in das Dorf Caitre Saint, das am Fuße eines hohen Berges liegt, dem Tor-y-Gwynt. Die Großeltern leben jedoch nicht im Dorf selbst, sondern am Ende des Tales des Flusses Brych, auf einer Schaffarm namens Pencarrig. Ihre Großeltern nehmen sie liebevoll auf und erziehen sie.

Während Eve hier aufwächst, lernt sie, sich selbst als ein Glied in einer Kette von „Vorfahren“ zu betrachten, die allesamt Jones hießen. Darunter waren Missionare und Soldaten, von denen es einigen gut und einigen schlecht erging. Im heißen Juli des Jahres 1976, als Eve ihren achten Geburtstag feierte und anonym Blumen geschenkt bekam, verschwand im Dorf die zwölfjährige Rosie Hughes. Deren Mutter, zuvor eine elegante und selbstbewusste Erscheinung, verfiel zusehends, als sich die Suche nach der entführten Tochter hinzog. Als sich Eve jetzt, 21 Jahre später (1997) und mit einem Kind unter dem Herzen, daran erinnert, fällt ihr ein, dass sich Frau Hughes vier Jahre später mit Tabletten und Alkohol umbrachte. Die Idylle des abgeschieden gelegenen Dorfes existierte wirklich nur scheinbar.

Es ist in jenem Sommer, als sie mehr über ihren Vater K. herausfindet, über den mit ihr absolut niemand sprechen will, schon gar nicht ihre Großeltern. Nur ihre Mutter hat ihr vereinzelte Tagebuch-Schnipsel und Memorabilien hinterlassen sowie ein einziges Foto: Es zeigt einen rothaarigen irischen Mann mit einem Lächeln und der Sonne in seinen Locken. Bronwen muss sich auf der Stelle in ihn verliebt haben.

Eines Tages bemerkt sie auf dem Friedhof, der unweit der Hauptstraße liegt, einen Jungen, der sie anstarrt und die Arme ausgebreitet hat, als wolle er fliegen. Dies ist Mad Billy Macklin mit der großen Narbe im Gesicht, wo ihn einmal ein ausschlagendes Pferd traf. Und seit ihn der Huf getroffen hat, ist er nicht mehr ganz richtig im Kopf, sagen die Leute. Aber das stimmt gar nicht. Mad Billy wird Eves bester Freund. Und er kennt viele Geheimnisse, auch das über ihren wirklichen Vater. Er weiß auch, wen Rosie Hughes liebte, bevor sie verschwand. Die Wahrheit ist eben nicht immer angenehm.

Mein Eindruck

Wieso heißt das Buch eigentlich „Eve Green“? Die Frage ist durchaus berechtigt, und man darf sich wundern, dass die Autorin es wagte, diesen Namen auf ihr Manuskript zu schreiben. Denn Eves Mutter und der Ire Kieran Green haben nie geheiratet. Bronwen Jones blieb stets eine Jones, was die Behörden betrifft. Und wenn man ihre Familie fragen könnte, so würden sie das bestätigen. Aber Bronwen nannte sich nach ihrem Weggang nach Birmingham in selbstbewusster und rebellischer Weise stets eine Green, und so wurde wohl aus Eve Jones ebenfalls eine Green. Macht aber nix, denn sie wächst wie eine waschechte Jones auf. Und dass ihr Kind jetzt, wenn es in einem Monat kommt, den Nachnamen von Daniel tragen wird, dürfte wohl klar sein.

Ein Frauenroman

Allein schon diese kurze Abfolge von Generationen deutet an, worum es in diesem Buch hauptsächlich geht: um die sehr einfühlsam und anschaulich erzählte Selbstfindung einer mutterlosen jungen Frau in einer Welt, die von Männern wie dem Mörder Rosies bedroht wird. Auch am Beispiel von Billy Macklin erfährt Eve, wie hart es in der Welt zugehen kann. Sie ist selbst eine kleine Rebellin, die sich für ihre Aufmüpfigkeit mehr als einmal eine Gardinenpredigt anhören muss.

Aber je mehr die junge Eve über ihre Großeltern, ihre davongelaufene und inzwischen tote Mutter sowie über den geächteten Vater, Kieran Green, erfährt, desto mehr sieht sie sich als Glied in einer Kette von Waliser-Generationen, die durch die Geburt ihres Kindes verlängert werden wird. Die Frage ist für sie: Wird sie die gleichen Fehler machen wie ihre Mutter? Will sie Vergeltung dafür üben, was Kieran Green Bronwen angetan hat?

