Flewelling, Lynn – verwunschene Zwilling, Der (Tamír Triad 1)

_Inhalt:_

Die junge Tobin hat das Pech, als Mädchen in gefährlichen Zeiten geboren zu werden, in denen Frauen jedes Alters im Auftrag des Königs ermordet werden, der dadurch die Thronfolge seines Sohnes sichern will. Vor Jahren brachte König Elrius seine Schwester um ihren rechtmäßigen Anspruch auf den Thron – eine Tat, die den göttlichen Schutz außer Kraft setzte, unter dem sein Volk stand, und dem Land Seuchen und Krieg bescherte.

Aber es gibt Menschen, die danach trachten, die göttlichen Prophezeiungen zu ehren und einer Kriegerkönigin auf den Thron zu verhelfen. Tobin wird mithilfe dunkler Magie als ihr Zwillingsbruder verkleidet. Dieser starb bei der Geburt, jedoch nicht schnell genug – ein Atemzug gelang ihm, und das genügte, um seine Seele voll grässlichem Zorn auf Erden zu verankern. Tobin kann tatsächlich Königin werden, aber nur, wenn es gelingt, sie zu beschützen, bis sie erwachsen ist – vor ihrer wahnsinnigen Mutter, ihrem dämonischen Bruder und jedem bösen Hexer des Landes.

Der Auftakt zu einem atemberaubenden Epos, das abermals in der Welt der |Schattengilde| spielt, jedoch in einer viel früheren Zeit. Mit |Tamír Triad| hat Lynn Flewelling ein Meisterwerk geschaffen und unter Beweis gestellt, dass Fantasy nicht nur spannend, magisch, düster und unterhaltsam sein, sondern gleichzeitig zum Nachdenken anregen kann.

_Meine Meinung:_

Tobin ist Dreh- und Angelpunkt des Geschehens. Von der ersten Sekunde ihrer Geburt an bestimmt eine geheimnisvolle Magie ihr Leben und Schicksal. Als sie zusammen mit ihrem Zwillingsbruder das Licht der Welt erblickt, wird ihr dank der Magie der Zauberin Lhel auferlegt, als Knabe aufzuwachsen – bis die Zeit reif ist, den Thron zu besteigen: als rechtmäßige Königin. Doch bis dahin ist es ein weiter dorniger Weg.

Tobin wächst einsam in der Feste ihres Vaters auf: Ignoriert von ihrer scheinbar geistig verwirrten Mutter Ariani, die den gewaltsamen Tod ihres zweiten Kindes nie verwindet und sich bis zu ihrem bitteren Ende in einem Turmzimmer verschanzt. Umgeben von ihrem Vater, Herzog Rhius, der sie zwar liebt, aber oft verlässt, und von dem Personal aufgezogen – mit einem Schatten an ihrer Seite. Denn da ist noch der Geist des toten (Zwillings-)Bruders, der, als er dem Mutterschoß entflohen ist, nach seinem ersten tiefen Atemzug erstickt wird, keine Ruhe findet und über den Tod hinaus eng an Tobin gebunden ist.

Dieser Bruder, den alle furchtvoll „den Dämon“ nennen, spukt durch die Festung, richtet dort oft Schaden an oder greift die Bewohner an. Er ist ein zorniger Geist, der sein „Unglück“ und „Los“ auf seine Art und Weise zum Ausdruck bringt und an den Bewohnern der Festung auslebt. Doch er hat dennoch das Herz des Lesers auf seiner Seite. Man verspürt Mitleid mit der ruhelosen Seele, die nicht leben durfte, aber auch nicht die ewige Ruhe finden kann. Und man wartet ungeduldig darauf, dass ihm Wiedergutmachung widerfährt.

Aber auch mit Tobin verspürt man Mitleid. Sie/Er lebt völlig abgeschottet von der Außenwelt und Gleichaltrigen, und schon bald steht er in dem Ruf, sonderbar zu sein. Was ihn aber nicht stört, denn er fühlt sich wohl in seiner abgeschiedenen Welt – weil er es nicht anders kennt. Alles ändert sich, als der Zauberer Arkoniel und Tobins „Knappe“ Ki in der Feste Einzug halten, um Tobin auszubilden bzw. ihm Gesellschaft zu leisten/zu dienen. Dadurch wird Tobin mehr und mehr seiner Einsamkeit entlockt. Sein Leben wird fortan von menschlicher Zuwendung und Zuneigung geprägt, auch wenn er Arkoniel anfangs mit Misstrauen begegnet, hingegen Ki bereitwillig an sich heranlässt. Beide meistern es, Tobin aus seinem teils auferlegten, teils selbst gewählten Schneckenhaus zu befreien.