Ein Krimi, vielleicht

So weit ist alles wie gehabt: „Eve Green“ ist ein sehr schöner, einfühlsamer Selbstfindungsroman über eine junge Waliserin. Aber was hat das mit einem Krimi zu tun, mag sich der Leser und Hörer fragen. Das Problem besteht einerseits darin, dass die verwendete Erzählstruktur auf maximaler Distanz zu jedem konventionellen Krimi angelegt worden ist. Die Handlung bewegt sich, sprachlich assoziierend, gleichsam in Spiralen, um sich auf Umwegen den Kernfragen anzunähern. Es sind jene Kernfragen, die den Krimileser am brennendsten interessieren: Wer sah Rosie zuletzt und wo verschwand sie? Wer könnte sie vergewaltigt und getötet haben? Wer gehört zum Kreis der Verdächtigen, und welche liegen Indizien gegen diesen oder jenen Verdächtigen vor? Finden sich Antworten auf diese Fragen – je nachdem, ist man versucht zu sagen.

Nun ist Klein-Evie ja nicht gerade eine ausgebildete Kriminalistin. Sie kann keine Spuren sichern, keine Verhöre führen, ganz im Gegenteil: Sie lügt sogar den Chief Inspector an. Andererseits ist sie unheimlich neugierig und hat keine Scheu, dumme Fragen zu stellen. Diese Fragen dringen immer weiter zum Kern der Angelegenheit vor, in einer Kreisbewegung, als müsste sich die Erinnerung der 29-jährigen Eve erst vorsichtig einem Punkt annähern, an dem es wirklich wehtut.

Narben

Als sichtbares Zeichen dieses Schmerzes trägt Eve eine Narbe auf ihrer linken Hand. Diese Narbe hat sie sich bei einem Brand zugezogen. Das Feuer haben 1976 bestimmte Männer gelegt, um Eves Freund Billy zu töten, den sie in der Scheune glaubten, wo Eve und Billy sich trafen. Um was zu tun, fragten sich die Männer – etwa um Unzucht zu treiben? Mr. Phipps zumindest glaubt es, denn bekanntlich fällt der Apfel ja nicht weit vom Stamm, und wenn man bedenkt, was Eves Vater seinerzeit (ca. 1968) Mr. Phipps angetan hat, so wird schon einiges erklärlich. Jedenfalls für Mr. Phipps und die Männer, die er aufgehetzt hat. Auch wenn das logisch betrachtet keinerlei Sinn ergibt. Aber die Narbe beweist es: Klein-Evie stürzte sich mit dem Mut der Verzweiflung in die Flammen, um Billy zu retten …

Verdächtige

Angesichts solcher Desaster und anderer drängender Fragen (Wo lebt Kieran Green jetzt?) rückt die Frage nach dem Mörder Rosies in den Hintergrund. Aber Eve bietet Verdächtige an. Natürlich zählt der gehässige, voreingenommene Mr. Phipps dazu. Und dann ist da noch der mysteriöse „Mann mit den grünen Augen“, dessen Namen Eve nie erfahren hat und der schon 1977 von Caitre Saint wegzog. Doch dieser Mister Green Eyes (schon wieder „Green“) wagte es eines Nachts, Eve unsittlich zu berühren, und wer weiß, was er noch getan hätte, wenn sie nicht schnell weggerannt wäre. Auch dies ist eine Szene, der sich die Erzählerin nur sehr vorsichtig annähert – aus Scham oder vor Schmerz. Alle solche Szenen werden sehr dezent, aber ohne falsche Schamhaftigkeit dargestellt.

Rosie Hughes’ Leiche wurde nie gefunden. Einen ihrer rosafarbenen Rollschuhe fand man unweit des Tor-y-Gwynt, des „Ortes der Winde“, wo die Raben im Sturm fliegen und sich die Liebespaare zum Stelldichein treffen (so auch Bronwen und Kieran). Die Sümpfe dort oben, am Ende von Eves Tal, geben ihre Geheimnisse nicht mehr preis. Die Realität ist eben keine Gleichung, die sich stets nach X auflösen lässt.

Die Sprecherin

Doris Wolters spricht den Text einfühlsam, klar verständlich und mit einer dezenten Charakterisierung der Figuren. Mrs Maddox hat zum Beispiel eine ziemlich tiefe Stimme mit einer langsamen Sprechweise, wohingegen so manches Mädchen eher hoch kiekst und schnippisch daherplappert. Aber solche Mädchen waren im Wales der sechziger und siebziger Jahre offenbar äußerst selten. Mehr Schwierigkeiten hat Wolters da schon mit der Differenzierung der Männerstimmen. Es fällt nicht leicht, in dieser Hinsicht Unterschiede festzustellen, aber es gibt sie, wenn man genau hinhört.

Wolters beherrscht die Aussprache des Walisischen, einem Zweig der keltischen Sprachen, nach meinem bescheidenen Urteilsvermögen durchaus einwandfrei. Nur wenn das harte CH im Flussnamen Brych förmlich aus dem Lautsprecher hervorbricht, ist das ein wenig zu viel des Guten. Zudem sind in den Text eine Reihe von walisischen Ausdrücken wie etwa „cariat“ (Liebling, Schatz) oder etwa Geburtstagsglückwünsche eingeflochten, die nicht übersetzt wurden. Der Hörer hat sie selbst zu erschließen, denn es gibt kein Glossar.

In den kurzen Szenen, in denen aus Bronwens Tagebuch zitiert wird, damit wir den Verlauf ihrer Affäre mit Kieran Green verfolgen könne, sind das Geräusch eines schreibenden Bleistifts auf Papier zu hören sowie ein leichter Hall. Dieser deutet an, dass diese Stimme aus ferner Vergangenheit kommt.

_Unterm Strich_

„Eve Green“ ist ein sehr schöner, einfühlsam und anschaulich, ja sogar humorvoll erzählter Selbstfindungsroman über ein junges Mädchen, das schon mit acht Jahren mit Tod und Gewalt, aber auch tiefer Freundschaft Bekanntschaft macht. Sie beobachtet ihr soziales Umfeld ganz genau und scheut nicht vor unbequemen Fragen zurück.

Wer erwartet, hier einen konventionellen Krimi à la Martha Grimes oder Val McDermid vorgesetzt zu bekommen, ist schwer auf dem Holzweg. Zwar kommt Klein-Evie einer Lösung des Mordfalls Rosie Hughes recht nahe, doch weder die Auflösung des Falles noch das Üben von „Gerechtigkeit“ interessieren Eve, geschweige denn Rache. Denn wie könnte sich ein junges Mädchen für Gerechtigkeit einsetzen? Sie versucht es zwar einmal, doch die Folgen sind nicht angenehm.

Das Hör-Buch erweist sich als eine schöne Erfahrung für den Zuhörer, denn er findet Zugang zu einem Mikrokosmos, in dem sich das menschliche Drama ebenso abspielt wie überall sonst auf der Welt. Dadurch, dass sich die erwachsene Eve als werdende Mutter an die junge, wilde Evie erinnert, wird die Betrachtung und Bewertung einer Entwicklung dieses Ortes namens Caitre Saint möglich. In der besonderen Erzählweise spiegeln sich die Möglichkeiten der Brechung und Umkreisung, die die zeitliche und psychische Distanz erlauben. Für einen Debütoman ist das Buch schon recht ausgefeilt formuliert.

Die Sprecherin Doris Wolters überzeugt auf ganzer Linie. Sie charakterisiert die weiblichen Figuren besser als die männlichen, erweckt sie quasi zum Leben. Die Aussprache des Walisischen beherrscht sie einwandfrei, soweit ich das beurteilen kann, und ihre Aussprache des Englischen weist nur sehr vereinzelt Fehler auf. Es ist aber nicht einfach, die Passagen, in denen Bronwen zitiert wird (gewöhnlich am Kapitelanfang), von Eves Bericht zu unterscheiden. Ein Hilfsmittel ist der leichte Hall, mit dem „Bronwen“ unterlegt ist.

_Handhabung_

Was mich bei der Handhabung dieses Exemplars genervt hat, war von vornherein die mindere Qualität der Jewelbox. Derart klapprige CD-Aufhängungen führen dazu, dass die CDs herumklappern und allzu leicht herausfallen können. Der Missstand ist auch nicht durch Zurückdrücken in die Halterungen zu beheben, denn es sind ja gerade diese, die so minderwertig produziert wurden.

Auch ein Booklet fehlt, doch bringt dieser Umstand der CD keinen Minuspunkt ein, denn viele andere Verlage (z. B. |Lübbe|) legen auch keines bei. Dadurch ist der Hörer auf eigene Notizen angewiesen, um sich über die Vielfalt des Personals und über die Zeitlinie der Geburtsdaten und laufenden Ereignisse einen Überblick zu verschaffen – meine obige Handlungsskizze und Zeitlinie beruht auf meinen Notizen und kann daher Fehler enthalten. Ein Booklet mit diesen Infos hätte aber dem Hörbuch einen Pluspunkt eingebracht. Vor allem bei einem so hohen Preis von rund 30 Euro.

502 Minuten auf 6 CDs
Originaltitel: Eve Green, 2004
Aus dem Englischen von Stefanie Schaffer-de Vries
Die Buchfassung erschien 2005 im Berlin-Verlag