Dann schlägt das Schicksal ein weiteres Mal zu: Tobins Vater kommt zu Tode und somit werden Tobin und Ki aus ihrer heilen Welt innerhalb der schützenden Mauern der Feste entrissen. Für die beiden Jungen beginnt nun ein neuer Lebensabschnitt in Ero, am Hofe des Königs, wo alles völlig anders ist als das, was sie bisher kannten. Und in Tobin wird der Ruf der Natur wacht – seine wahre Seele, seine Weiblichkeit zeigt sich und fordert ihren Tribut … und Lhels erneutes magisches Handeln.

Mehr sei nicht über diesen gefühlvollen, aufwühlenden Roman, der einen nicht loslässt, verraten, der geprägt ist von starken Charakteren und tiefen Emotionen. Dieses großartige Werk lebt vom lyrischen Erzählstil der Autorin, die jenseits jeglichen Mainstreams eher wie eine mittelalterliche Geschichtenerzählerin fabuliert. Sie nimmt den Leser an die Hand, nimmt ihn mit in Tobins Welt und in die Feste, und das auf solch eindrucksvolle Weise, dass man oft vergisst, dass all das, was aus den Zeilen entgegenströmt, keine Realität ist. Wie oft möchte man seine Hand in Tobins Richtung ausstrecken und ihn trösten. Wie oft ist man zusammen mit Bruder zornig über sein ruheloses Seelendasein. Wie sehr leidet man mit all den tragischen Charakteren und den menschlichen Abgründen, die sich dahinter verbergen.

Das ist keine blutleere U-Literatur, sondern Fantasy auf höchstem Niveau – und wird eine Freude für jeden Leser sein, unabhängig davon, welches Genre er bevorzugt. Denn in der „Zwillings-Trilogie“ geht es um weitaus mehr als phantastische Elemente, da geht es um das Leben, um Menschen und darum, was sie einander bedeuten, aber auch antun – mit allen Beweggründen, aller Loyalität, aber auch Hinterhältigkeiten. Ein anderer Aspekt wird ebenfalls deutlich: Die wahre Tragik liegt meist in der Abwägung und Wahl zwischen Gut und Böse – und dem, was man für das vermeidlich Gute zu opfern bereit ist oder zu opfern gefordert wird.

Das ist Fantasyliteratur mit Kaiserkrone. Da lebt, leidet, schluchzt, liebt und kämpft jedes Wort in einem nach. Man fühlt, man trauert mit Tobin und dem Bruder, und man grollt mit ihnen, weil ihnen das Schicksal so übel mitspielt – und sinnt auf Rache, die denen zuteil werden soll, die nicht schuldlos an allem sind. Das ist großes Kopfkino, das ist Erzähl|kunst|, die eine stetige, sanfte Melancholie ausschickt, das sind Charaktere, die so in die Tiefe gehen, dass einen der Text lange Zeit nicht loslässt. Das ist Literatur, wie man sie sich wünscht!

Auch die Aufmachung erfreut, denn es wurde auf ein weiteres der stereotypen Fantasycovermotive verzichtet, welche die Verlagswelt überschwemmen. Das minimalistische Gemini-Zeichen ummantelt perfekt und niveauvoll den edlen Text. Dieses Buch sollte in keiner Sammlung fehlen!

_Fazit:_

„Der verwunschene Zwilling“ ist ein wundervoll melancholischer Fantasyroman, dessen Seele und Geist aus jeder Zeile schwingt und der den Leser voller Ungeduld auf die beiden Folgebände zurücklässt – tief erfüllt von der erzählerischen Dichte der Autorin und den Gefühlen, die sie in uns wachruft.

|Originaltitel: Tamír Triad (1)
Aus dem Amerikanischen von Michael Krug
Titelillustration & Titelgestaltung von Michael Krug
550 Seiten, Trade Paperback
ISBN-13: 978-3-902607-07-2|
http://www.otherworldverlag.com

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